Eine aktuelle Lancet-Studie geht von einer weltweiten Verdoppelung der Fälle von Typ-1-Diabetes bis 2040 aus. Für die DDG ist das ein „Warnschuss für nationale Gesundheitssysteme“ – und in Deutschland steht man ohne kugelsichere Weste da, wenn man im Bild bleiben will.

Seit Jahren kennt man die Warnung vor dem "Diabetes-Tsunami", der riesigen Welle an Fällen von Typ-2-Diabetes. Der Diabetes Atlas der International Diabetes Federation (IDF) dient alle zwei Jahre als Pegelstandsanzeiger dieser Flutwelle, er errechnet die aktuellen und auch die für die mittelfristige Zukunft prognostizierten Diabetesprävalenzen weltweit und regional. In der ersten Auflage 2000 kam der Diabetes Atlas auf 151 Millionen Menschen mit Diabetes weltweit, in der zweiten Auflage 2003 waren es schon 194 Millionen. In dieser Ausgabe wurde erstmals in die Zukunft geschaut und für das Jahr 2025 weltweit 333 Millionen Menschen mit Diabetes vorausgesagt. In der aktuellen zehnten Auflage, die 2021 veröffentlicht wurde, sind für die aktuelle Prävalenz schon 537 Millionen Menschen mit Diabetes genannt und 643 Millionen als Prognose für das Jahr 2030 sowie 783 Millionen für das Jahr 2045. In gut 20 Jahren ist die Zahl der Menschen mit Diabetes laut IDF-Atlas also auf das 3,5-fache gestiegen, während die Weltbevölkerung "nur" auf das 1,3-fache gewachsen ist.

Die IDF-Zahlen beziehen sich dabei stets auf die erwachsene Bevölkerung und unterscheiden nicht nach Diabetestyp. Der erste IDF-Atlas ging näher auf die Prävalenzen beider Typen ein und sah in den damals erhobenen Daten die Einschätzung bestätigt, dass in den Industrieländern 85 bis 95 Prozent der Menschen mit Diabetes an Typ 2 erkrankt sind, in Entwicklungsländern läge der Anteil sogar noch höher, so die Autoren. Die Ursachen hierfür benannten die Autoren gnadenlos klar: Viele Menschen sterben in Entwicklungsländern, noch bevor überhaupt die Diagnose Typ-1-Diabetes gestellt werden kann oder sie sterben bald nach der Diagnose wegen unzureichendem Zugang zur Behandlung.

Schon von der ersten Auflage an erwähnte der IDF Diabetes Atlas auch speziell die ansteigende Inzidenz von Diabetes bei Kindern, und zwar sowohl bei Typ-1- und bei Typ-2-Diabetes, wobei letzteres auch Anfang des Jahrtausends ein noch relativ neues, aber nicht unbekanntes Phänomen war. Ausgabe um Ausgabe zitiert das Zahlenwerk seit 2003, dass die Inzidenz des Typ-1-Diabetes global um drei Prozent pro Jahr wachse, mit Hinweis auf eine starke geografische Streuung.

Aktuellere und präzisere Prävalenzdaten zu Typ-1-Diabetes

Eine aktuell von Gabriel Gregory und Kollegen in Lancet Diabetes&Endocrinology publizierte Studie hat nun neues Datenmaterial geliefert. Sie prognostiziert, dass sich die Erkrankungszahlen für Typ-1-Diabetes bis 2040 weltweit von etwa 8,4 Millionen auf bis zu 17,4 Millionen verdoppeln könnten. Die Studie gibt 201 Ländern konkrete Zahlen zu ihrer derzeitigen nationalen Diabetes-Lage an die Hand, die sie mittels einer Modellrechnung mit Hilfe eines Markov-Modells ermittelt haben. Grundlage ware unter anderem Daten zur Inzidenz des Typ-1-Diabetes aus 97 Ländern und Daten zur Mortalität bei Typ-1-Diabetes aus 37 Ländern. Die Wissenschaftler haben Fallzahlen, Neuerkrankungen und die Sterblichkeitsrate errechnet. Sie geben auch Nationen, die bislang über keine Diabetes-Daten verfügen, Informationen an die Hand, um sich ein Bild der eigenen Lage verschaffen. Möglich gemacht hat das die Entwicklung des sogenannten Type 1 Diabetes Index (T1D Index) durch eine gemeinsame Initiative der Organisationen Juvenile Diabetes Research Foundation (JDRF), IDF, Life for a Child und International Society for Pediatric and Adolescent Diabetes (ISPAD). Dieser Index erlaubt nach Darstellung der Autoren gleichzeitig aktuellere und genauere Schätzdaten, und zwar nicht nur für alle Ländern, sondern auch für alle Altersgruppen.

"Die Studienergebnisse sind auch für Deutschland relevant", betont Prof. Dr. med. Andreas Neu, Präsident der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). "Sie zeigen, dass hierzulande inzwischen über 422 000 Menschen leben, die einen Diabetes Typ 1 haben, und verrät Interessantes über die Altersstruktur: Wie auch in anderen Ländern ist inzwischen eine deutliche Mehrheit der Betroffenen älter als 20 Jahre", erklärt der Tübinger Kinderdiabetologe. "Es scheint, dass immer mehr Menschen im Erwachsenenalter diese Diagnose erhalten", verweist Neu auf ein weiteres Ergebnis der Arbeit. 2021 erhielten nach diesen Zahlen weltweit 194 000 Kinder und Jugendliche die Diagnose Typ-1-Diabetes – und 316 000 Erwachsene!

Der IDF-Report "Type 1 diabetes estimates in children and adults", ebenfalls von Gregory und Kollegen, kommt auf Basis der gleichen Methodik auf leicht andere Prävalenz-Zahlen für Deutschland, er nennt insgesamt 431.313 Menschen mit Typ-1-Diabetes insgesamt, davon 40 390 unter 20 Jahre, 252 997 im Alter zwischen 20 und 59 Jahre und 138 120 im Alter von 60 und mehr Jahren.

Global sind nach diesen Daten von den Patienten mit Typ-1-Diabetes 1,52 Millionen oder 17 Prozent jünger als 20 Jahre, 5,56 Millionen (64 Prozent) sind zwischen 20 und 59 Jahren und 1,67 Millionen (19,9 Prozent) 60 Jahre oder älter.

Vorbildliche Kampagnen

Awareness- und Aufklärungskampagnen über die Anzeichen und Symptome von Typ-1-Diabetes waren erfolgreich darin, die Rate von diabetischen Ketoazidosen zum Zeitpunkt der Diagnose eines Typ-1-Diabetes in manchen Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen zu reduzieren, lobt die IDF in ihrem Report "Type 1 diabetes estimates in children and adults". Sie verweist sie dabei auf ein systematisches Review mit Metaanalyse von Valentino Cherubini et al., das unter anderem das Stuttgarter Modellprojekt zur DKA-Vermeidung einbezogen hat .

Der Erfolg dieser Initiativen deute darauf hin, dass ähnliche Kampagnen helfen könnten, die Todesfälle durch Nicht-Diagnose eines Typ-1-Diabetes in Ländern mit weniger Ressourcen zu reduzieren. Hierzu könnten, so der Vorschlag der Autoren, diese Initiativen weiterentwickelt werden, um nicht nur Ketoazidoseraten zu reduzieren, sondern auch die akkurate Diagnose von Typ-1-Diabetes bei klinischer Manifestation zu steigern.

In Mali war eine entsprechende Awarenesskampagne, die unter anderem Poster an Gesundheitseinrichtungen verteilt hat, mit einem steilen Ansteig der beobachteten Inzidenz des Typ-1-Diabetes assoziiert. Das TID-Index-Consortium will ähnliche Initiativen fördern.

Basis für gesundheitspolitisches Handeln

Die Lancet-Arbeit versteht sich explizit auch als Basis für gesundheitspolitisches Handeln in den einzelnen Ländern. Auch Deutschland solle dringend Konsequenzen aus den aktuellen Studienergebnissen ziehen, mahnt die DDG. Es müsse endlich deutlich mehr in die Diabetesversorgung sowie -prävention investiert werden. Seit Jahren weist die Fachgesellschaft darauf hin, dass die versteckte Diabetes-Pandemie dramatische Auswirkungen auf das deutsche Gesundheitssystem haben wird. Schon heute habe jeder fünfte Patient im Krankenhaus hierzulande Diabetes, genauer gesagt 18 Prozent aller stationär behandelten Patienten in Deutschland. Demgegenüber stehen immer weniger Betten in endokrinologischen/diabetologischen Fachabteilungen in den Krankenhäusern: Standen 2017 noch 913 Betten zur Verfügung, sank die Zahl 2019 auf 501, so die düstere Bilanz der Fachgesellschaft. Im Licht dieser Daten verweist die DDG auf ihre Forderungen zur aktuell diskutierten Reform des DRG-Systems. Die Fachgesellschaft hat die Vorschläge der Bundesregierung und der Regierungskommission zur Reform der Krankenhausversorgung begrüßt, die der zunehmenden Kommerzialisierung in der Medizin einen Riegel vorschieben will. Qualität vor Wirtschaftlichkeit sei eine Forderung, die die DDG schon lange erhebt. Zur Ausgestaltung der Reform hat die Fachgesellschaft im Dezember vier Forderungen aufgestellt:

  1. Alle Krankenhäuser in Deutschland brauchen eine versorgungsstufenadaptierte qualifizierte Diabetesexpertise!

  2. Versorgungsqualität muss sich lohnen! Krankenhäuser mit Diabetesbehandlungsstrukturen sollten finanzielle Zuschläge erhalten, Einrichtungen ohne diabetologische Expertise finanzielle Abschläge.

  3. Vulnerable Gruppen schützen! Kinder oder multimorbide ältere Patienten mit einem Diabetes brauchen besondere Pflege und zeitintensive ärztliche Betreuung. Das müsse im DRG-System kostendeckend abgebildet sein.

  4. Pflegeuntergrenzen auf den Prüfstand! Die Leistungen von Diabetesberatern und Diabetesassistenten müssten bei der Berechnung der Pflegeuntergrenzen in die Kalkulation mit einfließen.

In ihren Empfehlungen zur Nationalen Diabetesstrategie sorgt sich die DDG auch um die Sicherung der Versorgung von Menschen mit Diabetes und des diabetologischen Nachwuchses. Vieles davon ist auf Typ-2-Diabetes gemünzt, von manchen Forderungen profitiert aber auch der Typ-1-Diabetes: So setzt sich die Fachgesellschaft für den Erhalt und Ausbau der klinischen Lehrstühle und Behandlungskapazitäten im Bereich der Diabetologie und Endokrinologie an jeder medizinischen Fakultät ein. Sie fordert die Sicherung eigenständig geführter diabetologischer Fachabteilungen in jeder Klinik der Maximalversorgung. In den Curricula der Medizinstudierenden wünscht sich die DDG eine Erweiterung der Bereiche Diabetologie/Endokrinologie. Und, analog den Forderungen zur Klinikreform, brauche es allgemein eine bessere Abbildung der sogenannten sprechenden Medizin bzw. Diabetologie.

Verdoppelung bringt enorme Herausforderungen

Die Ergebnisse der Gregory-Arbeit seien ein Warnschuss für alle Länder, so die DDG: "Eine Verdoppelung der weltweiten Erkrankungsfälle stellt weltweite Gesundheitssysteme vor enorme Herausforderungen", kommentierte Neu. "Nicht nur beim Diabetes Typ 2, der häufig Folge eines ungünstigen Lebensstils ist, müssen wir mit enorm steigenden Zahlen rechnen. Die Autorinnen und Autoren zeigen in aller Deutlichkeit, dass auch bei der Autoimmunerkrankung Diabetes Typ 1 der Bedarf an diabetologischer Expertise und Versorgung weltweit ansteigen wird", mahnte er. Die Besonderheit der Studie sieht der Kinderdiabetologe darin, dass die die Autoren die Dringlichkeit politischen Handelns deutlich machen und mit ihrem Appell unmittelbar die politisch Verantwortlichen adressieren.

Weltweite Dramatik

Besonders dramatisch fällt die Bilanz für einkommensschwache Länder aus, die in der Regel über wenig Aufklärung und schlechte Versorgungsstrukturen verfügen. Nach Zahlen des aktuellen IDF-Berichts leben von den weltweit 8,75 Millionen Menschen mit Typ-1-Diabetes 1,9 Millionen und damit ein Fünftel in Ländern mit niedrigem oder niedrig-mittlerem Einkommen. "Erschreckend ist, dass seine Heimat darüber entscheidet, ob ein 10-jähriges Kind mit Typ-1-Diabetes 7 oder 70 Jahre mit seiner Erkrankung leben kann. Dies veranschaulicht einmal mehr, wie wesentlich der jeweilige Wohlstand eines Landes und die Infrastruktur des Gesundheitssystems mit zuverlässiger Diagnostik, Zugang zu Insulin und qualifiziertem Personal sind", betont Neu. Ist dies unzureichend gewährleistet, bedeutet eine Diabetesdiagnose den frühen Tod. So zeigt die Studie, dass 2021 weltweit schätzungsweise 35 000 Menschen unter 25 Jahren innerhalb eines Jahres nach Diagnose starben, weil ihr Diabetes nicht oder zu spät diagnostiziert wurde. 63 bis 70 Prozent der Todesfälle aufgrund von Typ-1-Diabetes bei Menschen unter 25 Jahren sind nach den neuen Daten Folge einer Nicht-Diagnose der Krankheit – und diese Todesfälle machen bis zu einem Fünftel der diabetesbedingten Todesfälle über alle Altersklassen aus. Die T1D-Index-Initiative plant, die detaillierten Zahlen zur Prävalenz des Typ-1-Diabetes für alle Länder im Zeitverlauf zu aktualisieren.


Autor:
Marcus Sefrin
Chefredaktion DiabetesNews
Schmiedestraße 54
21335 Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (3) Seite 6-8