Autor:
© privat
Dr. Bernd Liesenfeld
Chefredakteur

Der britische Kardiologe John Hay formulierte es 1930 so: "Die größte Gefahr für einen Menschen mit Bluthochdruck liegt in der Entdeckung desselben, weil dann irgendein Dummkopf versuchen wird, diesen zu senken." Nun, damals traten Schlaganfälle durchschnittlich im Alter von 50 Jahren auf und die Hinterbliebenen trösteten sich mit der Gewissheit, dass der Verblichene ein schönes Leben hatte. Dem amerikanischen Präsidenten Roosevelt hätte wahrscheinlich der vorzeitige tödliche Schlaganfall 1945 erspart werden können, wenn seine Ärzte den stetig über 200 mmHg steigenden Blutdruck nicht ausschließlich mit Massagen und Barbituraten behandelt hätten. Der Entdecker der Mikroalbuminurie, CE Mogensen, wurde noch in den 80er Jahren heftig dafür kritisiert, dass er zum Schutz der Nieren bei diabetischer Nierenerkrankung eine Senkung des Blutdrucks vorschlug. Das langlebige medizinische Dogma des hohen Blutdrucks als notwendiges Mittel zur Sicherstellung der Durchblutung aller Organe hatte sich bis in unsere Tage als Faustregel "100 plus Alter" zur Beurteilung der Systole gehalten.

Diese Sichtweise gilt mittlerweile, Gott sei Dank, als obsolet. Seit der Jahrtausendwende sind die empfohlenen oberen Grenzwerte des Blutdrucks im stetigen Sinkflug. Den Höhepunkt erreichte diese Entwicklung mit der SPRINT Studie 2017, die 130/80 mmHg zur neuen Grenzlinie erkor und den Kreis der Bedürftigen damit erheblich vergrößerte. Im Wettbewerb der Ehrgeizigen legten die Nierenärzte mit der KDIGO-Leitline 2021 nach: < 120 für Nierenkranke sollten es schon sein. Koste es was es wolle. Seitdem tun wir unser Bestes, die Patienten bis zur Verträglichkeitsgrenze mit kombinierten Blutdruckwaffen in unsere Zielkorridore einzureihen.

Umso mehr reibt sich der Betrachter verwundert die Augen, wenn er die Neufassung der europäischen Leitlinie namhafter Fachgesellschaften liest, die bestimmte Zielwerte erstmals wieder nach oben setzt. Hier wird endlich das Alter als wesentlicher Faktor einer differenzierten Therapie herangezogen, d.h .die Hochbetagten sollten eher im Bereich 140-150 eingestellt werden, die 65-79 jährigen <140 und nur die Jüngeren < 130/80 mmHg, von Ausnahmen abgesehen.

Die Häufigkeit von Nebenwirkungen der Blutdrucksenkung in Form von orthostatischen Hypotonien, Stürzen, dementiellen Entwicklungen oder kognitiven Defiziten bei älteren Menschen hat sicher zu dieser Anpassung beigetragen und verdient Beachtung ohne in therapeutischen Nihilismus zu verfallen. Auch die Feststellung, dass die häusliche Messung regelmäßig niedrigere Werte anzeigt als die Praxismessung, hatte methodische Mängel der den Leitlinien zu Grunde liegenden Studien aufgedeckt und die Bedeutung der Selbstmessung unterstrichen. Dennoch können bei guter Verträglichkeit und hohem Risikopotential (Nieren- und Herzerkrankungen) im Einzelfall auch bei Älteren niedrigere Ziele verfolgt werden. Der Grenzwert < 120/80 wird aber auch von Nephrologen nicht mehr als ausdrückliches Ziel empfohlen.

Eine ähnliche historische Entwicklung können wir aktuell auf einem ganz anderen Gebiet feststellen, welches eng mit eine anhaltende "Grenzwerteritis" erlebt: dem Gestationsdiabetes. Hier wurden schrittweise über Jahre die Grenzwerte durch Studien abgesenkt
(HAPO) und ein früheres Screening für Risikogruppen gefordert. Die verschiedenen Fachgesellschaften und Ihre Kommissionen schienen auch hier in einer Art Wettlauf um die unterste Schwelle zu stehen. Dies hatte eine erhebliche Ausweitung der Anzahl von Frauen zu Folge, die mit einer "Krankheit" therapiert werden mussten. Je nach Definition des Gestationsdiabetes waren doppelt soviel Frauen von dieser einschneidenden Diagnose betroffen. Auch hier haben wir diese Empfehlungen in unseren Praxen willig umgesetzt.

Zwei aktuelle Studien erschüttern dieses Weltbild. So zeigte ein frühzeitiges Screening mittels 75g-OGTT zwischen der 4ten und 19ten Schwangerschaftswoche, bei deutlich übergewichtigen Frauen, keine relevanten Vorteile für Mutter und Kind (TOBOGM Studie, 2023). Eine weitere Untersuchung (GEMS, 2022) ergab für verschieden hohe OGTT-Grenzwerte (99/-/163 versus 92/180/153 mg/dl) ebenso keine Unterschiede, aber mehr Hypoglykämien der Neugeborenen in der Gruppe der niedrigen Therapieschwelle. In beiden Studien wurden aber in den intensivierten Therapiearmen naturgemäß wesentlich mehr Frauen medikamentös und diätetisch behandelt.

Das Prinzip "Je niedriger desto besser" findet in der Natur nicht immer Anwendung. Für die Therapie des Gestationsdiabetes wie des Bluthochdrucks ist jeder gut beraten, der sich immer wieder vor Augen führt, was unser Bemühen sein sollte: Vor allem achte darauf, niemandem zu schaden.


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (10) Seite 5