Vor 125 Jahren promoviert in Göttingen der englische Chemiker George H. A. Clowes (1877-1958). Er beginnt in den USA zunächst mit Krebsforschung und wird dann Leiter des Forschungslabors bei Eli Lilly. Mit seinem Team entwickelt er in wenigen Monaten die Methoden zur industriellen Gewinnung von Insulin und macht damit Eli Lilly zur ersten Insulinfirma der Welt. Später gelingt ihm auch die Produktion eines Vitamin B12 Präparats zur erfolgreichen Behandlung der Perniziösen Anämie. Somit war er an den Arbeiten zu zwei Nobelpreisen maßgeblich beteiligt.

© Eli Lilly & Company per Michelle C. Jarrell (Lilly archivist) | Abb 1: George Henry Alexander Clowes (1877-1958)

Georg Henry Alexander Clowes (ausgesprochen Clu:s) wurde am 27. August 1877 in Ipswich in England geboren [Abb. 1]. Die Entbindung fand im Haus der Großmutter statt. Die Familie wohnte in der High Street 54. Dort wurde im März 2024 eine Gedenktafel für ihn angebracht [Abb. 2].

1897 schloss er in London ein Chemiestudium ab und ging nach Göttingen, wo er 1899 promoviert [Abb.3]. Sein Doktorvater Prof. Bernhard Tollens [Abb. 4] war bekannt durch sein Buch über die Chemie der Kohlenhydrate.

Hospitationen in Paris, London und Berlin

Trotz der modernen Forschung waren die akademischen Sitten in Deutschland noch recht antiquiert. Im Rigorosum zur Verteidigung der Promotion zog unerwartet ein Professor Ciceros Werk de Senectute aus der Tasche und forderte den englischen Kandidaten Clowes auf, den Text aus dem Lateinischen ins Deutsche zu übersetzen, um seine klassische Bildung zu prüfen. Erstaunlicherweise bestand der Brite diesen Test. Danach hospitierte er in Paris, London und Berlin, hier im Labor von Paul Ehrlich [1].

Der Zufall wollte es, dass Clowes in Göttingen den Amerikaner Dr. Gaylord traf, der zwecks einer englischen Übersetzung von Aschoffs Buch über Pathologie nach Göttingen gekommen war. Gaylord baute in Buffalo ein Institut für Krebsforschung auf, aber es fehlte noch ein guter Chemiker. Clowes nahm den Job an, reiste über den Atlantik und kam am 20. Juli 1900 in der Neuen Welt an.

© Dank an Borin van Loon, Ipswich Historic Lettering Website, für die Abbildungen | Abb 2: Gedenktafel für G. Clowes in Ipswich

Krebsforschung und Rum-Produktion

Das Krebsforschungsinstitut in Buffalo war das erste seiner Art in den USA, es sollte zunächst die Frage untersuchen, ob Krebserkrankungen durch Infektionen ausgelöst werden könnten.

Paul Ehrlich hatte Clowes gewarnt, ergebnislose Krebsforschung habe schon viele akademische Karrieren ruiniert, aber das hielt Clowes nicht davon ab, sein Glück in der Neuen Welt zu versuchen. Aber die jahrelangen Versuche, die Entstehung von Krebs durch Infektionen zu belegen, schlugen fehl. Immerhin hatte Clowes die Ehre, an der Gründung der American Association for Cancer Research beteiligt zu sein. 1961 stiftete die Firma Eli Lilly dieser Gesellschaft den Clowes Memorial Award, um bedeutende Krebsforscher zu ehren. Fünf der bisher Ausgezeichneten erhielten später den Nobelpreis.

Leider war damals das Gehalt als Krebsforscher sehr bescheiden, deshalb nahm Clowes einen gut dotieren Nebenjob als Berater einer Rum-Brennerei in Jamaika an, es gelang ihm dort, die Rum-Produktion deutlich profitabler zu machen. Dank dieser Einkünfte konnte er im Juni 1910 heiraten. Der Höhepunkt seiner Karriere als Krebsforscher war 1913 ein Vortrag auf dem Internationalen Medizinerkongress in London. Dann wechselte Clowes 1919 zu Eli Lilly.

© V. Jörgens | Abb. 3: Die Doktorarbeit von Clowes in Göttingen [3]

Familie Lilly sieht ihre Zukunft in der Forschung

Die Firma Lilly wurde von dem Apotheker Eli Lilly gegründet (1838-1889). Seine Vorfahren waren aus Schweden in die USA eingewandert. Er betrieb zunächst Apotheken, dann gründete er 1876 seine pharmazeutische Firma mit zunächst drei Angestellten und hatte bald Erfolg, u.a. mit der Produktion von Gelatinekapseln und einem Fruchtaroma für Medikamente.

Sein Sohn J. K. Lilly Senior (1861-1948) und dessen Söhne Eli und J. K. Junior fassten nach dem 1. Weltkrieg einen Entschluss. Sie wussten, dass die deutschen Pharmafirmen zur Apotheke der Welt geworden waren, weil sie engen Kontakt zu Universitäten gepflegt und von dort Koryphäen für ihre eigenen Forschungsabteilungen abgeworben hatten. Aufbauend auf eigener Grundlagenforschung hatten sie selbst Medikamente entwickelt, ein herausragendes Beispiel war der erste weltweite "Blockbuster" Aspirin© von Bayer.

Auch in England hatte die Firma Wellcome großen Erfolg damit gehabt, dass sie den späteren Nobelpreisträger Dale eine Forschungsabteilung aufbauen ließen. Der Vertrag von Dale war in der Industrie etwas ganz Neues, er durfte selbst bestimmen, womit sich die Forschungsabteilung beschäftigte und die Ergebnisse durfte er frei publizieren.

1919 stellte Lilly Clowes als Chemiker in seiner Forschungsabteilung an, ein Jahr später wurde er zum Direktor ernannt. Sein Vertrag war dem von Dale ähnlich. Zu den ersten Arbeiten von Clowes‘ Abteilung gehörten die Verbesserung von Methoden zur Gewinnung von Extrakten von A-, C- und B-Vitaminen und die Ausfällung von Eiweißen am isoelektrischen Punkt – Techniken, die kurz darauf bei der Reinigung von Insulin entscheidende Fortschritte brachten. Es gehörte auch zu den Aufgaben von Clowes, engen Kontakt zur akademischen Forschung zu halten. Auf Kongressbesuchen trug er nicht nur eigene Ergebnisse vor, er suchte für Lilly auch nach neuen Ideen.

© V. Jörgens | Abb. 4: Prof B. Tollens, der Doktorvater von Clowes in Göttingen

Begeistert von Bantings Vortrag

Schon im Oktober 1921 soll Clowes von den Arbeiten in Toronto gehört haben. Er schrieb Macleod an, und der riet ihm, Bantings Vortrag in Yale anzuhören. Am Weihnachtstag 1921 ist Clowes‘ Familie empört, denn er verlässt sie Richtung New Heaven [1]. Dort hört er den Vortrag von Frederick Banting über die Versuche mit Insulin an pankreatektomierten Hunden.

Clowes ist sofort hellwach. Noch am Abend ruft er Macleod im Hotel an und sondiert Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Aber Macleod ist zurückhaltend. Im Laufe der nächsten Monate korrespondiert Clowes mit Macleod. Im Frühjahr 1922 wurde es immer klarer, dass in Toronto eine Steigerung der Produktion von Insulin nicht möglich war, immer wieder kam es zu einem dramatischen Insulinmangel bei rapide steigenden Patientenzahlen.

Exklusivrecht für Herstellung und Vertrieb

Im Mai 1922 hatten sich das Insulin-Komitee in Toronto und Eli Lilly vertraglich geeinigt: Die Firma erhielt für ein Jahr ein Exklusivrecht für die Herstellung und den Vertrieb von Insulin in den USA, Mittel- und Südamerika. Für das Commonwealth vergab Toronto eine Lizenz an das Londoner Medical Research Council. In anderen Ländern sollte jeweils ein Insulinkomitee über die Qualität der Insulinpräparate wachen. Toronto sollte von Lilly gratis Insulin erhalten. Auch versprachen sich die Partner, über alle Fortschritte bei der Reinigung des Insulins zu berichten. Eli Lilly sagte auch zu, zunächst ausgesuchten Diabetesexperten in Nordamerika kostenlos Insulin zur Verfügung zu stellen, um Erfahrungen mit dem Präparat zu sammeln. Clowes koordinierte später diese Studien seiner "Diabetes-Aristokraten" [2].

In Indiannapolis machte sich ein Team unter der Leitung von Clowes ans Werk. Es galt, zahlreiche Probleme zu lösen, zum Beispiel war es schwierig, Schlachthöfe dafür zu gewinnen, die Bauchspeicheldrüsen herauszuschneiden. Erst als man einen der riesigen Schlachthöfe in Chicago als Lieferanten gewann und die Bauchspeicheldrüsen mit einem Kühlwagen per Eisenbahn nach Indianapolis schaffte, waren genug Drüsen da. In Indianapolis arbeiteten in drei Schichten 100 Menschen an dem Projekt.

Schon Ende Juni produzierte man das erste Insulin und am 3. Juli 1922 kamen die ersten Fläschchen Isletin© in Toronto an [Abb. 5], sie wurden dort dringend benötigt, denn die Insulinherstellung in Toronto klappte nicht zufriedenstellend. Clowes kam persönlich am 16. Juli nach Toronto. Er informierte über seinen Plan, in einem Jahr die Ergebnisse der klinischen Tests in einem Sonderheft von Prof. Allens Journal of Metabolic Research zu veröffentlichen.

© Universitätsbibliothek Toronto | Abb. 5: Isletin von Eli Lilly 1922

Banting fährt persönlich nach Indianapolis

Bald darauf wurde die Situation in Toronto wieder dramatisch, Patienten drohten im Koma zu sterben. Banting fuhr persönlich nach Indianapolis, um dort Insulin zu holen. J. K. Lilly berichtete seinem Sohn Eli Lilly über diesen Besuch: "Als Banting Toronto verließ, gab es in ganz Toronto keinen Tropfen Insulin mehr. Wir hatten 150 Einheiten für ihn und als ich ihm sagte, er könne sie mitnehmen, fiel er mir um den Hals und brach in Tränen aus. Als ich dann zufügte, wir könnten ihm am nächsten Abend weitere 150 Einheiten schicken, war das für ihn der Gipfel der Glückseligkeit. Banting ist wirklich ein feiner Kerl, und wir müssen alles tun, um ihm zu helfen" [2].

Eli Lilly mochte Banting gern, gleiches galt für Clowes, der sich auch darauf verstand, Banting bei guter Laune zu halten. In einem Brief an Banting im Juni 1923 schreibt er, er sei sich sicher, dass Banting eines Tages den Nobelpreis bekommt [2].

Die Firma Lilly machte auf dem Weg zur industriellen Produktion schnell Fortschritte. Ein entscheidender Durchbruch gelang dem Chemiker Georg B. Walden, er wandte die bei Lilly bekannte Technik der Ausfällung von Eiweißen am isoelektrischen Punkt auf die Insulinherstellung an, auf seinem Namen wurde dafür das Patent angemeldet. Diverse Probleme waren zu lösen. In den ersten Monaten wurde die Standardisierung an "Einmal"-Kaninchen vorgenommen, die Chargen wurden daraufhin getestet, wieviel ein Kaninchen durch Hypoglykämie bewusstlos machte oder tötete. Eli Lilly "verbrauchte" dazu eine Armee von 100.000 Kaninchen, eine logistische Leistung, denn Lieferanten für Labortiere gab es noch nicht. Bliss berichtet, dass einmal zahllose Kaninchen aus ihrem Stall ausrissen und als "hopping Pandemonium" im ganzen Gebäude herumhüpften [2].

Dank Clowes wird Eli Lilly zur ersten Insulinfirma

Schon im Januar 1923 begann der Verkauf des bei Lilly hergestellten Insulins, zunächst weiterhin nur an ausgesuchte Zentren. Allerdings hatte es noch einen Disput über den Handelsnamen gegeben, Lilly wollte sein Präparat Insulin© nennen, somit den Generic Name zum Handelsnamen machen, aber Toronto war damit nicht einverstanden, und deshalb musste Eli Lilly sein Präparat Isletin© mit dem Zusatz "Insulin Lilly" nennen [Abb. 5]. Lilly hatte in den USA zwar kein Monopol für die Insulinherstellung, aber die Marketingstrategie war erfolgreich: alle Meinungsbildner in die Erprobung einbinden, die Ergebnisse in bedeutenden Tagungen präsentieren, in Sonderheften publizieren und diese an Ärzte verteilen – Clowes erfand damit die heute noch von der forschenden Pharmaindustrie eingesetzten Strategien. Isletin© wurde für Lilly ein Blockbuster und die Firma war als der führende Diabetesspezialist der USA etabliert.

Für Clowes hat es sich gelohnt, dass er Weihnachten 1921 seine Familie im Stich ließ, um Bantings Vortrag zu hören. Sein Vermögen entwickelte sich prächtig und er sammelte mit seiner Frau kostbare Gemälde aus Europa, die heute in einem speziellen Flügel des Indianapolis Museum of Art ausgestellt sind (paintings.theclowescollection.org). Für den Bau einer Konzerthalle spendete seine Familienstiftung zur Förderung der Kunst 1,7 Millionen Dollar. 1963 wurde sie als Clowes Memorial Hall eröffnet. Seine Familienstiftung fördert auch heute noch zahlreiche soziale Projekte (clowesfund.org). Die Stiftung publizierte auch die Biographie über das Ehepaar Clowes, geschrieben von ihrem Enkel, aus dem die meisten Informationen in diesem Artikel stammen [Abb. 6].

© Indiana University Press | Abb. 6: Die Biographie über das Ehepaar Clowes

George Minot: durch Insulin geretteter Nobelpreisträger

Noch ein zweites Mal arbeitete Clowes mit späteren Nobelpreisträgern eng zusammen. Georg R. Minot (1885-1950) erhielt gemeinsam mit seinem Kollegen in Harvard, William P. Murphy und George H. Whipple in Rochester den Nobelpreis für die erfolgreiche Anwendung von Leberextrakten bei perniziöser Anämie.

Der Internist Minot hatte 1921 Diabetes bekommen, Joslin hatte ihn in Boston mit extrem kohlenhydratarmer Kost behandelt. Er war völlig abgemagert und dem Tod nahe, als er Mitte 1922 das große Glück hatte, als einer der ersten Patienten in Boston Insulin zu bekommen.

Wieder hatte Clowes an einer Entwicklung zu einem Nobelpreis maßgeblichen Anteil. In Boston hatten Minot und Murphy Behandlungsversuche mit roher Leber bei Perniziöser Anämie gemacht. Deshalb wurde Minot 1926 ans Krankenbett der Ehefrau Lilly von J. K. Lilly Senior gerufen. Frau Lilly Lilly vertrug aber die rohe Leber überhaupt nicht. Es kam der Vorschlag, es mit einem Leberextrakt zu versuchen, den Clowes‘ Labor bei Lilly hergestellt hatte, um damit den Blutdruck zu senken, was aber nicht funktioniert hatte. Die Behandlung war sehr erfolgreich. Frau Lilly Lilly erholte sich und lebte noch acht Jahre [1].

Leberextrakt von Lilly für Harvard

Auch in Harvard entwickelte man nun einen Leberextrakt, aber man brauchte dringend einen Partner aus der Industrie, um den Extrakt zu verbessern und später zu vermarkten. Harvard entschied sich für Eli Lilly, weil diese Firma schon Erfahrungen mit Leberextrakten hatte und weil Joslin, der Clowes und Lilly gut kannte, dies unterstützte. Streit gab es aber darüber, ob man die von Minot und Murphy, oder die von Lilly entwickelte Methode nutzen sollte.

Lilly gab nach, begann aber gleichzeitig mit Whipple in Rochester die eigene Extraktionsmethode weiterzuentwickeln, dieses Produkt erwies sich dann als deutlich wirksamer – dank der Arbeit von Clowes und seinem Team.

1934 erhielten Minot, Murphy und Whipple den Nobelpreis. Gäbe es einen Nobelpreis für erfolgreiche Forscher und "Networker" in der Pharmaindustrie, Clowes hätte ihn sicher verdient.


Literatur
Clowes, A W: The doc and the duchess. The life and legacy of George Alexander Clowes. Indiana University Press, Bloomington & Indianapolis, 2016.
Bliss M: The discovery of Insulin. Chicago The University of Chicago Press, Chicago, 1982. In deutscher Übersetzung von R. Augustin verfügbar mit dem Titel "Die Entdeckung des Insulins" Lit Verlag Dr. W Hopf Berlin 2023, mit einem Vorwort von V. Jörgens.
Clowes, G H A: Über Formaldehyd und Methylen-Derivate der Säuren der Zuckergruppe und über die quantitative Bestimmung der Methylen-Gruppen in den Formaldehyd – Condensations- Produkten. Univ. Buchdruckerei von E. A Huth, Göttingen, 1899

Korrespondenzadresse:
© privat
Dr. med. Viktor Jörgens
Fuhlrottweg 15
405912 Düsseldorf


Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2024; 33 (5) Seite 299-302