Aktuelle Gerichtsentscheidungen eröffnen zusätzliche Begründungsmöglichkeiten für die Verordnung.

Verordnungsfähigkeit von Hilfsmitteln

Mitglieder einer gesetzlichen Krankenkasse haben gem. § 33 SGB V Anspruch auf die Versorgung mit notwendigen Hilfsmitteln wie Blutzuckermessgeräte, Insulinpumpen oder rtCGM-Systemen. Der Arzt kann ein solches Hilfsmittel verordnen, wenn es medizinisch notwendig ist um "den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen." Gem. § 12 SGB V hat der Patient aber grundsätzlich nur Anspruch auf eine ausreichende Versorgung, d.h. er kann keine Optimalversorgung verlangen.

In der Regel wird die ärztliche Verordnung auf die erste Gesetzesalternative ("Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern") gestützt und entsprechend begründet. Die Kostenübernahme für neue Insulinpumpen oder rtCGM-Systemen wird von der Krankenkasse dann allerdings nicht selten mit der Begründung abgelehnt, dass ein älteres Pumpenmodell bzw. rtCGM System für die Behandlung ausreichend sei und die zusätzlichen Funktionen des moderneren Systems medizinisch nicht unbedingt benötigt würden. Auch die Kopplung von CGM und Insulinpumpe zur Nutzung eines AID-Systems wird vielmals nicht als notwendig anerkannt, zumal für AID-Systeme bislang auch kein Methodenbewertungsverfahren durch das IQWiG durchgeführt wurde.

Vor diesem Hintergrund könnte es hilfreich sein, auch die anderen gesetzlichen Möglichkeiten für eine Verordnung im Blick zu behalten – insbesondere den Ausgleich einer Behinderung.

SG Nürnberg: rtCGM dient auch dem Ausgleich einer Behinderung

Bereits im Jahr 2017 konnte ich für einen Patienten vor dem Sozialgericht Nürnberg (SG Nürnberg, Urteil vom 27.01.2017, S 11 KR 138/13) durchsetzen, dass die Krankenkasse ein CGM (Dexcom G4) auch als Mittel zum Ausgleich einer Behinderung übernehmen muss. Das Gericht ist erfreulicherweise meiner Argumentation vollumfänglich gefolgt und hat die Entscheidung auch sehr ausführlich begründet (Lesen Sie hier).

In dem Urteil wird klargestellt, dass eine Hypoglykämiewahrnehmungsstörung und der Bewusstseinsverlust, zu dem Hypoglykämien führen können, als Behinderung anzusehen sind.

Dieser Bewusstseinsverlust sei vom klinischen Bild her, aber auch aufgrund der sozialmedizinischen Bedeutung mit der Behinderung durch Epilepsie vergleichbar. Auch hier kommt es zu Bewusstseinsverlusten, die zu Hause, am Arbeitsplatz oder auf der Straße auftreten können und entsprechende soziale Folgen nach sich ziehen. Die mit dem rtCGM verbundene Alarmfunktion warnt akustisch vor bestehenden Unterzuckerungs- und Überzuckerungssituationen und beugt somit einer drohenden Behinderung, nämlich dem durch eine schwere Unterzuckerung eintretenden Bewusstseinsverlust und den damit verbundenen direkten und unmittelbaren Folgen, die für den Patienten lebensbedrohlich sein können, vor. Darüber hinaus gleicht es die Behinderung "Hypoglykämiewahrnehmungsstörung" aus.

Hinzu kommt, dass es zur Alarmierung durch das CGM keine geeignete und gleichermaßen wirksame Alternative gibt, wenn der Patient eine Hypo-Wahrnehmungsstörung hat. Das Gericht hat dazu zutreffend festgestellt: "Selbst durch eine noch so hohe Messfrequenz mit konventioneller Blutzuckermessung kann eine Absicherung während der Nacht nicht erfolgen. Auch beeinträchtigen die genannten Behinderungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft."

Der Einwand der Krankenkasse, dass nach dem Beschluss des G-BA die ärztliche Therapieentscheidung bzw. deren Therapieziele und ein diesbezüglicher Nutzen des rtCGM Grundlage für eine Kostenübernahme durch die GKV seien und der alleinige Wunsch nach Befriedigung des Bedürfnisses nach einem Sicherheitsgefühl mittels Alarmfunktion eines Gerätes dagegen nicht ausreichten, wurde vom Gericht nicht anerkannt.

Dies verkenne "grundlegend die gesundheitliche Situation, in der sich der Kläger befindet, und die Gefahren, die aufgrund eines Bewusstseinsverlustes zu schweren gesundheitlichen Folgeschäden (Niereninsuffizienz, Blindheit und potentiell lebensgefährlichen Stoffwechsellagen) führen können."

Bundessozialgericht: Hilfsmittel dient auch Ausgleich einer Behinderung

Zwischenzeitlich hat auch das Bundessozialgericht (BSG) in mehreren Entscheidungen (allerdings ohne Diabetesbezug) klargestellt, dass die Kostenübernahme eines Hilfsmittels nicht allein von der medizinischen Notwendigkeit abhängt. In einem Verfahren (VSG, Urteil vom 07.05.2020, B 3 KR 7/19 R) ging es um die Kostenübernahme eines Spezialtherapiedreirads für einen Patienten mit Gleichgewichtsstörung und statomotorischen Entwicklungsdefizit. Ein anderes Urteil (BSG, Urteil vom 10.09.2020, B 3 KR 15/19 R) betraf die Kostenübernahme einer modernen GPS-Uhr als Hilfsmittel für einen geistig behinderten Patienten mit Weglauftendenzen. Das BSG hat jeweils entschieden, dass ein Hilfsmittel auch als Leistung zum Ausgleich einer Behinderung dienen kann, wenn es seinem Zweck entsprechend die Auswirkungen der Behinderung beseitigt oder mindert und damit der Befriedigung eines Grundbedürfnisses dient. Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich müssen nicht mit dem vorrangigen Ziel eingesetzt werden, auf die Krankheit, d.h. auf den regelwidrigen Körper- oder Geisteszustand als solchen, kurativ-therapeutisch einzuwirken. Sie sollen vielmehr in erster Linie die mit diesem regelwidrigen Zustand bzw mit der Funktionsbeeinträchtigung verbundene (oder im Falle der Vorbeugung zu erwartende) Teilhabestörung ausgleichen, mildern, abwenden oder in sonstiger Weise günstig beeinflussen, um die Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern und Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken. Bei der Beurteilung eines Anspruchs auf Versorgung mit einem Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich müsse daher dem Teilhabeaspekt die nach dem Sozialgesetzbuch (SGB IX) vorgesehene Bedeutung zugemessen werden. Hilfsmittel zum Behinderungsausgleich zielten in erster Linie auf eine Verbesserung der beeinträchtigten Teilhabe in der Gesellschaft. Nach Auffassung des BSG beinhalte der Behinderungsausgleich nicht nur den Ausgleich von fehlenden körperlichen Funktionen, sondern auch den von geistigen Fähigkeiten oder von seelischer Gesundheit. Es sei auch nicht erforderlich, dass ein Einsatz im Rahmen einer ambulanten oder stationären Rehabilitationsmaßnahme erfolge.

Das BSG stellte dabei auch auf das Recht auf persönliche Mobilität aus Art 20 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ab, welches angemessen berücksichtigt werden müsse. Danach sei der erleichterte Zugang von Menschen mit Behinderungen zu hochwertigen Mobilitätshilfen, Geräten und unterstützenden Technologien sicherzustellen (Art 20 Buchst b UN-BRK). Überdies sei Deutschland als Unterzeichnerstaat der Menschenrechtskonvention dazu angehalten, wirksame und geeignete Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen zu treffen, damit diesen ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglicht werden.

GKV nicht immer zuständig

Die gesetzliche Krankenversicherung hat allerdings nicht jegliche Folgen von Behinderung in allen Lebensbereichen - etwa im Hinblick auf spezielle Sport- oder Freizeitinteressen - durch Hilfsmittel auszugleichen. Auch für spezielle berufliche Anforderungen sind andere Träger zuständig, wie beispielsweise die Rentenversicherung.

Für Diabetes-Devices könnte dann grundsätzlich ein Anspruch nach dem Eingliederungshilferecht in Frage kommen, nämlich als sog. Leistung zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Solche Teilhabeleistungen haben die Aufgabe, dem behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen und schließen ausdrücklich subsidiär an die vorrangigen Leistungen zur medizinischen Rehabilitation an. Deshalb gehören zu den Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft solche Hilfsmittel, die den Ausgleich einer gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft bezwecken und daher zwar regelmäßig - ebenso wie die Hilfsmittel zur medizinischen Rehabilitation - die Alltagsbewältigung betreffen, aber nicht mehr von der medizinischen Teilhabe umfasst sind; es handelt sich dabei insbesondere um Hilfsmittel, die dem behinderten Menschen den Kontakt mit seiner Umwelt, nicht nur mit Familie und Nachbarschaft, sowie die Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben ermöglichen (BSG, Urteil vom 07.05.2020, B 3 KR 7/19 R).

Wenn die Krankenkasse sich nicht zuständig sieht, dann muss sie einen entsprechenden Hilfsmittelantrag dann an den zuständigen anderen Träger weiterleiten, ansonsten wird sie selbst zuständig.

SG Koblenz: Anspruch auf moderne Insulinpumpe

Das Sozialgericht Koblenz (S 9 KR 636/22 ER, Beschluss vom 04.01.2023) hat unter Berücksichtigung dieser Vorgaben des BSG unlängst über die Versorgung mit einer Insulinpumpe entschieden. In einem Eilverfahren konnte ich dort für einen Patienten die Versorgung mit einer t-Slim X:2 Insulinpumpe durchsetzen, obwohl die Krankenkasse auf der Versorgung mit einem älteren Modell beharrte. Das Gericht stellte dort u.a. fest, dass bei Hilfsmitteln wie einer Insulinpumpe, die primär auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet seien, also auf den vollständigen Ausgleich der ausgefallenen Funktionen oder auf die Ergänzung eines nicht voll funktionsfähigen Körperorgans, der Patient grundsätzlich Anspruch auf ein Hilfsmittel habe, das dem aktuellen Stand des medizinischen und technischen Fortschritts entspricht. Solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig erreicht ist (im Sinne eines Gleichziehens mit einem gesunden Menschen), könne die Versorgung mit einem fortschrittlichen Hilfsmittel nicht mit der Begründung abgelehnt werden, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend.

Am Rande: dieses Verfahren zeigt, dass eine dringend benötigte Hilfsmittelversorgung auch recht kurzfristig durchgesetzt werden kann. Die Entscheidung des Sozialgerichts erging innerhalb von 10 Tagen – und dies, obwohl dazwischen auch noch die Weihnachstage waren.

Fazit

Bei der Begründung von Verordnungen für Hilfsmittel wie rtCGM oder Insulinpumpen sollte zusätzlich auch darauf abgestellt werden, wie damit auch die körperlichen Fehlfunktionen des Patienten kompensiert werden, d.h. wie die durch den Diabetes bedingte Behinderung damit zumindest teilweise ausgeglichen werden kann. Zur Durchsetzung einer Hilfsmittelversorgung kann ggf. auch ein Eilverfahren vor dem Sozialgericht sinnvoll bzw. angezeigt sein, damit der Patient schnell ein benötigtes Hilfsmittel erhält.

i§ 33 SGB V Hilfsmittel (Auszug)
(1) Versicherte haben Anspruch auf Versorgung mit [..] Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 ausgeschlossen sind. „Es könnte hilfreich sein, auch die anderen gesetzlichen Möglichkeiten im Blick zu behalten."„Für Diabetes-Devices kann ein Anspruch nach dem Eingliederungshilferecht in Frage kommen."

Autor:
RA Oliver Ebert
REK Rechtsanwälte Stuttgart, Balingen
Friedrichstraße 49, 72336 Balingen


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (1/2) Seite 34-36