Niedrige Bildung, ein geringes Einkommen sowie ein schlechter Zugang zur Gesundheitsversorgung gelten als Risikofaktoren für chronische Erkrankungen wie Diabetes mellitus Typ 2 und Adipositas. Was passieren muss, um Gesundheitsgerechtigkeit in Deutschland zu stärken und welche Rolle die Gesundheitsfachberufe dabei spielen, darüber haben Expert:innen aus Forschung und Praxis auf der Online-Pressekonferenz des Verbands der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e.V. (VDBD) am 18. September 2024 gesprochen.
Das Gesundheitssystem in Deutschland befindet sich in einem starken Wandel und steht vor vielen Herausforderungen. Dazu zählen politische Maßnahmen mit Reformen und neuen Gesetzen, eine Gesellschaft mit steigender Lebenserwartung aber auch eine Bevölkerung, in der die Schere zwischen einkommensstarken und -schwachen Menschen immer weiter auseinander geht. Unter dem Motto "Wie schaffen wir mehr Gesundheitsgerechtigkeit in Deutschland?" haben die Referierenden Prof. Dr. Claudia Luck-Sikorski, Kathrin Boehm, Dr. Gottlobe Fabisch und Stefan Bräunling verschiedene Aspekte, die für eine gerechtere Gesundheitsversorgung in Deutschland und insbesondere für Menschen mit Diabetes mellitus von Bedeutung sind, im Rahmen der Pressekonferenz näher beleuchtet.
Forschen für mehr Gesundheitsgerechtigkeit
Prof. Dr. Claudia Luck-Sikorski, Lehrstuhl für Psychische Gesundheit und Psychotherapie, Präsidentin der SRH Hochschule für Gesundheit GmbH in Gera, befasst sich schon seit Jahren mit dem Thema "Gesundheitsgerechtigkeit" auf wissenschaftlicher Ebene und gilt als renommierte Expertin auf diesem Gebiet gilt. Sie betont die Bedeutung von Forschung für eine gerechtere Gesundheitsversorgung und wie die Forschungsergebnisse genutzt werden können, um Ungleichheiten im Gesundheitswesen zu erkennen und zu beseitigen sowie Impulse für ein gleichberechtigtes Gesundheitswesen am Beispiel Adipositas und Diabetes mellitus gesetzt werden können. Luck-Sikorski: "Gesundheitsgerechtigkeit würde bedeuten, dass Menschen – unabhängig von ihrem sozialen Status, ihrem Wohnort, ihrer Herkunft oder ihrem Einkommen – die gleichen Chancen auf ein gesundes Leben haben sollten." Das schlägt sich auch auf die Lebenserwartung nieder. So kann der Unterschied in der Lebenserwartung laut. einer Studie des Robert-Koch-Instituts (RKI) aus 2014 bis zu 15 Jahre betragen. Um den Unterschied zu erklären, gibt es in der Forschung verschiedene Ansätze, die auch für die Bereiche Adipositas und Diabetes mellitus von großer Bedeutung sind:
- Eingeschränkter Zugang zu Gesundheitsversorgung
- Schlechtere Lebensbedingungen
- Geringere Bildung
- Ungleichheiten in der Arbeitswelt
- Psychischer Stress
- Ernährung und Bewegung
Kathrin Boehm (l.), Dr. Gottlobe Fabisch (r.), Prof. Dr. Claudia Luck-Sikorski (Mitte) und Stefan Bräunling.
Studien zeigen, dass Mechanismen wie sozioökonomischer Status eine wichtige Rolle bei Krankheitsbildern wie Adipositas und Diabetes spielen. Um Gesundheitsgerechtigkeit in diesen Bereichen zu fördern, lassen sich schon heute gezielte Maßnahmen ergreifen. Dazu gehören Steuererleichterungen für gesunde Lebensmittel, zielgruppenspezifische Ansprache, die Unterschiede in Geschlecht und Bildungsgrad der Patient:innen berücksichtigen aber auch das Anerkennen sozialer Unterschiede und die gezielte Unterstützung besonders gefährdete Gruppen.
Wie kann die Diabetesberatung zur Gesundheitsgerechtigkeit beitragen?
Diabetesberaterin DDG und Vorsitzende des VDBD Kathrin Boehm nutzte ihren Erfahrungsschatz ihrer langjährigen Berufstätigkeit als Diabetesberaterin, um in dieser Frage Aufschluss zu geben. Eine gerechte Versorgung von Menschen mit Diabetes hängt neben den oben schon beschriebenen sozioökonomischen Faktoren auch stark vom Zugang zu einem/r Diabetesberater:in und damit zu Schulung und Beratung ab. Schon vor 40 Jahren wurden in Deutschland Schulungsprogramme eingeführt, um Betroffene im Selbstmanagement ihrer chronischen Erkrankung passgenau zu unterstützen. "Dazu braucht es natürlich die regelmäßige Anbindung an ein Diabetesteam", sagt Boehm dazu. Diabetesberater:innen spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie verfügen über spezielle Weiterbildungen, um Patient:innen Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln, die für den Alltag mit Diabetes unverzichtbar sind. Diese Schulungen sind dabei ein wichtiger Bestandteil der Diabetestherapie und tragen zur Gesundheitsgerechtigkeit bei, da sie einen gesünderen Lebensstil fördern und die Therapieadhärenz verbessern. Diabetesberater:innen sind in allen Altersgruppen, von Kindern bis zu geriatrischen Patient:innen, als wichtige Ansprechpartner:innen und Begleiter:innen tätig und ihre technische Expertise im Umgang mit modernen Diabeteshilfen wie Insulinpumpen und Glukosesensoren erhöht die Versorgungsqualität deutlich. Trotz ihrer wichtigen Rolle wird ihr Potenzial in der ambulanten als auch stationären Versorgung von Diabetespatient:innen bisher nicht vollständig ausgeschöpft. Diabetesberater:innen tragen maßgeblich zur Stärkung der Gesundheitskompetenz bei und dies könnte schon in Schulen zielgerichtet und präventiv eingesetzt werden.
Kombi-Pack Krankenhausreform und Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz
Die geplanten Gesetzesvorhaben Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz (KHVVG) und Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG) müssen zusammen gedacht werden, erläutert Dr. Gottlobe Fabisch, Geschäftsführerin des VDBD e.V. "Der Zugang zur Gesundheitsversorgung im Krankheitsfall ist Grundlage von Gesundheitsgerechtigkeit", so Dr. Fabisch weiter. Der VDBD stemmt sich nicht gegen notwendige Reformen. Allerdings reklamiert der VDBD gegenüber der Politik, dass in beiden Gesetzentwürfen die Diabetologie und die chronische Erkrankung Diabetes derzeit unverständlicherweise ausgeblendet werden. Diabetologische Fachkliniken fallen momentan aus dem Raster der Leistungsgruppen und Diabetesberater:innen werden nach wie vor nicht gegenfinanziert. Der VDBD fordert daher, vorhandene und wertvolle Ressourcen der Diabetesexpertise zu nutzen und zu erhalten, Diabetesberater:innen strukturell und finanziell im klinischen Setting abzubilden, auch und gerade in der sektorenübergreifenden Versorgung sowie die Leistungsgruppe "Komplexe Endokrinologie/Diabetologie" zu überarbeiten und die Diabetesberatung zu integrieren.
Eigentliches Ziel des GVSG ist es, die hausärztliche Tätigkeit zu stärken, es hat jedoch schwerwiegende Folgen für Diabetologische Schwerpunktpraxen (DSP). Die geplante jährliche Versorgungspauschale könnte für diese Praxen zu Einkommenseinbußen führen, da viele Diabetolog:innen auf Hausarztsitzen tätig sind, aber die Pauschale nur dem primären Hausarzt zusteht. Bei den Vorhaltepauschalen werden die Spezifika einer Diabetologischen Schwerpunktpraxis nicht berücksichtigt, wie z.B. höhere Raumkosten für Schulungsräume und Personalkosten für Diabetesberater:innen und Diabetesassistent:innen. Ohne die Kompetenz eines/r Diabetesberater:in aber kann eine DSP Menschen mit Diabetes nicht adäquat versorgen. Es besteht die Gefahr, dass DSP aufgeben und sich das Versorgungsnetz verkleinert, was wiederum den Zugang zur Versorgung, besonders im ländlichen Raum, verschlechtert. Dadurch würde auch Gesundheitsgerechtigkeit in Deutschland beschädigt. Der VDBD fordert daher, Leitungskürzungen dürfen nicht zu Lasten der Diabetesberater:innen gehen, gerechte Vergütung der Leistungen einer DSP durch Versorgungs- und Vorhaltepauschale und als neues Element im GVSG einen Strukturzuschlag für Hausarztpraxen, die eine:n Diabetesberater:in oder Diabetesassistent:in vorhalten.
Wie "Präventionsketten" mehr Chancengleichheit in der Gesundheitsversorgung schaffen
Stefan Bräunling, Leiter der Geschäftsstelle des bundesweiten Kooperationsverbundes Gesundheitliche Chancengleichheit, erläuterte den "Health in All Policies"-Ansatz der Weltgesundheitsorganisation WHO. Die gesundheitliche Versorgung und die soziale Lage sind eng miteinander verknüpft. Verschiedene Faktoren wie biologische, soziale und ökologische Einflüsse bestimmen, was uns gesund hält oder krank macht. Der "Health in All Policies"-Ansatz der WHO zielt darauf ab, Gesundheit als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe zu fördern, indem verschiedene Sektoren zusammen-
arbeiten.
Besonders auf kommunaler Ebene spielen die koordinierte Planung und Zusammenarbeit eine zentrale Rolle. Präventionsketten sind dabei ein wichtiges Instrument, das sich auf eine umfassende Gesundheitsförderung durch vernetzte Beratungs- und Unterstützungsangebote konzentriert. Diese Strategien richten sich oft an Kinder, Jugendliche und chronisch kranke Menschen wie Diabetespatient:innen aber auch andere benachteiligte Gruppen, die nur eingeschränkten Zugang zu Gesundheitsangeboten und -informationen haben. Zugehende Angebote und Projekte, die die Diabetesfachkräfte miteinbeziehen, können dort sehr positiv
wirken.
Ein Beispiel für ein erfolgreiches Projekt sind die "Gesundheitsfachkräfte im Quartier" in Bremen und Bremerhaven, die Beratung direkt zu den Menschen bringen.
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (10) Seite 42-44