In Deutschland sind etwa zwei Drittel der Männer und die Hälfte der Frauen übergewichtig (BMI>25), ein Viertel der Erwachsenen ist adipös (BMI>30). Die chronisch-fortschreitende Fettleibigkeit geht nicht nur mit einem hohen Leidensdruck bei den Betroffenen einher, sondern auch mit einer Vielzahl ernster Begleiterkrankungen. Nicht zuletzt deshalb stellt die Adipositas eine für Gesundheitssystem und Volkswirtschaft besonders bedeutsame Erkrankung dar.
Besonders offensichtlich ist das erhöhte Risiko, an Typ-2-Diabetes (T2DM) zu erkranken. Daneben gehören u.a. KHK und Herzinsuffizienz, arterielle Hypertonie, Dyslipidämie, die nicht alkoholische Fettleberkrankung bis hin zur Leberzirrhose, Refluxkrankheit, obstruktives Schlafapnoesyndrom, Fertilitätsstörungen, Nephropathie und Arthrose zu den mit Adipositas vergesellschafteten Erkrankungen. Geschätzt wird, dass sogar vier bis neun Prozent aller Krebserkrankungen durch Fettleibigkeit (mit-)bedingt sind, besonders das Risiko für gastrointestinale Malignome ist erhöht. Zudem ist Adipositas mit einem schlechteren Ansprechen auf Krebstherapien assoziiert, ebenso gilt dies für die Prädisposition und den Verlauf von Infektionen – nicht zuletzt wurde dies im Zusammenhang mit Covid-19 offenkundig [Müller 2023].
Therapie der Adipositas – Anerkennung als Krankheit
Das alles ist vielen bewusst – Behandlern und Betroffenen gleichermaßen. Und dennoch: Mit Bewegung und "Diät" allein schaffen es Betroffene nicht, ihr Körpergewicht wieder auf ein gesundes Maß zu reduzieren. Ihnen fehlende Selbstdisziplin zu unterstellen, ignoriert die Ursachen, u.a. auch genetische Faktoren, die einen ebenso entscheidenden Einfluss auf den BMI haben können, wie etwa genetische Ursachen für Herz-Kreislauferkrankungen. Von der WHO wird Adipositas als chronische Krankheit definiert, in Deutschland ist Adipositas seit 2020 als Krankheit anerkannt, ein wichtiger Schritt zur De-Stigmatisierung.
Bis dato ist ein chirurgischer Eingriff, die sogenannte bariatrische bzw. metabolische Chirurgie, die einzige dauerhaft wirksame Therapie der Adipositas bzw. der Folgeerkrankungen (T2DM und nicht alkoholische Fettleberkrankung) mit gesichertem günstigem Effekt auf Morbidität und Mortalität. Auch wenn mit zunehmenden Studiendaten schon länger eine immer großzügigere, d.h. frühere Indikation zur operativen Therapie bei Adipositas und T2DM diskutiert wird, bleiben die Herausforderungen der Irreversibilität des Eingriffs und die Sicherstellung (und Finanzierung) der quoad vitam unverzichtbaren kompetenten Langzeit-Nachsorge/Betreuung der Patienten.
Mit einer Pharmakotherapie konnte hingegen über viele Jahre nicht annähernd eine vergleichbare Gewichtsreduktion erzielt werden. Ein Perspektivwechsel hat sich erstmals mit dem Einsatz der GLP-1-(Glukagon-like Peptid-1) Agonisten (initial Liraglutid, nachfolgend Dulaglutid und Semaglutid) angedeutet.
Diese wurden für die Behandlung des T2DM zugelassen und zeigten auch günstige Effekt auf das Körpergewicht bei erstmals geringen und tolerierbaren Nebenwirkungen. Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und Adipositas wurde z.B. unter Semaglutid eine Senkung des Körpergewichts um im Mittel 6,2 Prozent erreicht [Wilding 2021], bei Patienten mit Adipositas ohne Typ-2-Diabetes um bis zu 12,4 Prozent [Davies 2021], wobei im letzteren Fall höhere Dosen zur Anwendung kamen. Semaglutid hat in den vergangenen Monaten auch in der Boulevardpresse für großes Aufsehen gesorgt, nachdem zahlreichen US-amerikanische Prominente die Medikation öffentlichkeitswirksam zur "off label" Gewichtsoptimierung propagierten und inzwischen Engpässe in der Herstellung und Versorgungslücken für Patienten mit T2 DM drohen.
Ungeachtet dessen ist Semaglutid als "Wegovy" seit Juli 2023 auch in Deutschland zur medikamentösen Therapie der Adipositas verfügbar und wird einschleichend in Dosen von bis zu 2,4 mg pro Woche eingesetzt.
Weiterentwicklung durch Duale- und Triple-Agonisten
Ein weiterer Paradigmenwechsel in der medikamentösen Adipositastherapie wurde im Sommer 2022 mit der Publikation der Studienergebnisse zum Wirkstoff Tirzepatid im New England Journal eingeleitet: über 20 Prozent lässt sich das Körpergewicht damit senken, und zwar bei Adipösen auch ohne T2DM. Bei Tirzepatid handelt es sich um einen dualen Agonisten, der an den Rezeptoren von von gleich zwei für Sättigung und Energiestoffwechsel relevanten Hormonen GIP (Glucose-dependent Insulinotropic Polypeptid) und GLP-1 bindet. In den Phase-3-SURPASS-Studien bei T2DM zeigte Tirzepatid eine deutlich stärkere Senkung des HbA1c, unter anderem im Vergleich zur Behandlung mit Semaglutid (1 mg). In Abhängigkeit von der Tirzepatid Dosis (5, 10, oder 15 mg) zeigten die Studienteilnehmer zudem innerhalb der 40- bis 52-wöchigen Behandlung eine Placebo-korrigierte Reduktion des Körpergewichtes von sieben bis 14,5 Prozent [u.a. Del Prato 2021]. In der Phase-3-SURMOUNT-1 Studie wurden Patienten mit Adipositas ohne Typ-2-Diabetes über 72 Wochen behandelt. Hier zeigte sich dosisabhängig ein Placebo-korrigierter Gewichtsverlust von im Mittel 17,8 Prozent [Jastreboff 2022].
Ähnlich wie bei den GLP-1 Agonisten traten auch bei Tirzepatid Dosis-abhängig gastrointestinalen Nebenwirkungen auf. Dazu zählten Übelkeit, Erbrechen und Durchfall bei einem Fünftel der Patienten, die aber zumeist bereits nach der initialen Dosis-eskalierenden Behandlungszeit nicht mehr zu beobachten waren. Damit ist der Schluss zulässig, dass Tirzepatid bei vergleichbarem Sicherheitsprofil das Körpergewicht deutlich stärker als die reinen GLP-1-Agonisten senkt.
Von der Grundlagenwissenschaft zum Nutzen für Patienten
Die Entwicklung der neuen Inkretin-basierten Hormontherapien ist zweifelsohne ein Paradebeispiel für die Wichtigkeit von Grundlagenforschung und deren erfolgreichen Transfer in die Krankenversorgung – in diesem Fall der Erforschung der molekularen Mechanismen der Energiehomöostase und der Wirkung von (Darm-)Hormonen hin zur Medikamentenentwicklung.
Als wesentliche physiologische Funktion des Peptids GLP-1 wurden zunächst die glukoregulatorischen Eigenschaften angesehen, die darin bestehen, die Insulinsekretion in Abhängigkeit vom Blutzucker zu stimulieren und die Glukagon-Sekretion zu inhibieren. Daneben steigert GLP-1 die Motilität des Darms, verzögert die Glukoseaufnahme und hat kardio- und neuroprotektive Effekte. Vor allem durch die ZNS-Wirkung scheint ein verstärktes Sättigungsgefühl und verminderte Nahrungsaufnahme vermittelt zu sein und dadurch auch die Reduktion des Körpergewichts. Das machte GLP-1 frühzeitig auch für die Adipositas-Therapie interessant [Müller 2019]. Zunächst jedoch fokussierte man sich auf die biochemische Optimierung der Inkretinmimetika für den Einsatz als Antidiabetika – vom täglich zu applizierendem Wirkstoff hin zum oralen Medikament. Die modernen langwirksamen GLP-1-Rezeptor-Agonisten erwiesen sich im Hinblick auf die Gewichtsreduktion als wirksamer und zeigten potenziell weniger gastrointestinale Nebenwirkungen [Meier 2021]. Und so wurde 2015 mit Liraglutid der erste GLP-1-Rezeptor-Agonist für die Behandlung der Adipositas in der EU zugelassen.
Es folgten weitere pharmakologische Modifikationen. Parallel dazu lief die Entwicklung des ersten dualen Agonisten, der die metabolischen Effekte von GLP-1 und GIP in einem einzigen hochwirksamen Molekül bündelte und schließlich des ersten Triple-Agonisten, Retatrutide, der zeitgleich an den Rezeptoren für GLP-1, GIP und Glukagon wirkt. Im August 2023 wurden die Daten der ersten Phase II-Studie ebenfalls im New England Journal of Medicine publiziert. Bei Patienten mit Adipositas (BMI > 30) bzw. Übergewicht (BMI 27-30) und ≥ 1 Komorbidität kam es unter Retatrutide (12 mg als Maximaldosis) nach 48 Wochen zu einer Gewichtsabnahme von im Mittel -24 %. Anfang September 2023 wurden auch die ersten Studiendaten zur Wirksamkeit des ersten oralen GLP-1-Rezeptor-Agonisten Orforglipron veröffentlicht. Dieser zeigte bei komfortabler Darreichungsform (1 Tabelle pro Tag) eine moderate Gewichtsreduktion. Die neuen Studien unterstreichen eindrucksvoll die Dynamik in der pharmakologischen Weiterentwicklung des Gebietes.
Kritische Einordung im Hinblick auf die Anwendung
Bei allem angebrachtem Optimismus: So erfreulich diese Neuerungen aus Sicht der Forschung und Therapie auch zu bewerten sind, weil sich eine Behandlungsoption abzeichnet, die sich zum echten "Game-Changer" entwickeln könnte, so deutlich muss auch angesprochen werden, dass noch viele Fragen zu klären sind.
Als erster dualer Agonist ist Tirzepatid in den USA seit Mai 2022 zur Therapie des T2DM zugelassen. Die EMA erteilte im Herbst 2022 die Zulassung zur Behandlung des Typ-2-Diabetes, seit November 2023 ist Tirzepatid in Deutschland verfügbar. Wann eine Zulassung zur Adipositas-Therapie bei uns erfolgt, ist noch völlig offen, ebenso auch die Frage der Kostenübernahme.
Ferner sind die Therapien wirklich neu und Langzeitdaten fehlen. Jenseits der Zulassungsstudien muss sich zeigen, ob durch pharmakologische Maßnahmen tatsächlich der wachsenden Diabetes- und Adipositas-Prävalenz entgegengewirkt werden kann und ob nicht doch bei breiter Anwendung Nebenwirkungen resultieren, die den Einsatz medizinisch limitieren.
Zu betonen ist außerdem, dass die pharmakologische Behandlung im Gegensatz zur einzeitigen, wenn auch irreversiblen, bariatrischen/metabolischen Chirurgie eine Dauertherapie darstellt und nach dem Absetzen der Medikation wird erwartbar und wie in einer aktuellen Studie zu Tirzepatid auch belegt wurde, der Effekt schwinden, sofern nicht durch andere Faktoren das Körpergewicht gehalten wird. Damit einhergehend ergeben sich weitere Fragen: Angefangen von der ausreichenden Verfügbarkeit bis hin zur Thematik der (dauerhaften) Finanzierung. Hier stehen wir noch ganz am Anfang der Problemlösung der chronischen Volkskrankheit Adipositas.
Was aber bleibt und revolutionär ist: Wir haben erstmals eine Perspektive für eine medikamentöse Therapie, die physiologische Mechanismen der Energieregulation nutzt und damit wirklich den Aufbruch in eine neue Ära der Adipositasbehandlung darstellen kann.
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Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2024; 33 (1) Seite 8-10