Die im Februar dieses Jahres veröffentlichten Leitlinien der KDIGO empfehlen bei Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen eine striktere Blutdrucksenkung als bisher, und zwar mit einem systolischen Zielwert unter 120 mmHg. Für die Deutschen Hochdruckliga e.V. DHL – Deutsche Gesellschaft für Hypertonie und Prävention ist das aufgrund des bekanntermaßen erhöhten Risikos von CKD-Patienten zwar nachvollziehbar. Allerdings ist dieser stringente Zielwert nicht evidenzbasiert und zudem in der klinischen Praxis schwierig umzusetzen, so Prof. Dr. med. Markus von der Giet, Vorstandsmitglied der DHL.

Die neue Leitlinie „The Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO) 2021 Clinical Practice Guideline for the Management of Blood Pressure in Chronic Kidney Disease (CKD) for patients not receiving dialysis“ enthält ein klares Plädoyer, bei Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen wenn toleriert den systolischen Blutdruck auf <120 mmHg zu senken [1]. Damit soll das bei diesen Patientinnen und Patienten stark erhöhte Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen deutlicher reduziert werden, als es bisher gelingt.

Basis für die Einigung der Leitlinienautoren auf diesen niedrigen Wert war die SPRINT-Studie aus dem Jahr 2015, obwohl die Autoren der Leitlinie selbst betonen, dass der Evidenzgrad der Empfehlung als eher schwach eingeschätzt wird, weil es die einzige publizierte Studie ist, die einen niedrigeren Blutdruckzielwert als den bis dato geltenden Wert als vorteilhafter belegt hat. In der Studie hatte sich gezeigt, dass eine intensivere Blutdruckkontrolle (<140 mmHg vs. <120 mmHg) in allen Altersgruppen mit einem geringeren Mortalitäts- und Morbiditätsrisiko assoziiert war.

Die Subgruppenanalyse der CKD-Teilnehmer in der Studie zeigte, dass bei Patienten mit einer milden Nierenfunktionsstörung durch eine intensive Blutdrucksenkung ebenfalls eine Senkung der kardiovaskulären Ereignisse und Mortalität erreicht wurde. Patienten mit höheren Niereninsuffizienzstadien wurden in der Studie nicht berücksichtigt. Die Laufzeit betrug im Durchschnitt nur vier Jahre, so dass Langzeiteffekte kaum abzuleiten sind.

Bewertung aus Sicht der DHL

Der neue anzustrebende Blutdruckwert, so die Gesamteinschätzung der Deutschen Hochdruckliga, ist nach diesen Ergebnissen möglicherweise zum Schutz der Nieren und in Bezug auf die Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen sinnvoll und insofern aus Sicht der DHL-Experten grundsätzlich begrüßenswert. Eine gute Blutdruckeinstellung bei CKD-Patienten trägt nachgewiesenermaßen maßgeblich dazu bei, eine Progression der Nierenfunktionsstörung deutlich verlangsamen und „ist in der Tat essenziell für die Risikominimierung“, betont Prof. van der Giet.

Aber sollte das wirklich für alle Patienten und Nierenerkrankungen gleichermaßen gelten? Wie tief unter 120 mmHg ist sinnvoll und praktikabel? Unter solchen Aspekten sollte der in der Leitlinie festgehaltene Vorschlag differenziert überdacht werden, da die Basis für diesen Konsens der KDIGO-Kommission nicht in allen Punkten schlüssig ist, so van der Giet.

In diesem Zusammenhang betont van der Giet, dass die Blutdruckmessungen in der SPRINT-Studie mit einem automatischen oszillometrischen Blutdruckmessgerät durchgeführt wurden – diese punktgenaue standardisierte Messung ist in Deutschland nicht wirklich verbreitet und daher in der klinischen Praxis kaum umsetzbar. Stattdessen ist die regelmäßige Selbstmessung zu Hause und auch die Kontrolle beim Arzt ergänzt durch eine 24-Stunden-Blutdruckmessung wenn sinnvoll den Therapiestandard. Insofern stellt sich die Frage, inwieweit auch etwas höhere Werte gebilligt werden können, da die etwas ungenauere Selbstmessung einfach einen gewissen Toleranzbereich notwendig macht.

Empfehlungen für die Praxis: Zielwertbereich von 120-130 mmHg

Aus der Perspektive der DHL sollte weiterhin grundsätzlich der nach wie vor gültigen Empfehlung der Europäischen Fachgesellschaften für Hypertonie (ESH) und Kardiologie (ESC) gefolgt werden, bei nierenkranken Patienten einen Blutdruck von 130 mmHg systolisch zu erreichen. Mit Blick auf die neuen KDIGO-Leitlinien kann man sich, so der Charité-Experte, sich auch ehrgeizigere Ziele setzen und die 120 mmHg anstreben:

„Eine praktikable Empfehlung ist, bei Nierenpatientinnen und -patienten einen Zielwertbereich zwischen 120-130 mmHg systolisch anzustreben. Damit werden mögliche Ungenauigkeiten der Selbstmessung abgefedert und es wird verhindert, dass die Betroffenen zu niedrig eingestellt werden und unter Schwindel und anderen Nebenwirkungen leidet.“

Grundsätzlich betont van der Giet, dass die regelmäßige Blutdruckselbstmessung ein wichtiger Bestandteil bleibt, da der Praxisblutdruck auch durch etliche Faktoren beeinflusst wird, viele Menschen haben beispielsweise eine „Weißkittelhypertonie“ haben, also dadurch werden in der Praxis immer zu hohe Werte gemessen. Die Durchführung einer 24h-Langzeitblutdruckmessung kann dann sehr sinnvoll sein.

Daher heißt der Rat: Selbst messen, und zwar so: Die Patientinnen und Patienten sollen an sieben aufeinanderfolgenden Tagen pro Monat täglich zur gleichen Zeit am Morgen ihren Blutdruck messen und dokumentieren. Die zu Hause gemessenen Werte sollten sich im Schnitt bei maximal 135/85 mmHg einpendeln. Liegt der errechnete Mittelwert der Woche kontinuierlich bei oder über 140/90 mmHg, gilt das als Alarmzeichen, dann sollte der Arzt konsultiert werden.


Literatur
[1] KDIGO 2021 Clinical Practice Guideline for the Management of Blood Pressure in Chronic Kidney Disease. Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO) Blood Pressure Work Group. Kidney Int. 2021 Mar;99(3S):S1-S87. doi: 10.1016/j.kint.2020.11.003


Quelle: Deutsche Hochdruckliga (DHL)