Ich gebe es zu. Ich bin kein glühender Befürworter des Diabetespasses. Das kleine Heftchen und seine oft gähnend leeren Kästchen lassen mich des Öfteren an seiner Funktion zweifeln. Ratlos trage ich mal hier, mal da ein Schnipsel des Diabetespuzzles ein. Menschen mit Diabetes mit ausreichender Achtsamkeit für ihre chronische Erkrankung benötigen ihn kaum, bei der Gruppe der Unbelehrbaren dokumentiert es lediglich ein fortgesetztes Drama. Dazwischen gibt es einen großen Graubereich. Für manche scheint der regelmäßige Eintrag beim Arzt geradezu sakralen Charakter zu haben: eine Art Ablassstempel. Belastbare Evaluationen zur verbesserten Kommunikation zwischen diabetologischen Praxen und Hausärzten fehlen. Der elektronisch erfassbare DMP-Bogen konkurriert hier um die Datenhoheit im Netzwerk der Behandler mit dem althergebrachten Papierformat. In manchen Praxen ersetzt er bereits den Pass. In Kliniken findet der Pass interessanterweise gar keine Beachtung.

Der Mutterpass hatte da in der Diabetologie einen besseren Start. Bei vielen Projekten zum aufkommenden Gestationsdiabetes Ende der 1990er Jahre war er das zentrale Kommunikationselement zwischen den beteiligten Professionen. Ich vergaß aber schon mal das Kreuz auf Seite 5 zur Kennzeichnung des Diabetes, Sie auch? Mittlerweile findet sich immer häufiger auf der anschaulichen Seite der Perzentilen für Kindesgröße und Bauchumfang nur ein leeres Raster. Gerne wird aber ein putziges Ultraschallbild vom Fötus mit jeder Menge Zahlenmaterial des Bildschirms beigelegt. Der Hinweis der Schwangeren, dort sei "alles dokumentiert", unterstreicht jeweils nur unsere beidseitige Ratlosigkeit. Wie sollen wir die Therapie vernünftig steuern, wenn wir diese essentielle Information nicht dokumentiert vorfinden? Noch ein zusätzliches Einlegeblatt für dieses strapazierte Dokument anlegen? Offenbar ist der Zeitmangel in den gynäkologischen Praxen auch nicht geringer als bei uns, oder sie überschätzen ihre Kolleg:innen der Stoffwechselmedizin maßlos. Beides wäre nicht gut.

Zum 1. Januar 2025 wird die elektronische Patientenakte (ePA) den Wettbewerb für sich entscheiden und den Abgesang der Pässe und Bögen einleiten, da ab diesem Datum alle Versicherten und Behandler dieses universell zugängliche Format befüllen können. Vorausgesetzt sie kommt.

Ein anderer Pass mit potentiell lebensrettender Wirkung fristet demgegenüber ein Schattendasein in der Republik: der Impfpass. Wann haben Sie in ihrer Funktion als Diabetolog:in oder Diabetesberater:in im Patientengespräch zuletzt nach dem Dokument verlangt oder sich zumindest nach dem Impfstatus der Grippeimpfung erkundigt? Menschen mit Diabetes profitieren überdurchschnittlich von den saisonalen (Influenza) und ganzjährigen Impfangeboten. Wie wir heute wissen waren Menschen mit Diabetes in der Pandemie bei frischer Coronainfektion deutlich häufiger von schweren Verläufen und Tod betroffen. Die Impfung gegen den Erreger der Lungenentzündung (Pneumokokkenimpfung) hat alleine in der Pandemie das Risiko von Hospitalisierung oder Tod durch Covid jeweils um über 30% gesenkt. Aber nur ca. 25% der Risikogruppe (> 60 Jahre und/oder chronische Erkrankung, z.B. Diabetes) hatte diese Impfung, die auch mit der Covid- und/oder Influenzaimpfung simultan verabreicht werden kann. Insbesondere unsere älteren Menschen mit Diabetes sind aber von der klassischen Lungenentzündung ebenso bedroht: 47% aller Fälle werden stationär aufgenommen, 13% versterben daran.

Ein anderer Wegbereiter der Lungenentzündung trifft alljährlich auf unsere vulnerable Klientel: die Influenzaviren. Aber weniger als 40% der über 60-Jährigen oder chronisch Erkrankten bekommen jedes Jahr den Grippeschutzimpfschutz. Hierbei gibt es deutliches Ost-West und Nord-Süd-Gefälle. In Mecklenburg-Vorpommern ist die Impfbereitschaft der Risikogruppen für Influenza deutlich höher (> 50%) als in Baden-Württemberg (< 30%) – Corona zum Trotz.

Nicht zu vergessen ist auch der Einschluss der engsten Kontaktpersonen unserer Patienten in Impfprogramme, sofern es sich um besonders gefährdete Menschen handelt. Der seit kurzem verfügbare und vom RKI empfohlene Hochdosisimpfstoff für Menschen über 60 Jahre wird die Wirksamkeit der Maßnahmen noch weiter steigern.

In der sprechenden Medizin sollten wir unseren Zugang zu Menschen mit Diabetes nutzen um das Thema Impfung anzusprechen und zu überprüfen. Wie? Im angestaubten DMP Bogen wurden zum dritten Quartal 2023 u.a. überflüssige Felder wie "Betablocker" oder "Thiaziddiuretika" endlich gestrichen. Jetzt ist Platz für den Impfstatus. Einfacher kann man Leib und Leben kaum schützen.


Autor:
© privat
Dr. Bernd Liesenfeld
Chefredakteur


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (11) Seite 5