Glukosesensoren haben das Diabetes-Management revolutioniert. Ihr potenzieller Nutzerkreis geht jedoch weit über Menschen mit Insulintherapie hinaus, findet Diabetes-Forum-Chefredakteuer Bernd Liesenfeld. Auch er als stoffwechselgesunder Mensch hat bereits den Selbstversuch gewagt und ist überrascht, welche Ausschläge im Glukoseverlauf sein „vermeintlich gesunder Lebensstil so mit sich brachte“.

Sie haben sicher auch schon einmal, aus reiner Neugier, einen dieser neuen Glukosesensoren (rtCGM – real time Continuous Glucose Monitoring) getragen? Bestimmt konnten Sie, auch ohne vom Diabetes betroffen zu sein, der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick in Ihren Stoffwechsel zu wagen. Ich jedenfalls bin der Neugier erlegen und war im "Selbstversuch" überrascht über die Ausschläge in beide Richtungen, welche mein vermeintlich gesunder Lebensstil so mit sich brachte. Eine aktuelle Studie des Ulmer Instituts für Diabetestechnologie zeigt sehr variable postprandiale Spitzenwerte bis zu 180 mg/dl bei Menschen ohne Diabetes je nach Zusammensetzung der aktuellen und vorausgehenden Mahlzeiten (Freckmann et al, 2023). Die Nüchternwerte insgesamt dagegen variierten sehr wenig und unterschritten selten 80 mg/dl. Unsere bisherige Vorstellung vom "Normbereich" zwischen 80-140 mg/dl muss sicher revidiert werden, die Übergänge zu Vorstufen des Diabetes sind fließend. Bisherige Definitionen von GDM, IGT oder IGF werden Anpassungen erfahren. Aktuelle Studien zum Gestationsdiabetes legen dies bereits nahe und sorgen für Entspannung bei den bislang sehr ambitionierten Glukosezielen.

Es lässt sich nur erahnen wie viele Fragen sich unsere Patienten bei der Betrachtung dieser Grafiken und Daten stellen. Zweifelsohne hilft es in den meisten Fällen. Einige wenige Menschen jedoch fühlen sich durch die Alarmfunktion chronisch gestresst. Die Studienlage zum Nutzen dieser Technik ist mittlerweile erdrückend und geht weit über die Menschen mit Insulintherapie hinaus. Allerdings nicht bei den Krankenkassen und den Medizinischen Diensten, die in einer Art verzweifeltem Rückzugsgefecht die Verordner und Patienten mit Bergen von Bürokratie überziehen. Sie hoffen darauf, dass wir entnervt aufgeben und die Kosten damit niedrig bleiben. Wie erfrischend aus anderen westlichen Ländern wie den USA zu hören, dass dort jedwede Form der Insulintherapie zu einem Anspruch auf ein CGM führt. Auch Menschen mit nachgewiesen Level-2-Hypoglykämien (< 54 mg/dl) gehören zum Kreis der Anspruchsberechtigten.

Die klinische Erfahrung zeigt, dass auch Menschen mit rein diätetischer Therapie ihre Ernährung- und Bewegungsmuster mit Hilfe der kleinen Sensoren verbessern, obwohl Langzeitstudien hierzu noch ausstehen. Der potentielle Nutzerkreis geht aber weit darüber hinaus. Zur Unterstützung diätetischer Maßnahmen kann der sichtbare Glukoseverlauf eine effektive Verhaltenstherapie ohne Anwesenheit eines Psychologen sein. Denn in Zeiten der immer weiter fortschreitenden Selbstvermessung des Körpers und seiner Funktionen kann die Auswirkung eines niedrigen glykämischen Indexes, oder einer körperlichen Anstrengung unmittelbar sichtbar gemacht und zur Stärkung der intrinsischen Motivation genutzt werden. Einige Start-up´s haben das Marktpotential der "Gesunden" bereits entdeckt und sensorunterstütze App´s mit Ernährungscoaching und Fitnesstracking auf den Markt gebracht. Die Nachhaltigkeit dieses Ansatzes wird sich für diese Gruppen aber erst erweisen müssen.

Eine interessante Anwendung erschließt dieser Ansatz aber bei der Therapie der Migräne. Im Zentrum für Gehirn, Verhalten und Stoffwechsel (CBBM) der Universität Lübeck fiel auf, dass einer Migräneattacke über 24 Stunden sowohl Heißhunger als auch signifikant messbar abfallende Blutzuckerwerte vorausgehen. Es ist seit längerem bekannt, dass der Gukosebedarf des Gehirns im Vorfeld eines Migräneanfalls deutlich erhöht ist. Die Wissenschaftler machen die starken Schwankungen der Glukoseverläufe, insbesondere nach postprandialen Spitzen, für das Auftreten von Glukosemangelzuständen im Vorfeld einer Attacke als mutmaßlichen Trigger mitverantwortlich. Erste Interventionsstudien mit Anpassung der Ernährung auf der Basis des glykämischen Indexes unter Kontrolle mit CGM halfen ebenso gut, Migräneattacken zu reduzieren wie die teilweise sehr teuren neuen Prophylaxemedikamente (GCRP-Antagonisten). Die DiGA für Patienten mit Migräne wurde vorläufig in die Liste des BfArM aufgenommen.

Glukosesensoren sind eine sinnvolle Erweiterung des therapeutischen Werkzeugkastens. Welche Anwendungen bleiben, wird sich erweisen. Im Kontext der zunehmenden Adipositasprävalenz entsteht hier weiterer intensiver Beratungsbedarf für Praxen und Kliniken, sowie für freiberufliche Ernährungs- und Präventionsberater. Nicht zu unterschätzen sind mögliche psychosomatische Störungen von Nutzern durch die Alarmfunktionen. Die noch unzureichenden Kenntnisse der Messgenauigkeit der Systeme bei "Gesunden" ist eine weitere Unbekannte.

Mein CGM zeigte mir jedenfalls im Durchschnitt zu hohe Werte an. Muss ich mir jetzt Sorgen machen?


Autor:
Dr. Bernd Liesenfeld
Facharzt für Innere Medizin, Nephrologie, Diabetologie, Angiologie
Oberarzt
Abteilung Innere Medizin II

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (7/8) Seite 5