Eine repräsentative Eltern-Umfrage zeigt massive Folgen der Corona-Pandemie für die Kindergesundheit. Demnach sind 10- bis 12-Jährige besonders betroffen: Jedes dritte Kind dieser Altersgruppe ist dicker geworden. Aus diesem Anlass fordern Experten erneut eine Zuckersteuer, Werbeverbote für Ungesundes und eine Stärkung der Adipositas-Therapie

Die Corona-Krise hat massive Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern: Jedes sechste Kind in Deutschland ist seit Beginn der Corona-Pandemie dicker geworden, fast die Hälfte bewegt sich weniger als zuvor, etwa ein Viertel isst mehr Süßwaren – das zeigt eine repräsentative forsa-Umfrage unter Eltern, die die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) und das Else Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München am 31. Mai vorgestellt haben.

Expert:innen fordern einen „Marshall-Plan für die Kindergesundheit“

Demnach sind Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien doppelt so häufig von einer ungesunden Gewichtszunahme betroffen wie Kinder und Jugendliche aus einkommensstarken Familien. Somit hat die Pandemie die gesundheitliche Ungleichheit weiter verschärft:

Die DAG und das EKFZ für Ernährungsmedizin fordern mit Blick auf die Ergebnisse einen „Marshall-Plan für die Kindergesundheit“, um die Folgen der Pandemie aufzufangen. Als Sofortmaßnahmen empfehlen die Expert:innen eine Besteuerung von Zuckergetränken, Werbeschranken für ungesunde Lebensmittel und eine Stärkung der Adipositas-Therapie, die in Deutschland chronisch unterfinanziert sei.

Alarmierende Gewichtszunahme seit Beginn der Pandemie

„Eine Gewichtszunahme in dem Ausmaß wie seit Beginn der Pandemie haben wir zuvor noch nie gesehen. Das ist alarmierend, denn Übergewicht kann schon bei Kindern und Jugendlichen zu Bluthochdruck, einer Fettleber oder Diabetes führen. Schon vor Corona waren 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Übergewicht betroffen, sechs Prozent sogar von starkem Übergewicht“, erklärt Dr. Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin an der Universitätskinderklinik Halle/Saale und Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der DAG.

Pandemie hat die Ungleichheit verschärft

„Die Krankheitslast ist ungleich verteilt und Corona hat das erheblich verschärft“, ergänzt Prof. Hans Hauner, Direktor des EKFZ für Ernährungsmedizin und DAG-Vorstandsmitglied. „Die Folgen der Pandemie müssen aufgefangen werden, sonst werden die ‚Corona-Kilos‘ zum Bumerang für die Gesundheit einer ganzen Generation. Die Stärkung geeigneter Therapie-Angebote, die alle Gruppen gleichermaßen erreicht, ist nun von enormer Bedeutung.“, so Prof. Hauner. Die Finanzierung der Adipositas-Therapie durch die Krankenkassen müsse dafür zur Regel werden.

Für die Studie hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa im März und April 2022 insgesamt 1.004 Eltern mit Kindern im Alter von 3-17 Jahren befragt. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind dicker geworden, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 32 Prozent.
  • Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien sind doppelt so häufig von einer ungesunden Gewichtszunahme betroffen wie Kinder und Jugendliche aus einkommensstarken Familien (23 zu 12 Prozent).
  • 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen bewegt sich weniger als vor der Pandemie, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 57 Prozent.
  • Bei 33 Prozent der Kinder und Jugendlichen hat sich die körperlich-sportliche Fitness verschlechtert, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 48 Prozent.
  • Bei 43 Prozent der Kinder und Jugendlichen belastet die Pandemie die seelische Stabilität „mittel“ oder „stark“.
  • 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben die Mediennutzung gesteigert.
  • 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen greifen häufiger zu Süßwaren als zuvor.
  • 34 Prozent der Familien essen häufiger gemeinsam als zuvor.
Schaubilder zu den Ergebnissen finden Sie hier.

WHO warnt vor Folgen der Adipositas-Epidemie

Kürzlich hat die WHO Europa vor den Folgen der Adipositas-Epidemie gewarnt und auf „nachteilige Veränderungen bei Ernährungs- und Bewegungsmustern“ durch die Corona-Pandemie hingewiesen. Auch der Corona-Expertenrat der Bundesregierung hatte im Februar vor einer „Zunahme von Adipositas“ gewarnt und Gegenmaßnahmen empfohlen.

Auswirkungen auf den Lebensstil haben sich verfestigt

Das EKFZ für Ernährungsmedizin hatte im September 2020, kurz nach Beginn der Corona-Pandemie, bereits eine Befragung mit vergleichbarer Methodik durchgeführt. Ein Abgleich mit den aktuellen Daten zeigt, dass sich die Auswirkungen auf den Lebensstil verfestigt haben.

Kommentar: „Wie viele Studien, Umfragen und Fakten braucht es noch…?“

Zu den heute veröffentlichten Ergebnissen der Elternbefragung der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG) erklärt Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK): „Die Corona-Kilos werden zu einer schweren Hypothek für eine ganze Generation. Die Ergebnisse der DAG-Elternbefragung sind alarmierend. Wie viele Studien, Umfragen und Fakten braucht es noch, damit die Politik gegensteuert und die Hersteller fettiger, süßer und salziger Produkte endlich in die Pflicht nimmt? Eine Herstellerabgabe auf stark zuckerhaltige Getränke und ein Werbeverbot für ungesunde Produkte, die sich an Kinder richten, sind längst überfällig. Im Gegenzug sollten gesunde Lebensmittel komplett von der Mehrwertsteuer befreit werden. Wir appellieren an die Bundesregierung, ernährungspolitisch nicht länger in der Warteschleife zu verharren, sondern schnelle und nachhaltige Entscheidungen zu treffen, von denen auch diese Generation noch profitiert.“

Woher stammen die Daten zum Körpergewicht von Kindern und Jugendlichen?

Aktuelle, bundesweit repräsentative Messungen des Körpergewichts von Kindern und Jugendlichen liegen nicht vor. Die letzte Erhebung des Robert Koch-Instituts fand in den Jahren 2014–2017 statt. Die aktuelle Umfrage sowie erste regionale Messungen und Befragungen legen nahe, dass heute mehr Kinder und Jugendliche von Übergewicht betroffen sind als je zuvor. So ist einer Studie der Universität Leipzig zufolge das Körpergewicht von Kindern in der Region Mitteldeutschland in den ersten Monaten der Corona-Pandemie deutlich gestiegen. Im Rahmen einer Befragung des Karlsruher Instituts für Technologie berichtete ein Viertel der Kinder und Jugendlichen mit Normalgewicht von einer Gewichtszunahme im zweiten Lockdown 2020. Auch Daten der DAK-Gesundheit zeigen einen deutlichen Anstieg der Krankenhausbehandlungen wegen Adipositas bei Kindern und Jugendlichen im Jahr 2020.

Eltern-Umfrage wurde anlässlich des Welt-Adipositas-Tages durchgeführt

Die aktuelle Eltern-Umfrage wurde anlässlich des Welt-Adipositas-Tags durchgeführt. Der Tag findet jährlich Anfang März statt und wird in Europa von der European Association for the Study of Obesity (EASO) und der European Coalition for People living with Obesity (ECPO) ausgerufen. Finanziert wurde die Eltern-Umfrage durch die Else Kröner-Fresenius-Stiftung (EKFS), durch die EASO und die ECPO sowie durch den Sonderforschungsbereich Adipositasmechanismen der Universität Leipzig.

Die Ermittlung von Lebensgewohnheiten und der Gewichtsentwicklung mittels Umfragen, wie im vorliegenden Fall, unterliegt methodischen Einschränkungen. Insbesondere ist von einer Untererfassung bei Angaben zu ungesundem Verhalten auszugehen.


Quelle: Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) und das Else Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München | Redaktion


Redaktion diabetologie-online
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