Eine Reise in die Zukunft unternahm die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) bei ihrem diesjährigen virtuellen Jahreskongress – mit einem Blick in die Präzisionsmedizin. Wussten Sie schon, dass Typ-2-Diabetes als „Albtraum für Genetiker“ gilt?

Warum erkrankt ein Mensch an Diabetes? Handelt es sich hier um eine genetische Vorbestimmung oder trägt eher eine ungesunde Lebensweise zur Diabetes-entstehung bei? Genforscher sind sich heute sicher: Beim nicht-insulinpflichtigen Typ-2-Diabetes lässt sich diese Frage nur mit „sowohl als auch“ beantworten.

Als genetische Prädisposition bezeichnet man das erbliche Risiko, an Typ-2-Diabetes zu erkranken. Diese Veranlagung wird beim Typ 2 bei 30 bis 50 Prozent eingeschätzt. Das Risiko, einen Typ-2-Dia­betes zu entwickeln, wenn ein Elternteil ebenfalls betroffen ist, liegt bei 50 Prozent. Aber auch epigenetische Faktoren wie Umwelteinflüsse und der persönliche Lifestyle spielen hier eine Rolle.

Welche Gene sind am Diabetes schuld?

Der Typ-2-Diabetes wird von manchen Wissenschaftlern bereits als „Albtraum für Genetiker“ bezeichnet: Zwar sind sie der chronischen Stoffwechselerkrankung weiter auf der Spur, konnten bislang aber noch keine Gene identifizieren, die im Einzelnen einen großen Effekt auf die genetische Vererbung des Typ 2 haben. „Großen Forschungsbedarf“ sieht hier auch Prof. Dr. Henriette Kirchner, Kongresssekretärin des Dia­betes Kongresses 2021 vom Institut für Humangenetik der Universität zu Lübeck.

Heute weiß man, dass etwa 450 genetische Positionen mit Typ-2-Dia­betes assoziiert sind. Einige haben es speziell auf die Genexpression abgesehen, zielen also direkt auf die Umsetzung der genetischen Information in den insulinproduzierenden Beta-Zellen ab und sorgen so dafür, dass diese nicht mehr gut funktionieren. „Andere genetische Risikovarianten senken direkt die Insulinproduktion, indem sie die Expression des Gens für Insulin und wichtige Co-Faktoren beeinträchtigen“, erläuterte die Genetikerin.

Ein Teil des Diabetesrisikos werde ja auch nicht genetisch, sondern epigenetisch vererbt, erklärte sie. Im Gegensatz zur Genetik sei die Epigenetik beziehungsweise Genregulation aber stark durch Umwelteinflüsse und den individuellen Lebensstil beeinflussbar. „Deswegen spielt auch die Lebensweise, also wie wir uns ernähren und ob wir Sport treiben, eine große Rolle bei der Diabetesentstehung.“

Vor allem die generationsübergreifende epigenetische Vererbung könnte somit erklären, warum der Typ-2-Diabetes weltweit zunimmt, obwohl sich die menschlichen Gene in den letzten 100 Jahren nicht stark verändert hätten, so Kirchner. Manchmal würden Genetik und Epigenetik aber auch zusammenspielen. Die Frage, ob Diabetes ein „Schaltfehler“ im Erbgut sei, ließe sich bejahen, betonte die Ernährungswissenschaftlerin. „Natürlich können die Genetik und Epigenetik alleine nicht vollständig erklären, wie oder warum Diabetes entsteht. Aber sie tragen definitiv einen großen Teil dazu bei.“

Entstehen Adipositas und Insulinresistenz im Gehirn?

Prof. Dr. Hendrik Lehnert, Kongresspräsident des Diabetes Kongress 2021 und Rektor der Universität Salzburg erklärte, wie die neuen Erkenntnisse zur zentralnervösen Regulation des Energie- und Glukosestoffwechsels die Präzisionsmedizin (individualisierte bzw. personalisierte Medizin)vorantreiben.

„Wir wollen den Patienten so genau wie möglich charakterisieren – mit genetischen, klinischen, psychosozialen und biochemischen Daten, um darauf die optimale Therapie abzustellen“, sagte er und spielte dabei auch auf die inzwischen beschriebenen Subtypen des Typ-2-Diabetes an – die Charakterisierung über Subtypen sieht er künftig auch für den Typ-1-Diabetes.

Virtuelle DDG-Pressekonferenz im Rahmen des Diabetes Kongresses 2021, den rund 7 000 Teilnehmer besuchten.

Welche Mechanismen sind für die Entstehung von Übergewicht und Adipositas maßgeblich? Hier nannte er zwei wesentliche Prozesse: eine anhaltende positive Energiebilanz (Energiezufuhr liegt über dem Energieverbrauch) und ein Resetting des sog. Körpergewichts-Set Points (der Körper hält hier sein Gewicht in einem bestimmten Bereich aufgrund unterschiedlicher Mechanismen, wie Hormone, Hunger, geändertes Essverhalten), der sich dann auf einem höheren Niveau einpendelt.

Ansatz „Targeting the Brain“

Die Forschung ist besonders an den Vorgängen interessiert, die zum Neustart des Set Points führen und dabei die Homöostase verschieben. „Wir gehen heute davon aus, dass auch im zentralen Nervensystem die Ausbildung von Resistenzen gegenüber Hormonen, die vor allem auch eine anorexigene Wirkung haben, das heißt, die Nahrungsaufnahme verhindern, von entscheidender Bedeutung ist“, so Lehnert. Dazu zählten vor allem Fettgewebshormone wie Leptin, aber auch Nesfatin, Adiponektin und das Beta-Zell-Hormon Insulin.

Ähnlich wie Patienten mit Typ-2-Diabetes entwickeln auch übergewichtige Personen eine Mehrsekretion des Hormons (hier: Hyperleptinämie), die zum Beispiel zu einer Resistenz an der Blut-Hirn-Schranke oder im Hypothalamus führt. Das Sättigungshormon Leptin verliert damit seine Wirksamkeit. Ähnliche Prozesse werden auch bei der Insulinresistenz im Gehirn vermutet.

Das ist erheblich, denn Insulin gilt im Gehirn als verantwortlicher Player für die Modulation vieler relevanter physiologischer Funktionen: Es reduziert die Nahrungsaufnahme, erhöht die periphere Insulinsensitivität, verringert den Belohnungswert einer Nahrung und erhöht kognitive Leistungen, berichtete der Kongresspräsident.

Ein tieferes Verständnis der neurobiologischen Zusammenhänge und der sich daraus entwickelnden neuen Therapien würden zur effektiven Behandlung der Adipositas und damit des Diabetes beitragen, ist er sich sicher. Die Beziehung zwischen zentralem Nervensystem und Appetit sowie Essverhalten schätzt Hendrik Lehnert als bedeutsam ein, ebenso den Ansatz „Targeting the Brain“, der in aktuelle Studien untersucht wird.

Die Forscher wollen damit den wissenschaftliche Nachweis dafür antreten, dass das Gehirn eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Typ-2-Diabetes und Adipositas spielt. „Eine detaillierte Kenntnis der komplexen neurobiologischen Zusammenhänge und der Psychologie des Essverhaltens ist neben genetischen und spezifischen Nährstoff­einflüssen entscheidend für das Verständnis der Pathogenese des Übergewichts“, erklärte er.

Telemedizin-Studie zeigt hohe Akzeptanz

Neue telemedizinische Optionen können einerseits die Diabetestherapie – vor allem bei frühem Therapiestart und nach Erkrankungsbeginn – andererseits aber auch die Behandlungsergebnisse verbessern. Das hat eine Studie zur „Virtuellen Diabetesambulanz für Kinder und Jugendliche“ (ViDiKi) gezeigt. Besonders junge Menschen mit Diabetes nutzen heute die vielen neuen Diabetestechniken: Die meisten der etwa 32 500 Typ-1-Diabetespatienten sind mit der Kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) und der Insulinpumpe eingestellt – bei den unter 6-Jährigen sogar über 90 Prozent.

Das Projekt „ViDiKi“(vom Innovationsfonds gefördert) konnte wegen seines großen Erfolgs ab April 2020 für ein Jahr fortgeführt werden. Die „ViDiKi 2.0“-Studie, mit der die Videosprechstunde als ergänzende Leistung erprobt wurde und die auch neu erkrankte Kinder einbezog, endete im März 2021.

Simone von Sengbusch, Leiterin der ViDiKi-Telemedizin-Studien, stellte die Ergebnisse aus der Untersuchung vor, die eine sehr hohe Akzeptanz dieser neuen Betreuungsart zeigte. Von den etwa 3800 Terminen für die Videosprechstunden wurden fast alle wahrgenommen – trotz der eingeschränkten Internetabdeckung, die es Anfang 2017 noch in vielen ländlichen Regionen gab. Dennoch hatten die meisten Teilnehmenden nach einem Jahr deutlich bessere HbA1c-Werte. Auch die Eltern zeigten sich viel zufriedener, vor allem die Mütter fühlten sich entlastet.

Die Abschlussberichte liegen dem Projektträger inzwischen vor. Die Entscheidung darüber, ob ­ViDiKi in die Regelversorgung überführt werden kann oder nicht, liegt jetzt beim Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA).


Autorin:
Angela Monecke
Redaktionsbüro Angela Monecke
Kopenhagener Str. 74, 10437 Berlin


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2021; 33 (6) Seite 6-7