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Dr. Bernd Liesenfeld
Chefredakteur

Die Adipositas-Epidemie ist besiegt. Der diesjährige amerikanische Diabeteskongress in San Diego stand ganz im Zeichen einer Welle von neuen Studien und Erkenntnissen zur Behandlung des für den Typ-2-Diabetes so zentralen Themas der Behandlung der Adipositas. Nach Jahrzehnten der Versuche über Aufklärung, Destigmatisierung und Schulung die Welle des Tsunamis der Übergewichtigkeit zu brechen, hat uns die pharmazeutische Industrie mal wieder ein Schnäppchen geschlagen. Es wurde auf dem Kongress sozusagen die griechische Tragödie "Die Polyagonisten" gegeben, welche dem seinem adipösen Schicksal ausgelieferten Erdbewohner am Ende Hoffnung bescheren soll. Eine ansehnliche Anzahl neuer Präparate wurde vorgestellt, die mittlerweile bekannten GLP-1-Agonisten wurden zu Doppel- oder Triple-Agonisten, mit Wirkung auf GlP- und Glukagon-Rezeptoren, erweitert. Weitere Kombipräparate mit anderen, weniger bekannten Darmhormonen, deren Wirkung auf das zentrale Nervensystem zielt, sind bereits in Entwicklung.

Die Effektivität dieser Medikamente reicht bis zu einem durchschnittlichen (!) Gewichtsverlust von 25%. Jeder hat da gleich den einen oder anderen Patienten vor Augen, der dieses Heilsversprechen gerne annehmen würde.

Die globalen Pharmagrößen Novo Nordisk und Eli Lilly bringen sich derzeit in Position, um ihre gut vorbereiteten Märkte zu versorgen. Seit Juli ist hierzulande die hochdosierte Form des Semaglutid von Novo verfügbar und damit nur wenige Wochen vor Einführung des Tirzepatid des Marktrivalen Lilly. Der Wettbewerb um Anteile hat begonnen.

Jedoch ein paar dunkle Wolken ziehen auf, da die Europäische Zulassungsbehörde für Arzneimittel (EMA) just eine Überprüfung dreier aus Island gemeldeter Fälle von suizidalen Gedanken unter hochdosierten GLP-1-Therapien mit Novo Präparaten, eingeleitet hat. Zufall? Der Aktienkurs der Firma Novo fiel daraufhin prompt. Die Nachricht kommt zur Unzeit, da die EMA seit wenigen Wochen Warnsignalen bezüglich Fällen von Schilddrüsenkarzinomen unter GLP-1-Therapie des Herstellers nachgeht. Ob die Untersuchungen auf weitere, ähnliche Produkte anderer Hersteller ausgeweitet werden, ist aktuell noch unklar. In den USA findet sich in der Fachinfo der Hinweis, auf suizidale Gedanken unter Therapie zu achten. In Deutschland fehlt dies. Bei den Zulassungsstudien waren Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen ausgeschlossen worden.

2008 nahm Sanofi ein anderes, vielversprechendes Präparat zur Therapie der Adipositas (Rimonabant) vom Markt, da es Anzeichen für eine erhöhte Szuizidgefahr gab. Ein weiteres, in den USA verfügbares Abnehmpräparat (Bupropion/Naltrexon), ist ebenfalls mit Warnhinweisen zu negativen Gedanken versehen. Aus der bariatrischen Chirurgie ist bekannt, dass Suizide bei jüngeren Menschen postoperativ gehäuft vorkamen und daher bei jeder Planung einer OP, eine eingehende psychologische Exploration erfolgen muss.

Wer wird von den neuen Medikamenten profitieren? Werden wir uns weiterhin alleine am umstrittenen BMI orientieren, um weitreichende therapeutische Maßnahmen mit Nutzen und Risiken einzuleiten? Langzeitstudien zur Mortalität bei Adipositas in der Allgemeinbevölkerung stellen eine kausale Verbindung von Übergewicht und Mortalität, unterhalb eines BMI von 30, und bei Älteren unter 34, in Frage (Setoguchi et al, PLOS One, 2023). Vielmehr werden andere personalisierte Marker wie der Gewichtsverlauf, der Ethnie, der Fettverteilung (Bauchumfang oder Taille-Hüft-Verhältnis), des Stoffwechsels (Resistenz), der Komorbidität und der Psyche (Leidensdruck) diejenigen herausfiltern und identifizieren, welche negative Konsequenzen wie kardiovaskuläre Erkrankungen, Tumoren und psychische Erkrankungen der Adipositas befürchten müssen. Einfache standardisierte Verfahren wie die Bioelektrische Impedanzanalysen (BIA) in der Hauswaage können hier das Screening unterstützen.

Die größte amerikanische Ärzteorganisation, die AMA, hat im Juni die alleinige Diagnose des therapiebdürftigen Übergewichts an Hand des BMI als nicht mehr zeitgemäß eingestuft und fordert eine differenziertere Betrachtung des Problems. Wir werden sehr viel genauer hinsehen müssen. Insbesondere weil der OFF-Label Gebrauch der neuen Medikamente stetig zunimmt und damit auch Ärzte in den Fokus der Kontrollorgane rücken werden.

Das Ende des BMI ist vielleicht der Anfang einer differenzierteren Therapie der Adipositas mit neuen Werkzeugen.


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (9) Seite 5