Interview Dr. Karin Overlack ist Geschäftsführerin im Herz- und Diabeteszentrum NRW, Universitätsklinik der Ruhr-Universität, Bad Oeynhausen. Klinikleiter dort ist Professor Diethelm Tschöpe. Wir wollten wissen, welche Herausforderungen in Zukunft zu meistern sind.

Frau Dr. Overlack, seit Ihrem Antritt als Geschäftsführerin im Herz- und Diabeteszentrum NRW (HDZ NRW) vor sieben Jahren hat die Digitalisierung am Standort Bad Oeynhausen an Fahrt gewonnen. Elektronische Patienten-akte, virtuelle Befundübermittlung, digitale Datenmanagement- und Laborinformationssysteme wurden implementiert. Dies umzusetzen, ist in einer Einrichtung dieser Größenordnung mit hochspezialisierten Kliniken ein Kraftakt. Die Anforderungen in der Diabetologie sind andere als in der Herzchirurgie. Was sind die größten Hürden?
Dr. Karin Overlack: Die größten Hürden liegen noch vor uns, denn die Zukunft der Medizin ist digital. Die Schätze aus den vorhandenen Daten mittels Künstlicher Intelligenz (KI) zu nutzen und damit Diagnostik und Therapie zu optimieren, werden alle Fachrichtungen auf ein neues Niveau heben. Dieser Prozess hat jetzt erst begonnen. Wir sehen aber gerade aktuell, wo sich die Krankenhauslandschaft in ganz Deutschland im Hinblick auf Digitalisierung im Rahmen des Krankenhauszukunftsgesetzes (KHZG) auf den Weg macht, dass wir im HDZ NRW wirklich solide aufgestellt sind und Dinge wie die elektronische Patientenakte schon lange zu unserem Alltag gehören. Schwierig ist es immer dann, wenn unterschiedliche Systeme miteinander kommunizieren sollen und Schnittstellen noch immer nicht universell standardisiert sind. Gerade, wo wir als universitärer Maximalversorger Wert darauf legen, Geräte unterschiedlicher Hersteller zu nutzen, stellt uns die (Nicht-)Kommunikationsfähigkeit verschiedener Anbieter noch vor große Herausforderungen. Hier ist die Politik gefragt, klare Vorgaben bzgl. Schnittstellen zu machen. Nur so werden dann auch Start-ups, die in der Medizin künftig Innovationssprünge treiben werden, an bewährte Systeme andocken können.

Ein zusätzliches Hindernis ist die elektronische Kommunikation zwischen den Leistungserbringern. Hier bietet die Telematik-Infrastruktur noch keine solide Grundlage für eine reibungslose Datenübermittlung - ganz besonders nicht, wenn es um visuelle Daten, im Falle des Herzens natürlich vornehmlich um bewegte Bilder geht. Es ist immer noch Realität, mit dem Taxi CDs von A nach B zu schicken.

Eine Voraussetzung für die Funktionalität digitaler Lösungen ist die Stabilität der technischen Infrastruktur. Auch Datenschutz und IT-Sicherheit sind zentrale Themen in Kliniken, wo sensible Patientendaten genutzt und verwaltet werden. Wie gelingt das im Herz- und Diabeteszentrum NRW? Und welche Maßnahmen gewährleisten bei unerwartet technischem Ausfall, dass der Versorgungsbetrieb reibungslos funktioniert?
Dr. Karin Overlack: Wo mit Patientendaten umgegangen wird, spielen Datenschutz und Sicherheit eine ganz zentrale Rolle. Insofern sind auch viele Sicherheitsnetze gesetzlich verankert. Datenschutz-Folgeabschätzungen gehören z.B. bei der Einführung jeder neuen Software automatisch mit zu unserem Alltag. Insbesondere, wenn Daten das Haus verlassen, sind diese vorher zu pseudonymisieren bzw. zu anonymisieren. Das größte Risiko sowohl beim Datenschutz als auch bei der IT-Sicherheit liegt im sorglosen Verhalten von Mitarbeitern. Dass keine Patientendaten abfotografiert und per WhatsApp an Kollegen geschickt werden, sollte inzwischen jeder wissen, aber genau diese Dinge sind schlecht kontrollierbar. Ein weiteres Risiko lauert in vermeintlich professionell wirkenden Mails, die ggf. Viren importieren können. Ich bin überzeugt davon, dass jedes Krankenhaus in Deutschland inzwischen versucht hat, sich so gut wie irgend möglich zu schützen, ein hundertprozentiger Schutz bleibt illusorisch. Im HDZ NRW haben wir z.B. ein KRITIS-Audit (Grundlage gesetzliche Verordnung des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) für Unternehmen mit kritischer Infrastruktur (KRITIS); Anmerkung d. Redaktion) durchlaufen, wo die Schutzmechanismen sehr genau durchleuchtet wurden.

Neben Datensicherheit ist Betriebssicherheit ein zentrales, für die Patientenversorgung sogar entscheidenderes Element. Ein unerwarteter technischer Ausfall kann vom Stillstand eines Mailservers, der schon erhebliche Probleme in der Außenkommunikation macht, bis zum Ausfall der elektronischen Patientenakte oder auch noch weiter gehen. Hier ist es essentiell, dass Mitarbeiter wissen, wie sie in solchen Fällen zu reagieren haben, d.h. wie sie dann spontan auf Papier switchen können, das sie nicht mehr gewohnt sind. Reibungslos funktionieren diese Dinge leider nicht immer.

Eine Voraussetzung für die Funktionalität digitaler Lösungen ist die Stabilität der technischen Infrastruktur. Auch Datenschutz und IT-Sicherheit sind zentrale Themen in Kliniken, wo sensible Patientendaten genutzt und verwaltet werden. Wie gelingt das im Herz- und Diabeteszentrum NRW? Und welche Maßnahmen gewährleisten bei unerwartet technischem Ausfall, dass der Versorgungsbetrieb reibungslos funktioniert?
Dr. Karin Overlack: Die Angebote des Vkh richtet sich an andere Kliniken und niedergelassene Ärzte in NRW. Diese können bei sehr komplexen Fragestellungen die Vkh-Experten konsultieren. Das HDZ NRW beantwortet in diesem Kontext Fragestellungen zur schweren Herzinsuffizienz. Ziel ist es, den Progress der Erkrankung möglichst zu verlangsamen und die Lebensqualität von Patienten zu stabilisieren. Manche Patienten sind so schwer betroffen, dass sie Schwierigkeiten haben, sich überhaupt innerhalb ihrer Wohnung fortzubewegen. Hier ist es wichtig, die Hintergründe zu verstehen, seien es genetische Ursachen, angeborene Herzfehler, Rhythmusstörungen oder degenerative Schäden am Herzmuskel. So wie die Ursachen sind auch die Therapiemöglichkeiten unterschiedlich.

Über das Vkh-Portal wird die Anfrage an unsere Experten geschickt, Bilddaten können direkt mitübermittelt werden. Eine erfahrene Heart Failure Nurse im Zentrum koordiniert dann, dass sich Experten verschiedener Schwerpunkte mit dem Fall beschäftigen. Dies sind im Regelfall mindestens erfahrene Oberärzte mit langjähriger Expertise in der Behandlung schwerstkranker Herzinsuffizienz-Patienten. Im Anschluss gibt es eine elektronische Rückantwort. Auch Videokonferenzen, ggf. mit Einbezug von Patienten, können durchgeführt werden, und natürlich darf auch immer noch telefoniert werden. Das Angebot ist für Anfragende kostenfrei.

Noch eine letzte Frage an Sie, Frau Dr. Overlack: Corona hat die Nachfrage von Patienten nach digitalen Angeboten – von Online-Terminvergabe bis zur telemedizinischen Versorgung – beschleunigt. Wohin geht die Reise im Herz- und Diabeteszentrum NRW? Was ist künftig geplant?
Dr. Karin Overlack: Im HDZ NRW bietet unser Institut für Angewandte Telemedizin (IFAT) seit vielen Jahren Angebote zur Fernüberwachung für herzinsuffiziente Patienten, Hypertonie-Patienten und Patienten mit Herzrhythmusstörungen. Auch in der Diabetologie sind zunehmend Daten über CGM-Systeme verfügbar, die Aufschluss über die Glukoseeinstellung geben. Die Möglichkeiten in diesen Bereichen werden künftig weiter steigen, Geräte werden kleiner und komfortabler nutzbar. Trotz digitaler Angebote wird der direkte Kontakt zum betreuenden Pflegepersonal und den betreuenden Ärzten im HDZ NRW weiterhin erhalten bleiben: Coaching über Telefon oder unser Rückruf, wenn Werte bedenklich sind, gehören zum Standard im Zentrum und geben der Technik einfach ein menschliches Gesicht.

Neu am HDZ kommt innerhalb der nächsten zwei Jahre ein Online-Patientenportal für eine reibungslosere Kommunikation mit inzwischen zunehmend digital-affinen Patienten. Hierüber soll eine Begleitung von der Terminvergabe zu Hause bis zur Entlassung stattfinden. Wir planen, Inhalte wie Aufklärungsbögen und Aufklärungsfilme vorab elektronisch zur Verfügung zu stellen, hoffen aber gleichzeitig, die Patienten dann sicher durch ihren stationären oder ambulanten Aufenthalt navigieren zu können: ein genauer Ablaufplan, ein tatsächliches Navigationssystem, das durch das Zentrum leitet, der Online-Zugriff auf das Mittagessen und vieles mehr. Diese Dinge sind in anderen Branchen längst etabliert und werden in Kliniken künftig angesichts des KHZG einen gewaltigen Schub erfahren.

Auch Sie, Herr Prof. Tschöpe, als Klinikdirektor des Diabeteszentrums, setzen schon länger auf virtuelle Versorgung. Auf Ihre Initiative wurde vor fünf Jahren das Blutzucker-Cockpit im Gesamtklinikum eingeführt. Zudem haben Patienten mit Diabetes die Möglichkeit, ihre Daten verschlüsselt an das Zentrum zu übermitteln und sich telemedizinisch beraten zu lassen. Welchen Nutzen hat das? Wie kann ich als Patient davon profitieren?
Prof. Dr. Dr. Diethelm Tschöpe: Der Nutzen hat sich während der Corona-Pandemie erschlossen und wird sich auch künftig zeigen. Patienten und ihr betreuendes Zentrum können sich mittels neuer Digitaltechnologie virtuell miteinander vernetzen, sodass die Beratungsexpertise mindestens in Sondersituationen oder auch hinsichtlich des Bedarfs zu notwendiger stationärer Behandlung erfolgen kann. Gerade das hat sich für Patienten mit Diabetes als große Barriere in Corona-Zeiten erwiesen, was stellenweise zu eklatanter Unterversorgung geführt hat.

Dabei ist anzumerken, dass es eben nicht nur um die Übertragungsmöglichkeit von Glukosewerten oder glykämischen Indizes geht, sondern vielmehr um das Gesamtspektrum bis hin zu Bilddateien in der Beurteilung von Wundheilungsstörungen bei diabetischem Fußsyndrom oder den Kontext des multimodalen Risikofaktoren-Managements bei komplex kardiovaskulär erkrankten Diabetikern. Davon profitieren vor allem Patienten, für die sich unser Zentrum in Bad Oeynhausen zuständig fühlt: die herzkranken Diabetiker. Gerade bei dieser Patientengruppe kann Telemedizin einen großen Nutzen bringen. Interdisziplinarität und Multimodalität des Behandlungsansatzes bei maximaler Transparenz wird möglich, insbesondere auch mit Blick auf ambulant weiterbehandelnde ärztliche Kollegen.

Relativ neu im Diabeteszentrum ist der Einsatz von KI zur Früherkennung der Retinopathie unter Einbezug der Augenheilkunde. Welche Erfahrungen und Limitationen gibt es? Prof. Dr. Dr. Diethelm Tschöpe: Die Diabetologie muss sich dem Problem stellen, dass zu betreuende Patienten häufig von zahlreichen, insbesondere fächerübergreifenden, Komplikationen betroffen sind. Veränderungen an der Netzhaut beispielsweise gehören dazu. Die Beurteilung des retinalen Status ist essentieller Bestandteil eines Grund-Setups in spezialisierten Einrichtungen wie dem Diabeteszentrum am Standort Bad Oeynhausen.

Das Versorgungssystem kommt leider oft an seine Kapazitätsgrenzen: Gerade die Screening-Funktion in augenärztlichen Facharztpraxen ist häufig aufgrund personeller und zeitlicher Gründe erst mit erheblichem Terminversatz möglich. Dies führt im Ergebnis dazu, dass augenärztliche Kontrollen bei Diabetes in weniger als der Hälfte, im schlechtesten Fall auch gar nicht erfolgen, wie Versorgungsdaten der DMP (Disease Management Programme) bestätigen.

Hier hat die Kombination aus KI und Telemedizin die Option geschaffen, Screening-Befunde mit ophthalmologischer Qualität zertifiziert anzufertigen, was wir bereits seit einem Jahr in hoher Frequenz und mit gutem Erfolg praktizieren. Die Ergebnisse unseres Screenings in der Klinik werden telemedizinisch fachärztlich von unserer betreuenden Augenklinik in Minden kontrolliert. Daher glauben wir, eine vernachlässigbare Fehlerquote zu haben, was die Voraussetzung dafür ist, dass das Screening außerhalb des fachärztlichen Zuständigkeitsbereichs Augenheilkunde überhaupt möglich ist. Natürlich bestehen gerade unter diesen Bedingungen besonders hohe Anforderungen an das Dateninput, d.h. die entsprechenden Instrumente sowie die telemedizinische Prozessstrecke inklusive Algorithmen sind nach Qualitätsstandards der wissenschaftlichen Fachgesellschaften hinsichtlich Spezifität und Sensitivität bereits optimiert und genügen FDA-Kriterien (FDA: Food and Drug Administration; Anmerkung d. Redaktion)

Abschließend auch eine Frage an Sie, Herr Prof. Tschöpe: Bei welchen Einsatzfeldern in der Diabetologie könnte eine Algorithmen-basierte Diagnostik noch Vorteile bringen?
Prof. Dr. Dr. Diethelm Tschöpe:Grundsätzlich glauben wir, dass in Fächern mit einem hohen Patientendurchsatz und einer SOP-basierten Bearbeitungsdynamik (SOP: Standard Operating Procedure; Anmerkung d. Redaktion) ein hohes Potenzial für Prozessautomatisierung, auch in der Medizin, besteht. Nach den guten Erfahrungen mit der augenärztlichen Untersuchung haben wir aktuell ein KI-basiertes System implementiert, was die Diagnostik der diabetischen Polyneuropathie mit einer prospektiven Prognoseampel zur Amputationsgefährdung unter Einsatz eines am Referenzkollektiv validierten Instruments ermöglicht.

Hier sehen wir tagesaktuell eine deutliche Standardisierung und Verbesserung der Untersuchungsqualität, können aber noch keine validierten Aussagen zum prognostischen Nutzen aufgrund eigener Erfahrungen abgeben. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass sich dieses Instrument, eingebettet in einen größeren Kontext der Untersuchung bei Diabetikern mit Neuropathie und ihrer prognostischen Gefährdung durch Wundheilungsstörungen, auch durch das diabetische Fußsyndrom, als sinnvoll erweisen wird.

Ergänzend ist ein weiteres Feld, das wir derzeit etablieren, die Algorithmen-basierte Erkennung mukosaler Pathologien in der endoskopischen Untersuchung, was den Kernbereich der gastroenterologischem Diagnostik betrifft. Mit hoher Frequenz kommt diese Untersuchung auch bei unseren Patienten zum Einsatz. In der Summe gehe ich davon aus, dass sich die klinischen Bearbeitungsroutinen bei Diabetespatienten durch Algorithmen-basierte Automatisierung künftig beschleunigen, vereinfachen und qualitätstechnisch verbessern lassen.

Frau Dr. Overlack, Herr Prof. Tschöpe vielen Dank für das Interview.


Interview:
Matthias Heinz
Redaktion Diabetes-Forum
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Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (12) Seite 36-39