Indikationen
Trotz sehr guter ambulanter Versorgungsstrukturen für Menschen mit Diabetes erreichen viele Patientinnen und Patienten keine zufriedenstellende Blutzuckereinstellung. Die Gründe hierfür sind oftmals vielfältig: Mangelnde Therapieadhärenz, beispielsweise aufgrund von Nebenwirkungen der blutzuckersenkenden Therapie, Folgeerkrankungen, welche die Mobilität einschränken und regelmäßige Arztbesuche unmöglich machen oder psychosomatische Faktoren, die das Diabetesmanagement im Alltag für die betroffenen Menschen erschweren. Viele Menschen mit Diabetes und begleitender Adipositas entwickeln eine starke Insulinresistenz, bei der trotz stetiger Erhöhung der Insulindosen keinerlei Verbesserung der Blutzuckerwerte erreicht werden kann. Dies führt bei den betroffenen Personen zu einer hohen Frustration und letztlich Resignation im Umgang mit der Diabetestherapie. Hier ist eine stationäre Diabetestherapie oft unumgänglich, wie sie z. B. im Diabetes-Zentrum Ruhrgebiet in den Augusta Kliniken in Bochum in besonderer Weise interdisziplinär verschränkt realisiert wird.
Weitere klassische Indikationen, die zu einer stationären Aufnahme von Menschen mit Diabetes in ein Diabetes-Zentrum führen, sind eine Erstmanifestation der Erkrankung, häufig begleitet von einer akut bedrohlichen Stoffwechselentgleisung, das Nichterreichen der vereinbarten Therapieziele über einen Zeitraum von 9 – 12 Monaten, rezidivierende Unterzuckerungen mit einer Hypoglykämiewahrnehmungsstörung sowie die Behandlung von diabetischen Folgeerkrankungen [Fritsche 2019]. Hier ist insbesondere die stationäre Behandlung des diabetischen Fußsyndroms zu nennen. In Anbetracht der Innovationen im Bereich der Diabetestechnologie werden darüber hinaus viele Menschen mit Diabetes zur Einleitung einer Insulinpumpentherapie mit automatischer Insulinzufuhr, sogenannte AID-Systeme (= automated insulin delivery systems), stationär behandelt.
Aber warum benötigt es eine auf Diabetes mellitus spezialisierte Abteilung beziehungsweise eine spezialisierte Diabetesklinik? Schließlich ist die Diabetologie Teil des allgemein-internistischen Repertoires. Im Gegensatz zu vielen anderen internistischen Fachabteilungen, geht es in der Diabetologie nicht allein um apparative oder medikamentöse Therapien. Die Diabetologie beinhaltet vielmehr die "sprechende Medizin" als zentrales Element und lebt nicht allein von ärztlicher Kompetenz, sondern vielmehr von der Zusammenarbeit eines multiprofessionellen Teams. Für eine funktionierende stationäre Diabetologie sind geschultes Pflegepersonal auf Stationsebene und engagierte Diabetesberater und -beraterinnen mit fundiertem Wissen ebenso entscheidend wie diabetologisch versierte Ärzte und Ärztinnen. In einem standardisierten Untersuchungsprogramm werden stationäre Patienten auf diabetische Folgeerkrankungen gescreent. Darüber hinaus sind etablierte Strukturen wie beispielsweise modulare Schulungen, spezialisierte Ernährungsinterventionen oder ein abgestimmtes Bewegungsprogramm notwendig, um Menschen mit Diabetes in der begrenzten Zeit des stationären Aufenthaltes eine bestmögliche Diabeteseinstellung zu ermöglichen.
Kompakte Behandlung wirkt nachhaltig
Von einer stationären Diabetestherapie profitiert jedoch nicht ausschließlich der Patient. Auch für den Kostenträger des stationären Aufenthaltes ergeben sich Vorteile: Über eine verbesserte Blutzuckereinstellung können Folgeerkrankungen in der Zukunft, aber auch kurzfristige notfallmäßige Folgeaufenthalte vermieden werden. Zudem verkürzt sich in spezialisierten Kliniken die Liegedauer der Patienten und Patientinnen durch die oben aufgeführten etablierten Strukturen. Für den Krankenhausträger ermöglicht eine spezialisierte Diabetologie die Bündelung von Ressourcen, was wiederum ein auskömmliches Wirtschaften erlaubt.
Wenn man des Weiteren bedenkt, dass die Prävalenz des Diabetes mellitus bei stationären Patienten fachübergeifend bei circa 30 % liegt [Siegel 2008], kommt der Behandlung des Diabetes mellitus im Krankenhaus eine ganz erhebliche Bedeutung zu [Breuer 2012]. Hier fungiert eine spezialisierte Diabetesabteilung als konsiliarisch beratende Instanz. Durch Studien konnte gut belegt werden, dass sich die Liegedauer von Patienten mit Diabetes mellitus als Nebendiagnose durch eine strukturierte Diabetesbehandlung um bis zu einen Tag verkürzen lässt [Röhling 2019]. Darüber hinaus ist es sicherlich Aufgabe einer stationären Diabetesabteilung, dafür Sorge zu tragen, dass das ärztliche und pflegerische Personal außerhalb der Diabetologischen Schwerpunktstation im Umgang mit Diabetes mellitus, den Diagnosekriterien, den Blutzuckerzielwerten im stationären Rahmen, den möglichen Akutkomplikation sowie dem Grundgerüst der Diabetestherapie vertraut ist. Hierfür haben sich wiederholte Fortbildungen auf Stationsebene und strukturierte Schulungen für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bewährt.
Gemüse ist der Star: Stationäre Ernährungsinterventionen
Ein besonderes Merkmal unserer stationären Diabetologie sind etablierte Ernährungsinterventionen. Ist die medikamentöse Therapie gänzlich ausgeschöpft, und die Steigerung der Insulindosen bringt keine signifikante Verbesserung der Blutzuckerwerte, dann liegt eine Insulinresistenz vor. Um diese zu durchbrechen, muss man sich auf die Grundlagen der Diabetestherapie besinnen: Ernährung und Bewegung. In Anbetracht der vielen neuen medikamentösen Möglichkeiten gerät häufig diese erste Stufe der leitliniengerechten Diabetestherapie in den Hintergrund.
In unserer Fachabteilung werden bei übergewichtigen Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes sogenannte Gemüsetage durchgeführt. Hierbei werden über zwei Tage alle drei Hauptmahlzeiten durch Salate und Gemüse ersetzt. Dies führt rasch zu einer ausgeprägten Blutzuckersenkung. Der Mechanismus hierfür ist am ehesten die Kalorienrestriktion auf eine tägliche Zufuhr von rund 800 kcal. Diesbezüglich konnten mehrere Studien nachweisen, dass eine niedrigkalorische Diät beim Typ-2-Diabetes zu einer akuten und auch anhaltenden Normalisierung des Glukosestoffwechsels führen kann [Steven 2016]. Wir im Diabetes-Zentrum Ruhrgebiet sehen die Gemüsetage daher auch als gut praktikable Alternative zum Intervallfasten oder Heilfasten an [Meier 2020].
Besser bekannt sind die sogenannten "Hafertage". Bereits vor 100 Jahren wurde von Carl von Noorden eine Abnahme der Glukosurie unter einer haferbasierten Diät beschrieben. Dies verblüfft, da im Rahmen von Hafertagen eine große Menge Kohlenhydrate verzehrt wird. Den bereits langen bekannten positiven Effekt der haferbasierten Kost auf die Nüchternglukose sowie den HbA1c-Wert konnte u. a. eine Metaanalyse von insgesamt 16 Studien belegen [Hou 2015]. Dem Wirkmechanismus liegt eine Veränderung des intestinalen Mikrobioms unter der ballaststoffreichen Kost zugrunde. Es konnte eine vermehrte Besiedlung des Mikrobioms mit Prevotella sp. nach ballaststoffreicher Diät nachgewiesen werden; Prevotella fermentiert u. a. komplexe Polysaccharide und führt zu einem verbesserten Glukosestoffwechsel [Kovatcheva-Datchary 2015].
Psychosomatische Mitbetreuung als wichtiger Baustein
Ein wichtiger Bestandteil der stationären Diabetestherapie ist die psychosomatische Mitbetreuung der Patientinnen und Patienten. Als chronische Erkrankung verlangt ein Diabetes mellitus den betroffenen Menschen viel Disziplin, Therapieverantwortung und -kontrolle ab. Im Alltag muss der Erkrankung stets ausreichend Raum für krankheitsspezifische Handlungen wie beispielsweise Insulininjektionen eingeräumt werden. Es ist gut etabliert, dass ein Diabetes gehäuft mit Depressionen, Angst- und Akzeptanzstörungen oder gar Essstörungen einhergeht. Diese Erkrankungen können wiederum die Güte der Stoffwechseleinstellung negativ beeinflussen. Im Falle eines sogenannten Insulinpurgings, also dem absichtlichen Weglassen des Insulins zur Gewichtsreduktion, drohen schwere, lebensbedrohliche Ketoazidosen. Und auch hinter einer hochgradigen Adipositas steckt nicht selten eine Essstörung, das sogenannte Binge-Eating, bei dem zur Emotionsregulation übermäßige Kalorien zugeführt werden. Aus diesen Gründen arbeitet unser Diabetes-Zentrum eng mit einer psychosomatischen Klinik zusammen, welche einen Schwerpunkt in der Betreuung von Menschen mit Diabetes hat. Einmal wöchentlich finden in unseren Räumlichkeiten konsiliarische Evaluationsgespräche mit den ärztlichen Kollegen der psychosomatischen Klinik statt. Hier werden Belastungsfaktoren eruiert und konkrete Zugangswege zu Hilfsangeboten geebnet.
Hypoglykämie unklarer Genese
Hypoglykämien treten häufig als Komplikation einer Insulintherapie oder einer medikamentösen Therapie mit Sulfonylharnstoffen auf. Einige Hypoglykämien stehen jedoch nicht in Zusammenhang mit einem Diabetes mellitus. Die Abklärung dieser sogenannten "Spontanhypoglykämien" ist eine typische Aufnahmeindikation nicht-diabetischer Patienten und Patientinnen in eine spezialisierte Diabetesklinik. Denn die Diagnostik unklarer Hypoglykämien erfordert strukturierte Untersuchungsabläufe sowie ein hohes Maß an Erfahrung des betreuenden Pflege- und Ärzteteams. Zur Abklärung spontaner Hypoglykämie ist die Durchführung eines mindestens 48-stündigen Hungerversuchs mit vorangeschalteter Glukosebelastung sinnvoll, um reaktive Hypoglykämien, ein Spät-Dumping-Syndrom nach bariatrischer Operation und auch das seltene Vorkommen eines Insulinoms adäquat nachweisen zu können.
Neue Diabetestechnologie
Bei den sogenannten AID-Systemen misst ein Sensor kontinuierlich den Gewebszucker im Unterhautfettgewebe und sendet die gemessenen Werte an einen Rechen-Algorithmus, welcher in eine Insulinpumpe, ein separates Handgerät oder eine Handy-App integriert ist [Digital.Corner 2021]. Dieser errechnet daraufhin die benötigte Insulinmenge und steuert anschließend automatisch die Insulinzufuhr über eine Insulinpumpe – ganz ohne Zutun der betroffenen Menschen. Schwere Unterzuckerungen können reduziert werden, was beispielsweise für das Erlangen eines Führerscheins wichtig ist. Diese Systeme können somit nicht nur die Güte der Stoffwechselleinstellung verbessern und Folgeerkrankungen vermeiden, sondern auch die Lebensqualität der Menschen mit Diabetes erheblich steigern. Die Anlage und auch die Handhabung eines solchen Systems sind teilweise komplex und müssen erlernt werden. Hier profitieren Patienten von der Sicherheit eines stationären Aufenthaltes mit der Möglichkeit der Schulung, der praktischen Übungen und der Einstellung unter kontrollierten Bedingungen.
Diabetes und Schwangerschaft
Diabetes mellitus ist ein wichtiger Risikofaktor für Komplikationen in der Schwangerschaft und unter der Geburt. Insbesondere ein bereits vor der Schwangerschaft bestehender Typ-1- oder Typ-2-Diabetes mit stärker ausgeprägter und auch schon präkonzeptionell und in der Frühschwangerschaft bestehender Hyperglykämie ist mit einem erhöhten Komplikationsrisiko wie Frühgeburtlichkeit, Makrosomie oder einer Sectio caesarea vergesellschaftet [Reitzle 2023]. Um Diabetes-assoziierten Schwangerschaftskomplikationen vorzubeugen, ist einerseits eine präkonzeptionell gute Blutzuckereinstellung und andererseits eine engmaschige diabetologische Betreuung während der Schwangerschaft unumgänglich. Ziel ist es, so schnell wie möglich die empfohlenen Blutzuckerzielwerte während der Schwangerschaft zu erreichen. Dies setzt allerdings ein hohes Engagement der werdenden Mutter und der betreuenden Ärzte voraus.
Fazit
Angesichts der steigenden Diabetesprävalenz ist es entscheidend, auch in Zukunft eine adäquate, sektorenübergreifende Versorgung der Menschen mit Diabetes zu ermöglichen. Hierbei kann ein Großteil der Patientinnen und Patienten durch die betreuenden Hausärzte und niedergelassenen Diabetologen optimal versorgt werden. Trotz dieser hervorragenden ambulanten Versorgungsstrukturen gibt es aber weiterhin Patienten, die trotz Ausschöpfung der ambulanten Therapiemaßnahmen ihre individuellen Therapieziele nicht erreichen. Auch erfordern bisweilen akute Ereignisse (z. B. akutes Diabetisches Fußsyndrom, Ketoazidose, schwere Hypoglykämien, Blutzuckerentgleisungen) eine unmittelbare stationäre Therapie. Hinzu kommen spezielle Fragestellungen und Situationen, wie etwa die Abklärung unklarer Hypoglykämien, eine Blutzuckerentgleisung in der Schwangerschaft oder auch die Neuanlage eines komplexen Insulinpumpensystems. Um auch diesen Patienten weiterhin eine optimale Versorgung anbieten zu können, ist es wichtig, auch zukünftig eine stationäre Diabetestherapie aufrecht zu erhalten. Die vertrauensvolle Interaktion der betreuenden Hausärzte, Diabetesschwerpunktpraxen und spezialisierten stationären Diabetesabteilungen ist der Schlüssel zu einer optimalen Versorgung der betroffenen Menschen.
Interessenkonflikte:
Die Autoren geben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit dieser Veröffentlichung an.
Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2023; 32 (3) Seite 142-144