Professor Dr. Andreas Neu ist kommissarischer Ärztlicher Direktor an der Kinderklinik in Tübingen. Seit Ablauf der Mitgliederversammlung der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG), die im Nachgang des Diabetes Kongresses Mitte Mai online stattfand, ist er der neue Präsident der Gesellschaft. Wir haben ihn vor dem Kongress in Tübingen zum Interview besucht.

Diabetes.Forum (DF): Lieber Herr Professor Neu, seit der Mitgliederversammlung der DDG sind Sie deren neuer Präsident. Was ist das Wichtigste, was Sie sich vorgenommen haben für Ihre Amtszeit?
Professor Dr. Andreas Neu:
Unsere Fachgesellschaft hat mehr als 9 000 Mitglieder. Sie lebt von der Vielfalt. Dies macht den Reichtum unserer Gesellschaft aus. Zentrale Aufgabe und Herausforderung für den Präsidenten ist es, einerseits diese Vielfalt zu sehen und zu schätzen, andererseits aber auch die unterschiedlichen Initiativen zusammenzuführen und zu bündeln. Unser gemeinsames Ziel, die Verbesserung der Versorgung von Menschen mit Diabetes, dürfen wir bei allen einzelnen Aktionen nicht aus den Augen verlieren.

Persönlich wäre es mir ein wichtiges Anliegen, allen Mitgliedern zu signalisieren, dass ich ein offenes Ohr für ihre Anliegen und Belange habe. Zweifellos kann auch ein Präsident nicht alle Wünsche erfüllen. Dennoch möchte ich da sein für alle Mitglieder, ganz gleich in welchen Bereichen sie aktiv sind. Und natürlich habe ich als pädiatrischer Diabetologe ganz besonders die pädiatrischen Belange und die Bedürfnisse der Patienten mit Typ-1-Diabetes im Blick. Ich glaube, dies überrascht nicht und ist durchaus auch gewünscht, wenn etwa alle 10 Jahre ein Pädiater zum Präsidenten der DDG gewählt wird.

DF: Bitte sagen Sie uns, welche Schwerpunkte Sie in Ihrer täglichen Arbeit haben? Was ist der besondere Reiz, Kinder und Jugendliche zu behandeln, die Diabetes haben?
Prof. Neu:
Zu meiner täglichen Arbeit in der Klinik gehört die Erstversorgung von Kindern und Jugendlichen bei Manifestation eines Diabetes genauso wie die Langzeitbegleitung über viele Jahre hinweg bis zum Transfer in die Erwachsenenmedizin. Junge Menschen im Alter zwischen 1 und 20 Jahren zu begleiten, ihre Entwicklung zu flankieren und in schwierigen Situationen Hilfestellung zu bieten, ist die wesentliche Aufgabe eines Kinderdiabetologen.

DF: Nach der Herbsttagung vergangenes Jahr ist es ja nun die zweite Tagung der DDG, die online stattfindet. Glauben Sie, dass ein solches Format Präsenzveranstaltungen auf Dauer ersetzen kann? Wie sind da Ihre Ambitionen?
Prof. Neu:
Während der Pandemie haben wir gelernt, viele Prozesse auch ohne unmittelbare persönliche Kontakte zu gestalten. Dies ist durchaus möglich beim Austausch von Informationen, um Abstimmungsprozesse zu verkürzen oder wenn es darum geht, unterschiedliche Positionen auszutauschen. Aufwändige Reisen und Meetings wurden ersetzt durch Online-Besprechungen und Video-Kommunikation, und in der Tat konnten wir feststellen, dass dies machbar ist und durchaus auch die tägliche Arbeit erleichtern kann.

Andererseits fehlt uns die persönliche Kommunikation gerade im Rahmen unseres Frühjahrkongresses und unserer Herbsttagung. Diese Veranstaltungen leben neben dem fachlichen Austausch von der persönlichen Begegnung. Auch kleinere Fortbildungen, die oft ganz besonders von diesem Austausch leben, lassen sich nicht durch ein digitales Format ersetzen. Insofern haben wir einerseits positive Konsequenzen aus dieser Notsituation ziehen können, andererseits aber auch schmerzliche Lücken erfahren, die wir hoffentlich bald überwinden können.

DF: Thema Corona: Welche Herausforderungen hat die Pandemie an Sie persönlich und hier in der Klinik gestellt?
Prof. Neu:
Zu den großen Herausforderungen während der Pandemie zählt es, dass wir keine Erfahrung im Umgang mit einer solchen Situation haben und viele eingespielte Abläufe und Prozesse durch die äußeren Bedingungen verändert wurden. Alle unsere Routinen entfallen, werden permanent, z.T. täglich angepasst an neue Gegebenheiten, Rahmenbedingungen und Vorgaben.

Dies ist eine enorme Herausforderung und betrifft alle Ebenen innerhalb einer Klinik, angefangen vom Ärztlichen Direktor bis hin zum Pförtner. Banale Arbeitsabläufe werden somit anstrengend, dies führt zu raschen Ermüdungen, ganz abgesehen davon, dass viele MitarbeiterInnen zusätzlich persönliche Herausforderungen bewältigen müssen, wenn es beispielsweise darum geht, die eigenen Kinder adäquat zu versorgen.

DF: Und wie schätzen Sie denn die Zukunftsaussichten ein, das Virus in den Griff zu bekommen?
Prof. Neu:
Auch wenn die Impfkampagne zunächst schleppend angelaufen ist, hat sie jetzt doch deutlich an Tempo und Fahrt aufgenommen, und in Bälde dürfte immerhin die Hälfte unserer Bevölkerung geimpft sein. Dies macht mich optimistisch und ich hoffe, dass wir in wenigen Monaten eine Impfquote erreichen, die uns einen einigermaßen normalen Alltag führen und erleben lässt.

DF: Die Schulung der Patienten war durch das Virus sicherlich am meisten behindert. Welche Lösungen haben Sie hier gefunden, die Probleme zu lösen? Und welche konkreten Ratschläge geben Sie denn Ihren Patienten?
Prof. Neu:
Bei Schulungen haben wir schon immer individuelle Lösungen und Schulungskonzepte favorisiert und weniger auf Gruppenschulungen gesetzt. Dies entspricht einer typisch pädiatrischen Herangehensweise, weil eben nicht alle Menschen gleich sind und schon allein aufgrund des unterschiedlichen Alters und der unterschiedlichen Lebenssituation einzeln geschult werden sollten. Dieser individuelle Ansatz hat sich auch in Corona-Zeiten bewährt, weil die Schulung einer einzelnen Familie eben leichter arrangierbar ist als die Schulung einer ganzen Gruppe.

Darüber hinaus haben wir gelernt, dass Online-Schulungen zwar möglich, aber bislang nicht ausreichend konzipiert sind. Zwischenzeitlich gibt es mehrere Ansätze, solche Online-Schulungen zu strukturieren. Wir selber arbeiten an einem Konzept für Kindergärten und Schulen, das die Kindergarten- und Schulbesuche unserer DiabetesberaterInnen ergänzen oder ersetzen kann.

DF: Hier in Tübingen waren ja lange Zeit alternative Vorgehensweisen mit der Pandemie möglich. Die Politischen Rahmenbedingungen haben sich ja nun durch die bundesweite Notbremse geändert. Was wären denn Ihre Ratschläge als Mediziner, wie man optimal mit der Pandemie umgehen könnte?
Prof. Neu:
Nun, ich bin weder Virologe noch Epidemiologe, auch wenn ich mich intensiv mit der Epidemiologie des Typ-1-Diabetes beschäftigt habe. Somit wäre es vermessen, persönliche Ratschläge zu erteilen. Wenn ich gefragt werde, rate ich allerdings zur Impfung und zur Disziplin im persönlichen Umfeld mit Einhaltung aller Kontaktbeschränkungen und Hygienemaßnahmen.

DF: Haben Sie noch eine Botschaft an unsere Leser, einen Ratschlag, den Sie gerne loswerden möchten?
Prof. Neu:
Mir persönlich ist es immer wichtig, den Einzelnen zu sehen, das Individuelle zu erkennen. Gerade mit Blick auf unsere Patienten erscheint mir dies von großer Wichtigkeit. Es gibt nicht DEN Diabetespatienten. Unser Blick sollte sich vielmehr auf den Menschen mit Diabetes richten als auf seine Erkrankung.

DF: Lieber Herr Professor Neu, vielen dank für das interessante Gespräch und einen guten Start für Ihr neues Amt!


Interview:
Matthias Heinz
Redaktion Diabetes-Forum
Verlag Kirchheim & Co GmbH
Wilhelm-Theodor-Römheld-Str. 14, 55130 Mainz
Tel.: (0 61 31) 9 60 70 0, Fax: (0 61 31) 9 60 70 90


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2021; 33 (6) Seite 37-34