„Wir haben in der Diabetologie einen großen Vorteil: Durch die vielen digitalen Devices, mit denen wir seit Jahren arbeiten, sind wir mit dem Thema Digitalisierung langsam großgeworden und können gut damit umgehen“ – dieses Zitat aus der Pionierveranstaltung „Barcamp Diabetologie Digital“ für Diabetolog:innen und diabetologisch tätige Ärztinnen und Ärzte zeigt, dass die Teilnehmenden der virtuellen Veranstaltung durchaus zuversichtlich sind, wenn es um die digitale Transformation in der Praxis geht. Dieser Zuversicht stehen aber viele Hindernisse gegenüber, wie die Diskussionen während des Barcamps zeigten…

„Viele neue Techniken sind sinnvoll und haben Potential, Prozesse im Praxisalltag zu erleichtern.“ – In diesem ersten Teil des Fazits aus einer der Diskussionsrunden dieses ersten Barcamps Diabetologie Digital (Gastgeber: Kirchheim-Verlag, Unterstützer: Berlin-Chemie AG) zeigt sich die Zuversicht, mit der die teilnehmenden Diabetologinnen und Diabetologen in die Zukunft schauen. Dazu passt, dass über drei Viertel der diabetologisch tätigen Ärzt:innen das Potenzial der Digitalisierung zur Optimierung der Diabetestherapie als hoch ansehen (Quelle: D.U.T-Report 2020).

Was es so schwierig macht, die Digitalisierung in der Praxis erfolgreich umzusetzen, folgt im zweiten Teil des Fazits: „Diese neuen Techniken stecken aber noch zu sehr in den Kinderschuhen und müssen sich noch erproben und etablieren.“

Beim Barcamp werden aus Teilnehmenden schnell „Teilgebende“

Das Barcamp bot eine gute Plattform, um sich auf Augenhöhe über Vor- und Nachteile digitaler Praxis-Tools auszutauschen und sich neue Perspektiven und Lösungsansätze zu erschließen. Einblicke in drei der Sessions (Diskussionsrunden während eines Barcamps) zeigen, was die Ärztinnen und Ärzte in ihrem Praxisalltag beschäftigt und behindert, wie sie versuchen, Probleme zu lösen, und welche Ideen und Wünsche sie haben, wenn es um die digitale Transformation in der Praxis geht. Durch den lebendigen Austausch wurden aus den „Teilnehmenden“ schnell „Teilgebende“ – ganz so, wie es während eines Barcamps sein soll.

Was ist ein Barcamp?

  • Ein Barcamp ist keine typische Konferenz, sondern ein offenes Veranstaltungsformat. Austausch und Diskussion stehen im Vordergrund; alle Teilnehmenden können und sollten sich einbringen.
  • Das Wort „Bar“ kommt aus der IT-Sprache, steht für "Variable" und gibt einen Hinweis auf das Konzept: Das Programm des Barcamps wird von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern selbst und variabel gestaltet. Sessions heißen die Diskussionsrunden und Workshops.
  • Vorgegeben ist nur das übergreifende Thema, über dessen viele Facetten sich die Teilnehmenden auf Augenhöhe austauschen.

Die Themen für die Sessions hatten alle Versammelten zu Beginn des Barcamps mit Hilfe der erfahrenen Barcamp-Moderatorin Anne Seubert selbst festgelegt und so sichergestellt, dass genau das besprochen wurde, was sie am meisten interessiert. In den Sessions begleiteten dann Hosts die Gespräche der Barcamper.

Barcamp-Themen finden sich auch im D.U.T-Report 2020 wieder

Kurze Passagen aus dem genannten „D.U.T-Report 2020“ (z.B. Artikel „Digitalisierung in der Arztpraxis“ bzw. Ergebnisse der Umfrage) unterstreichen, dass die während des Barcamps diskutierten Aspekte die Gesamtheit der Diabetolog:innen betreffen.

Der Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes (D.U.T-Report)

In diesem Report beschreiben die Autoren die wichtigsten Fakten und Entwicklungstrends zu verschiedenen Aspekten der Digitalisierung und Technologisierung in der Diabetologie. Die Artikel sollen helfen, praxistaugliche Lösungen zu finden, die künftig zu einer modernen und patientenorientierten Diabetologie gehören können. Zudem ist die eingehende Analyse der Umfrageergebnisse ein Teil des D.U.T-Reports.

Der Report erscheint im Kirchheim-Verlag, die Herausgeber sind Prof. Dr. Bernhard Kulzer und Prof. Dr. Lutz Heinemann. Unterstützt wird der D.U.T-Report von der Berlin-Chemie AG mit seinem Zukunftsboard Digitalisierung (zd), mit dem das Unternehmen zusammen mit führenden Experten den Digitalisierungsprozess in der Diabetologie in Deutschland aktiv vorantreiben will. Der D.U.T-Report 2021 erscheint Ende Januar 2021.

Session 1: Probleme bei der Digitalisierung – Kosten und Technik

Großen Diskussionsbedarf unter den Teilnehmenden gab es zu den Kosten und der Technik der Digitalisierung. Sich um die Technik zu kümmern, ist heute in der Praxis ein Arbeitsfeld, das immer mehr Aufmerksamkeit beansprucht, oft Probleme verursacht – darin waren sich alle einig. „Wir haben am Freitagnachmittag keinen Praxisbetrieb mehr, sondern kümmern uns dann ausschließlich um EDV-Probleme und Updates“, berichtete der Inhaber einer diabetologischen Schwerpunktpraxis. Die Technik und EDV-Probleme bereiteten ihm manchmal schlaflose Nächte.

Auch die Stichworte „Abhängigkeitspotential“ und „Zeitfresser“ fielen mehrmals, die Technik, Organisation und Administration der EDV nehme einem die Freude an der Behandlung. Einige Ärzt:innen in dieser Session überlegten, einen Netzwerkadministrator zu engagieren – „aber das ist kaum bezahlbar“. Auch das Einlesen der Gesundheitskarte bereitet oft Probleme; allgemein ist die Telematik-Infrastruktur fehleranfällig und biete bis jetzt nur Vorteile für die Kassen.

Ist also die Technik in der Praxis ein reines Ärgernis? Das nun auf keinen Fall, hieß es: Es gebe viele innovative und gute digitale Neuerungen, aber wie sie dann in der Praxis implementiert und dauerhaft genutzt werden können, sei oft nicht klar. Kaum mehr vorstellbar sei, dass viele Vorgänge früher einmal manuell erledigt werden mussten.

Das Thema „Kosten und Technik“ im D.U.T-Report

Jeweils etwas über drei Viertel der über 300 für den D.U.T-Report 2020 befragten Diabetolog:innen haben eine positive Einstellung zur Digitalisierung und schätzen das Potenzial der Digitalisierung als hoch ein. Die Top 3 der Vorteile der Digitalisierung sind für die Befragten: bessere Kommunikation mit dem Patienten, mehr Unterstützung bei Therapieentscheidungen, mehr Empowerment für Patienten.
Die Top 3 der Nachteile sind: unklare Vergütung digitaler Leistungen, rechtliche Unsicherheiten, hohe Investitionskosten. Häufig genannte werden zudem: Fehleranfälligkeit von digitalen Anwendungen, Überforderung durch Technik, schwierige Integration in den Behandlungsalltag.

Dr. Nikolaus Scheper in seinem D.U.T-Beitrag „Digitalisierung in der Arztpraxis“ zur Telematik-Infrastruktur: Die Beschwerden aus den Praxen häufen sich, die Beschwerdeinhalte ähneln sich sehr: Fehlerhafter Verbindungsaufbau, Abbruch von Verbindungen usw., die nicht selten auch den Neustart der Router erfordern, werden berichtet. Dabei ist die Idee eines gut geschützten Kommunikationswegs ausgesprochen begrüßenswert. Die konkrete Umsetzung erfolgt aber trotz langer, offenbar vergeblicher Vorlaufzeit leider überhastet, und die Lösungen sind schon jetzt in vielen Punkten nicht mehr auf der Höhe der Zeit.

Session 2: Probleme bei der Digitalisierung: Rechtssicherheit und Datenschutz

Hinter der Einführung neuer digitaler Technik steht immer die Frage, ob hinsichtlich des Datenschutzes Rechtssicherheit besteht – ein Thema, das viele Barcamp-Teilnehmende sehr beschäftigt; die fehlende Rechtssicherheit sei für Praxen rechtlich und finanziell oft existenzgefährdend.

Für die Daten aus Blutzuckermessgeräten, Insulinpumpen und CGM-Systemen gibt es inzwischen zwar meist Cloud-Lösungen – das ist praktisch. Aber ist es auch sicher? Wer hat Zugriff auf die Daten? Die Unsicherheit ist groß, und es gibt auch Bedenken von Seiten der Behörden – aber keine Lösungen. Ein niedergelassener Diabetologe berichtet, dass in seiner Praxis das Hochladen der Daten in die Cloud nun wieder abgeschafft worden sei, obwohl dies die Abläufe in der Praxis stark beeinträchtigt und andere Möglichkeiten, die Daten in die Praxen zu schicken, von vielen Patient:innen nicht genutzt werden.

Was kann die Lösung sein? Nach Meinung der Teilnehmenden können die Ärzt:innen nicht noch die Rolle der Datenschutzbeauftragen übernehmen – was aber von ihnen erwarten wird –, und sie können auch nicht alle Verträge juristisch prüfen. Auf Seiten der Patienten wiederum gebe es weniger Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit und wenig Verständnis dafür, dass der Datenschutz die Vorgänge umständlich und kompliziert macht.


»Ich finde die Systeme genial, aber es ist traurig, dass sie nicht genutzt werden können – nur die Rechtssicherheit hält mich davon ab.«
Ein Teilnehmer des Barcamps Diabetologie Digital


Was tun? Bis es eine rechtliche Lösung gibt, müssen Offline-Lösungen angeboten werden, hieß es in der Runde. Und: Bis eine Lösung gefunden ist, stecken die Praxen natürlich auch weiterhin in einem Dilemma: auf der einen Seite hilfreiche digitale Systeme, auf der anderen Seite die fehlende Rechtssicherheit, die die Nutzung der Systeme erschweren oder unmöglich machen. „Wir stehen hier in der Praxis, haben super Systeme mit tollen Möglichkeiten, haben aber keine Daten vorliegen. Ich finde die Systeme genial, aber es ist traurig, dass sie nicht genutzt werden können – nur die Rechtssicherheit hält mich davon ab“, fasste ein Teilnehmer seine unbefriedigende Situation zusammen.

Das Thema „Rechtssicherheit und Datenschutz“ im D.U.T-Report

Etwas über 50 Prozent der über 300 für den D.U.T-Report 2020 befragten Diabetolog:innen sehen „rechtliche Unsicherheiten“ als einen der Nachteile der Digitalisierung an, fast 40 Prozent werten die Gefahr eines Missbrauchs von Patientendaten als Nachteil. In Fragen explizit zum Datenschutz zeigt sich deutlich der Unmut der Diabetolog:innen: Nur etwas über 30 Prozent halten die bestehenden Datenschutzregelungen für ausreichend, für fast 45 Prozent stellen nicht gelöste Datenschutzprobleme eine bedeutsame Barriere für die Implementierung digitaler Angebote dar, und fast ein Drittel schätzen die Wahrscheinlichkeit relativ hoch ein,dass Unbefugte Zugriff auf die Diabetesdaten der Patienten erlangen könnten.

Session 3: Datenaustausch

Ganz praktisch wurde es in der Session „Datenaustausch“: Wie sollen all die Daten, die durch die Patient::innen in die Praxis kommen oder auch in der Praxis selbst entstehen, verwaltet werden? Wie ist es möglich, sich gewinnbringend darüber auszutauschen? Geht es um Daten aus dem Bereich Diabetes, um Daten aus Messgeräten und Pumpen, gibt es den dringenden Wunsch der Teilnehmerinnen, nach einer Software für alle CGM-/Pumpensysteme.

Der „Datenwust“, der durch die unterschiedlichen Systeme entsteht, sei „schlecht und nicht sinnvoll“. In die gleiche Richtung geht die Forderung, die Interoperabilität zwischen CGM-Systemen und Insulinpumpen zu verbessern: „Wird ein neues CGM-System zugelassen, muss es mit allen verfügbaren Insulinpumpen kompatibel sein.“


»Wird ein neues CGM-System zugelassen, muss es mit allen verfügbaren Insulinpumpen kompatibel sein.«
Eine Teilnehmerin des Barcamps Diabetologie Digital


Eine Software für alles – das würde ein weiteres Problem verkleinern, nämlich den Patientinnen und Patienten die Software zu erklären, sie darin zu schulen, so die Teilnehmenden dieser Session.

Das Thema „Datenaustausch“ im D.U.T-Report

„Halten Sie die Interoperabilität verschiedener digitaler Systeme innerhalb der Diabetologie für adäquat?“ wurden Diabetolog:innen in der Umfrage für den D.U.T-Report 2020 gefragt. Nur etwas über 6 Prozent halten den jetzigen Stand der Interoperabilität für ausreichend und zufriedenstellen, immerhin fast 40 Prozent glauben, dass sich die Interoperabilität in den nächsten 5 Jahren verbessern wird.

Dr. Nikolaus Scheper in seinem D.U.T-Beitrag „Digitalisierung in der Arztpraxis: „Wir sollten bei der Digitalisierung in der Arztpraxis nicht dauernd neue Bereiche angehen, sondern dafür sorgen, dass die Praxisverwaltungssysteme und die Hard- und Software auch externer Anbieter endlich vernünftig miteinander kommunizieren können! Auslese-Software für Messgeräte, Glukosemonitoring-Systeme und Insulinpumpen sind heute eine wichtige Hilfe bei der Behandlung von Menschen mit Diabetes. Schnelles Auslesen solcher Geräte erleichtert die Arbeit sehr und hilft, gemeinsam mit den Patienten schnell einen Überblick über die Glukosedaten zu bekommen und unmittelbar therapeutische Entscheidungen zu treffen.“

Ärzt:innen können nicht alles auffangen!

Am Ende dieses ersten (Pionier-) Barcamps Diabetologie Digital waren sich die alle einig: Es werden viele (scheinbar) innovative digitale Neuerungen eingeführt – aber die Wurzel des Problems wird oft übersehen. Durch den konstruktiven kollegialen Austausch – wie während des Barcamps – und viel eigenes Engagement kann nicht alles aufgefangen werden. Hier ist die Politik gefordert, eine bessere Basis für Ärztinnen und Ärzte zu schaffen.

Dazu noch einmal Dr. Nikolaus Scheper im D.U.T-Report 2020: „Zurzeit zwingt sich der Eindruck auf, dass es vor allem darum geht, ,irgendetwas' in Richtung Digitalisierung zu unternehmen. Dabei besteht die Gefahr, dass Unsummen in die falschen Projekte investiert werden, die Praxen und die darin arbeitenden Menschen überfordert werden und die Entwicklung hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. (…) Digitalisierung in der Arztpraxis weist ein enormes Potential auf, die Arbeit in der Praxis, die medizinische Versorgung der Patienten und die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter wesentlich zu verbessern. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass die Basis entsprechend weiterentwickelt wird. Konkret bedeutet dies: Die PVS und die anzubindende externe Hard- und Software müssen rasch und nachhaltig auf einen modernen Stand gebracht werden.“

Über die Berlin-Chemie AG


Die Berlin-Chemie AG (deutsche Niederlassung der Menarini Group/Florenz) vertreibt u. a. moderne Insuline und orale Antidiabetika sowie Diabetestechnik. Außerdem engagiert sich das Unternehmen stark in der Digitalisierung der Diabetologie: Zusammen mit dem Zukunftsboard Digitalisierung gibt Berlin-Chemie den Digitalisierungs- und Technologiereport Diabetes (D.U.T-Report) heraus und verleiht den bytes4diabetes-Award für praxisrelevante digitale Lösungen. Erheblich ist außerdem das Engagement von Berlin-Chemie, wenn es um Schulungsprogramme geht (z. B. INPUT, Primas) und beim TheraKey-Portal.


von Redaktion
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