Vom 19. bis zum 23. September fand die 58. Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Diabetesforschung (EASD) in Stockholm statt. Nach zwei Jahren nur virtuellen Kongresses konnte sich jetzt endlich wieder die internationale Diabetesforschung persönlich treffen.

Live waren 8062 dabei, im Internet registrierten sich 3362 Teilnehmer. Online-Teilnehmer konnten auch direkt Fragen stellen. Diese Kombination zwischen WEB-Meeting und Präsenzkonferenz gelang technisch perfekt.

Spannendes Programm

Das Programmkomitee unter Leitung von Prof. Mikael Rydén vom Karolinska Institut in Stockholm hatte anhand der anonym bewerteten Bewerbungen ausgewählt. Eingereicht waren 1221 Abstracts, davon wurden 878 zur Präsentation angenommen. Die meisten Erstautoren kamen aus dem Vereinigten Königreich (107), gefolgt von Dänemark (86), den USA (71), Italien (63), Schweden (62) und Deutschland (59).

© EASD
Der EASD-Präsident Prof. Del Prato begrüßt die Teilnehmer.

Screens statt Poster

Es gab eine Neuerung: die Posterausstellung wurde abgeschafft. Stattdessen gab es an Bildschirmen Kurzvorträge, die auch im Internet live gezeigt wurden. Es wurde wegen des großen Interesses recht eng. Kaum jemand trug eine Maske, auch in Bus und Bahn ist das in Schweden nicht üblich – die Folge waren recht viele Covid Fälle unter den Heimkehrern.

Noch nie gingen so viele Preise nach Deutschland

Fast alle der Preise der EASD gingen in diesem Jahr nach Deutschland – das gab es in der Geschichte der EASD noch nie. Mehr Zusammenarbeit und großzügigere Förderung haben in Deutschland die Diabetesforschung in den letzten Jahren einen großen Schritt nach vorn gebracht.

Claude-Bernard-Preis an Prof. Michael Nauck

Die höchste Ehrung der EASD ist nach Claude Bernard benannt, dem Begründer der Stoffwechselforschung. 1978 hatte der Entdecker des GIP, Prof. Werner Creutzfeldt, diesen Preis für seine Arbeiten über gastro-intestinale Hormone erhalten. Jetzt wurde sein Schüler Prof. Michael Nauck geehrt, der seit vielen Jahren zu diesem Thema forscht. Weil weder GIP noch GLP-1 wegen ihrer kurzen Halbwertzeit therapeutisch nutzbar waren, interessierten Forschungen zu diesem Thema lange Jahre nur wenige Spezialisten. Zu denen gehörte an vorderster Front immer Michael Nauck. Seit durch die Entwicklung der länger wirkenden Analoga ein therapeutischer Einsatz möglich ist, sind die Inkretine zu einem Hauptthema der Diabetesforschung geworden. Besonders interessant ist, dass durch diese Mittel eine deutliche Gewichtsabnahme möglich ist.

Tirazepid mit erstaunlichen Ergebnissen

Die Ergebnisse der bereits im Juli 2022 im NEJMED publizierten Studie mit Tiraszepid, einem Analogon von zwei Inkretinen, GLP-1 und GIP, stellte Prof. Ania M. Jastreboff von der Yale University vor. Die beeindruckende Gewichtsabnahme kommt in die Nähe der Gewichtsreduktion nach bariatrischer Chirurgie. Die Nebenwirkungen des Tirazepid sind im Vergleich mit der chirurgischen Behandlung gering. Wie bei einem Analogon von GLP-1 und GIP zu erwarten, können Übelkeit und Durchfall auftreten, aber in weniger als fünf Prozent führen Nebenwirkungen zum Absetzen des Präparats. Die Effekte entsprechen dem, was bei deutlicher Gewichtsabnahme zu erwarten ist: günstige Wirkung auf Lipidparameter, Blutdrucksenkung, Senkung von Glukose- und Insulinspiegel.

Endlich ein Wundermittel gegen Adipositas?

Haben wir jetzt ein Wundermittel gegen Adipositas? Wer sich mit der Geschichte auskennt, erinnert sich an das zum Teil tragische Scheitern von Mitteln zum Abnehmen. Jetzt scheint ein Weg gefunden, Menschen mit erheblicher Adipositas medikamentös wirksam helfen zu können. Sehr aufmerksam sollte man aber die Forschung verfolgen. Gibt es bei langfristiger Gabe Nebenwirkungen, die wir noch nicht kennen? Was tun, wenn nach Absetzen des das Gewicht wieder rasch ansteigt?

© Dr. V. Jörgens
Großes Interesse an den Kurzvorträgen

EASD-Lilly Centennial Anniversary Preis für Prof. Mathias Tschöp

Eli Lilly trug vor 100 Jahren durch viele Entdeckungen dazu bei, Insulin in großen Mengen verfügbar zu machen. Aus diesem Anlass stiftete Eli Lilly einen Preis. Ausgezeichnet wurde Prof. Mathias Tschöp. Er leitet das Helmholtz Forschungszentrum an der TU München. Tschöp entdeckte die Funktion des im Magen produzierten Hormons Ghrelin, einem Gegenspieler des Leptin aus dem Fettgewebe, beide steuern im Gehirn Hungergefühl, Nahrungsaufnahme und Körperfettmasse. Tschöp war beteiligt an der Entwicklung des ersten dualen Inkretin Analogons Tirazepid, das bereits in den USA und Europa zugelassen wurde. Tschöp zeigte jetzt Daten über einen sogar dreifach wirkenden Agonisten, nicht nur des GLP-1 und des GIP sondern auch noch des Glukagon. Damit erreicht man eine noch deutlichere Gewichtsabnahme.

Sechs Millionen Kronen für die Erforschung des Typ-1-Diabetes

Die Novo Nordisk Foundation finanziert den "Diabetes Prize for Excellence". Mit sechs Millionen dänischen Kronen (über 800 000 Euro) werden die Forschungsarbeiten von Prof. Anette-Gabriele Ziegler, Direktorin des Instituts für Diabetesforschung am Helmholtz Zentrum in München gefördert. Frau Ziegler ist den Ursachen des Typ-1-Diabetes auf der Spur und versucht seit vielen Jahren, Kinder mit besonderem Risiko für Typ-1-Diabetes ausfindig zu machen. Sie zeigte neuste Ergebnisse zur frühen Entwicklung des Typ-1-Diabetes. Schon zwei Monate vor dem Auftreten der ersten Autoantikörper beobachtete sie auffällige Veränderungen des Glukosestoffwechsels. "Fällt ein Dogma?" fragt Frau Ziegler, "ist der Immunprozess nicht Ursache, sondern Folge eines Krankheitsprozesses, den wir noch nicht kennen?" Bei genetischer Veranlagung (man kennt schon über 50 Risikogene) muss es zu einer "Immunaktivierung" kommen, erst dann beginnt die Immunreaktion. In allen Stadien vor Manifestation des Typ-1-Diabetes wäre theoretisch eine erfolgreiche Prävention möglich.

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Prof. Ziegler aus München forscht über Typ-1-Diabetes.

Ein großes Ziel: Prävention des Typ-1-Diabetes

Ansätze dazu gibt es bereits: Die POInT Studie versucht mit oralem Insulin bei Babys mit hohem Risiko eine Immuntoleranz zu erreichen, Ergebnisse werden 2025 erwartet. In der SINT1A Studie gibt man Kindern Bifidobakterium Infantis, um die Darmflora zu beeinflussen und so Inflammation zu vermindern. 2027 erwartet man Ergebnisse.

In Deutschland hat Frau Zieglers Gruppe in der Fr1da Studie schon über 170 000 Kinder untersucht und 483 entdeckt, bei denen mehrere Inselzellantikörper vorliegen. Bei diesen könnten in Zukunft klinische Studien durchgeführt werden – es gibt bereits ein Mittel, das man dazu einsetzen könnte: Teplizumab, ein Antikörper, der den Angriff der T-Zellen auf Betazellen vermindert. Die US-Behörden entscheiden im November 2022 über eine Zulassung. Teplizumab verzögert das Auftreten des Typ-1-Diabetes erheblich, man wird aber sehr kritisch die Nebenwirkungen beobachten müssen. Ältere Diabetologen erinnern sich noch an das Scheitern des Versuchs, den Immunprozess bei Typ-1-Diabetes mit Ciclosporin aufzuhalten.

57. Minkowski-Preis für Prof. Martin Heni

1888 entdeckte Oskar Minkowski, dass nach Pankreatektomie Diabetes mellitus entsteht. Nach ihm benannte die EASD den Minkowski Preis. 2022 erhielt ihn Prof Martin Heni. Seine Arbeiten entstanden an der Universität Tübingen, seit 2022 leitet er die Sektion Endokrinologie und Diabetologie an der Universitätsklinik Ulm. Mit modernster Technik untersucht Heni die Bedeutung des Gehirns für die Stoffwechselregulation. Früher meinte man, dass Insulin gar keine Wirkung im Gehirn hat. Modernste Technik macht es aber jetzt möglich, Insulinwirkungen im Hirn auch beim Menschen zu untersuchen. Besonders erfolgreich war dabei ein Trick, den Heni anwandte: er führte Insulin als Spray über die Nase zu, so kann man direkt messen, was eine Erhöhung des Insulinspiegels im Hirn bewirkt.

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Professor Herni erhält den Minkowski-Preis.

Morgagni Preis

Diesen von der Firma Servier gestifteten Preis hatte Dr. Olga Ramich erhalten, die am DIFE Institut in Potsdam tätig ist. Sie konnte in einer Studie an Stoffwechselgesunden zeigen, dass es einen Unterschied macht, ob man alle Kalorien am Vormittag oder am Nachmittag zu sich nimmt. Die Glukosetoleranz verbessert sich, wenn man nur morgens isst: das Sprichwort "Morgens wie ein König und abends wie ein Bettler essen" hat also eine Grundlage.

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Morgagni- Preis für Dr. Ramich aus Potsdam.

Maike Sander mit dem Albert Renold Preis ausgezeichnet

Der Albert Renold Preis, benannt nach einem der "Gründerväter" der EASD, Prof. Albert Renold aus Genf, ehrt besondere Verdienste um die Erforschung der Langerhans‘schen Inseln. Als man sie für diesen Preis nominierte, arbeitete Prof. Maike Sander noch in San Diego. Im Juni 2022 wurde sie als wissenschaftliche Vorstandsvorsitzende des Max Delbrück Zentrums für Molekulare Medizin in Berlin berufen. Den Vortrag hielt sie wegen einer COVID Erkrankung per Internet. Maike Sander arbeitet daran, aus Stammzellen Betazellen herzustellen. Dabei sind noch große Probleme zu überwinden, in der Zeitschrift Nature Biotechnology stellte ihre Arbeitsgruppe kürzlich dar, dass aus Stammzellen gewonnene Betazellen schon fötalen Betazellen entsprechen. Der Traum ist, eines Tages Inselzellen herzustellen, die dem Immunsystem keine Angriffsfläche mehr bieten.

Insulin für eine ganze Woche?

Novo-Nordisk und Eli Lilly haben Insuline hergestellt, die eine ganze Woche lang wirken. Das von Novo-Nordisk entwickelte Icodec ist ein Insulinanalogon, dessen Wirkung durch einen angehängten Fettsäure-Rest erheblich verzögert wird. Eine Studie an Menschen mit Typ-2-Diabetes, die erstmals mit Insulin behandelt wurden, verglich Icodec mit täglich gespritztem Degludec. Erst nach ca. 18 Wochen zeigte sich ein geringer Vorteil durch Icodec. Allerdings kann man verständlicherweise solche Studien nicht "verblinden", denn wer nur einmal pro Woche spritzt, weiß natürlich, welches Präparat benutzt wird. Eli Lilly erreicht mit seinem Basalinsulin Fc, kurz BIF genannt, (BIF) eine noch deutlichere Verlängerung der Insulinwirkung durch ein Globulin, das an zwei Insulinanaloga hängt.

Ist länger wirklich besser?

Über die Langzeitinsuline sind in Zukunft kontroverse Diskussionen zu erwarten. Eine ganze Woche lang hat man damit nicht die Möglichkeit, das Basalinsulin wegen Hypoglykämien oder bei vermehrter Muskelarbeit zu vermindern. Deutschland hat der Gemeinsame Bundesausschuss bezüglich des DMP Typ-2-Diabetes im Sommer 2022 beschlossen, bei Beginn der Insulintherapie des Typ-2-Diabetes tagsüber Verzögerungsinsulin solange wie möglich zu vermeiden und die Therapie mit Verzögerungsinsulin zur Nacht zu beginnen. Dass sich so über mehrere Jahre erfolgreich therapieren lässt, hat die GRADE Study gezeigt, die zum Zeitpunkt des EASD im New England Journal of Medicine veröffentlicht wurde. In dieser Studie wurde mit einer kleinen Dosis Glargin begonnen. Der Gemeinsame Bundesausschuss empfiehlt hingegen NPH-Insulin.

Zunächst nur wenig Verzögerungsinsulin zur Nacht nötig

Dr. Bernardo Mertes aus Frankfurt stellte eine Studie an 1006 Patienten vor, bei denen er die Insulintherapie mit NPH-Insulin zur Nacht begonnen hatte. Es war weniger Insulin notwendig, als in den meisten Empfehlungen (im Mittel 9,8 IE, entsprechend 0,11 IE pro kg). Bis auch tagsüber Insulin notwendig wird, gewährt diese Behandlung den Betroffenen einige Jahre mit viel weniger Einschränkungen: kürzere Schulung, nur wenige Blutzuckermessungen nachts, keine festen Mahlzeiten, kein Abschätzen der Kohlenhydrate und statt Gewichtszunahme sogar Gewichtsabnahme. Wie in der GRADE Studie reichte diese Behandlung nach im Mittel 3-4 Jahren nicht mehr aus und es wurde auch tagsüber Insulin notwendig.

Was essen, um länger zu leben?

Dr. Janett Barbaresko aus Düsseldorf berichtete über eine Metanalyse von Studien zur Frage, welche Ernährungsweisen bei Typ-2-Diabetes eine Beziehung zur Lebenserwartung haben. In den Studien lebten die länger, die mehr Fisch, Ballaststoffe und mehrfach ungesättigte Fettsäuren zu sich nahmen. Das große Problem all dieser Ernährungsstudien ist aber, dass es sich nie um prospektiv kontrollierte Interventions-Studien handelt.

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Dr. Barbaresko aus Düsseldorf bewertete Ernährungsstudien und spricht über den Zusammenhang von Lebenserwartung.und Ernährung.

Schluss mit Softdrinks und Tiefkühlpizza?

Per Internet aus den USA sprach Zunwei Chen über eine Auswertung von drei großen Langzeitstudien u. A. der Nurses Health Study (4,7 Millionen Personen-Jahre Beobachtung). Sie fand, dass es häufiger zu Typ-2-Diabetes kommt, wenn Menschen "Ultrahoch" verarbeitete Lebensmittel essen. Damit bezeichnet man verarbeitete Lebensmittel, die mehrere Verarbeitungsschritte durchlaufen haben und viele Zutaten und Zusatzstoffen enthalten. Dazu gehören Wurstwaren, Fleischprodukte, Backwaren, Trockensuppen, Softdrinks, Eiscreme, Süßigkeiten sowie Fertiggerichte wie Tiefkühlpizza.

Schluss mit dem BMI? Hüfte und Taille messen?

Viel hat man sich gemüht, den BROCA-Index durch den Body-Mass-Index zu ersetzen, der Wert ist aber in der Allgemeinbevölkerung kaum vermittelbar, denn wer kann schon im Kopf sein Gewicht durch das Quadrat der Körpergröße in cm teilen. Jetzt mehren sich die Stimmen, besser Hüft- und Bauchumfang zu messen. Imran Khan von der Universität Cork in Irland wertete Daten von 50.594 Personen aus. Während der Body-Mass-Index nicht linear mit der Mortalität korreliert – es zeigte sich die bekannte J-förmige Kurve - war die Korrelation bei Bestimmung von Bauch und Hüftumfang linear. Besonders bei Männern stand der BMI weniger im Zusammenhang mit der Lebenserwartung. Beim Bierbauch bringt das Maßband also viel mehr als die Waage!

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Imre Khan sagt:Schluss mit dem BMI.

Letzte Auswertung der berühmten UKPDS

1977 begann Prof. Robert Turner mit der United Kingdom Diabetes Study. 1998 beim EASD-Meeting in Barcelona wurden die Ergebnisse präsentiert, schon 1999 verstarb Robert Turner. Sein Mitarbeiter Rury Holeman zeigte jetzt die letzte Untersuchung darüber, was aus den Patienten der UKPDS geworden ist. Mittlerweile sind 84,4 % der Studienteilnehmer verstorben. In der Studie hatte eine Senkung des HbA1c um ca. 1% eine Verminderung der diabetestypischen Folgeschäden bewirkt. Aber weder Herzinfarkte noch die Gesamtmortalität waren gebessert. Jetzt bestätigte die letzte Auswertung die Ergebnisse einer früheren Nachbeobachtung: auf lange Sicht zeigten sich bei den damals über 10 Jahre besser eingestellten Patienten weniger kardiovaskuläre Todesfälle und eine Verminderung der Gesamtmortalität. Kritiker wenden natürlich ein, dass es sich bei der weiteren Beobachtung nicht mehr um eine kontrollierte Studie handelte. Aber das Ergebnis lässt vermuten, dass auch bei Typ-2-Diabetes die Einstellungsqualität des Stoffwechsels die Lebenserwartung beeinflusst, es bedarf allerdings einer sehr langen Zeitspanne, damit dies wirksam wird.

2023 erstmals EASD in Hamburg

Dem Programm Committee für den EASD-Kongress in Hamburg steht erstmals eine Frau vor: die Dänin Prof. Tina Vilsbøll. Sie leitet in Gentofte bei Kopenhagen das Steno Forschungszentrum für Diabetes. Vom 3. bis 6. Oktober trifft sich die Diabetesforschung aus aller Welt in der Hansestadt – hoffentlich nicht mehr beeinträchtigt durch Pandemie und Ukrainekrieg.


Autor:
Dr. med. Viktor Jörgens
European Association for the Study of Diabetes (EASD)
Director EASD/EFSD (1987 bis 2015)


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (11) Seite 26-30