Zahlreiche Artikel gedachten des 100. Jahrestages der Entdeckung des Insulins, viel weniger bekannt ist, dass ein Jahr nach der ersten erfolgreichen Insulinbehandlung in Toronto Prof. John Raymund Murlin (Abb. 1) und seine Mitarbeiter 1923 im Institut für Physiologie an der Universität in Rochester das Glucagon entdeckten und ihm auch seinen Namen gaben (Abb. 2).

Murlin hatte sich bereits vor 1916 mit Pankreasextrakten beschäftigt. Aber der Eintritt der USA in den ersten Weltkrieg beendete zunächst seine Forschungen. Er hätte möglicherweise schon vor Banting und Best ein brauchbares Insulinpräparat gewonnen – aber wie im Fall von Scott, Zülzer und Paulescu verhinderte der Krieg weitere Arbeit an diesem Thema [Jörgens 2022].

Nach 1918 nahm Murlin mit seiner Arbeitsgruppe die Herstellung von Pankreasextrakten wieder auf und es gelang ihm sogar im Mai 1922 einen Fall von diabetischer Ketoazidose zu behandeln. In der US-Presse fand dies ein breites Echo. Aber Collip hatte bereits im Januar desselben Jahres brauchbares Insulin hergestellt und somit verpasste Murlin knapp den Nobelpreis.

Murlin erfindet den Namen Glucagon

Bei der Untersuchung der Stoffwechselwirkungen seiner Extrakte fiel ihm auf, dass es nach der Injektion der Insulinpräparate zu einer kurzfristigen Erhöhung des Blutzuckerspiegels kam, erst danach entfaltete das in den Extrakten enthaltene Insulin seine Wirkung und der Blutzucker fiel ab. Murlin postulierte, dass in dem Extrakt neben Insulin auch eine weitere Substanz enthalten sein musste. Er nannte diese Substanz Glucagon – abgeleitet von Gluc(ose)agon(ist) [Murlin 1923, Kimball 1923]. Es gelang ihm aber nicht, Glucagon weiter zu reinigen und Murlin wandte sich anderen Themen zu. Er wurde ein bedeutender Stoffwechselforscher und war Gründer des 1928 erstmals erschienenen Journals of Nutrition. Hochgeehrt starb er 1960 im Alter von 86 Jahren.

Zunächst untrennbar verbunden im Pankreasextrakt

In Deutschland beschäftigte sich der zu dieser Zeit noch in Bonn tätige Internist Max Bürger (1885 – 1966) mit Glucagon, fälschlicherweise wurde er später in einigen deutschen Publikationen als der Entdecker des Glucagons bezeichnet. Bürger konnte an Kaninchen den Effekt des Glucagons auf die Glykämie belegen, der Blutglukosespiegel stieg im Tierversuch nach Injektion seines Präparats bis zu eine Stunde lang um 50 % an.

Aber es gelang ihm nicht, die beiden Hormone der Pankreasinseln in seinen Extrakten sauber zu trennen – er folgerte fälschlicherweise, dass dies unmöglich sei [Bürger 1935]. Bürger, der später den Lehrstuhl für Innere Medizin in Leipzig innehatte, wurde durch seine Arbeiten zur Gerontologie bekannt.

Sutherland und de Duve

Der Belgier Christian Vicomte de Duve (1917 – 2013), dessen Familie von der niedersächsischen Adelsfamilie von Duve abstammt, begann 1944 an der Universität Louvain mit Arbeiten über Glucagon. Er bemerkte, dass es nach Injektion von Lilly Insulin zunächst zu einem kurzen Blutzuckeranstieg kam (Lilly verbesserte bald darauf den Reinigungsprozess). Danach ging de Duve nach St. Louis ins Labor des berühmten Ehepaars Carl und Gerty Cori. 1947 erhielt das Ehepaar Cori den Nobelpreis für die Entdeckung des Cori Zyklus. In diesem Labor arbeitete damals auch Earl Wilbur Sutherland (1914 – 1974), der 1957 das zyklische AMP entdeckte und dafür 1971 den Nobelpreis erhielt (Abb. 3).

Sutherland und de Duve extrahierten einen "hyperglykämischen glykogenen Faktor". Sie konnten zeigen, dass dieser in der Leber die Glukogenolyse und im Fettgewebe die Lipolyse steigerte [Sutherland, de Duve 1948]. Erst später erkannte de Duve, dass es sich dabei um das bereits früher entdeckte Glucagon handeln musste. De Duve kehrte 1951 nach Louvain zurück und entdeckte die Lysosomen und die Peroxisomen, dafür erhielt er 1974 den Nobelpreis. De Duve und Sutherland erhielten 1969 und 1970 als Erste die höchste Auszeichnung der European Association for the Study of Diabetes (EASD), die Claude Bernard Medaille. De Duve entdeckte später auch, dass Glucagon in den Alpha Zellen der Pankreasinseln gebildet wird: er beobachtete, dass eine Schädigung der Alpha Zellen durch Cobalt die Glucagonproduktion bei Kaninchen verminderte [De Duve 1953].

Fortschritte bei der Aufreinigung

Ein großer Fortschritt war die Herstellung einer kristallinen Form von Glucagon. Dies gelang im Forschungslabor der Firma Eli Lilly der Arbeitsgruppe von Otto Karl Behrens [Staub 1953]. Nun war die Produktion wesentlich besser gereinigter Präparate möglich. Im selben Labor wurde auch die Aminosäuresequenz des Glucagons aufgeklärt [Bromer 1956]. Ein großes Problem blieb aber die genaue Messung der Konzentration des Glucagons im Blut. Zwar hatte Alfred Staub bei Eli Lilly eine Meßmethode entwickelt, die auf dem Blutzuckeranstieg nach Injektion von Glucagon bei Katzen beruhte. Erst die Entwicklung der Radioimmunassays brachte den Durchbruch.

Yalow, Berson und Unger

Rosalyn Yalow, geb Sussmann (1921 – 2011) erhielt 1977 den Nobelpreis für die Entwicklung der Radioimmunmethoden zur Messung der Konzentration von Peptidhormonen. Der erste Immunassay, den sie mit Salomon Aaron Berson (1918 – 1972) entwickelte, diente der Bestimmung des Insulinspiegels und wurde 1960 publiziert [Yalow 1960]. Schon kurz zuvor hatte der Texaner Roger Unger über den ersten Radioimmunassay zur Bestimmung des Glucagons publiziert [Unger 1959]. Warum erhielt nicht er, sondern Yalow den Nobelpreis? Unger hat den genauen Hergang in einem Brief an seinen Schüler und Freund Pierre Lefèbvre dargestellt [Lefèbvre 2020]. Unger hatte eine Publikation von Berson gelesen, in der dieser über Jod131 markiertes Insulin berichtete. Unger hatte vergeblich versucht, dies selbst herzustellen und rief Berson an, um mehr über die Methode zu erfahren. Berson fragte, was er mit dem markierten Insulin zu tun gedachte. Als Unger ihm sagte, er plane damit einen Radioimmunassay zur Insulin- und Glucagon Bestimmung entwickeln, lud Berson Unger ein, sein Labor zu besuchen.

Glucagon-Bestimmung gelingt durch Radioimmunassay

Dort erfuhr Unger, dass Yalow und Berson bereits einen Radioimmunassay für Insulin entwickelt hatten, dass aber die Publikation vom Herausgeber des Journals of Clinical Investigation schon längere Zeit herausgezögert würde, weil der Editor die Daten einfach nicht "glaubte". Ein entsprechender Assay für Glucagon war ihnen aber noch nicht gelungen.

Roger Unger entwickelte mit der bei Berson und Yalow erlernten Methode den ersten Radioimmunassay für die Bestimmung des Glucagons. Harte Arbeit, nur zwei von 259 immunisierten Kaninchen entwickelten genug Antikörper. Unger publizierte die Ergebnisse 1959. Unger war so fair, immer darauf hinzuweisen, dass die eigentlichen Entdecker der Radioimmunassays Yalow und Berson waren. Er nominierte sie für den Nobelpreis 1971, der Preis ging aber an Sutherland [Lefèbvre 2022]. Da Berson schon 1972 verstarb, bekam allein Rosalyn Yalow 1977 den Nobelpreis für die Entwicklung der Radioimmunassays.

Dank der neuen Messmethode wurde es nun möglich, die Funktion des Glucagon auf den Stoffwechsel genauer zu untersuchen. Der detaillierte Verlauf der Fortschritte der Glucagonforschung würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, Interessierte seien auf die Claude-Bernard-Vorlesung von Roger Unger beim Annual Meeting der EASD 1980 [Unger 1981] und den ausgezeichneten Artikel über die Entwicklung der Glucagonforschung von André Scheen und Pierre Lefèbvre verwiesen [Scheen, Lefèbvre 2023].

Glucagon in der klinischen Medizin

Während Insulin seinen Siegeszug in der Diabetestherapie erlebte, war sein Antagonist Glucagon Thema vieler wissenschaftlicher Arbeiten, aber in der klinischen Medizin spielte es keine Rolle. Zwar wurde schon 1966 erstmals ein Fall mit dem extrem seltenen Glucagonom beschrieben [Mc Gavren 1966]. Es ist mit nekrolytischer Dermatitis, Diabetes mellitus und Gewichtsverlust verbunden. Wer konnte ahnen, dass eines Tages der Gewichtsverlust durch Glucagongabe therapeutische Möglichkeiten eröffnen könnte?

Seit gereinigtes Glucagon in kristalliner Form verfügbar war, lag es nahe, es nicht nur zu Forschungszwecken, sondern auch zur Behandlung von Hypoglykämien einzusetzen [Greben 1957]. Manche Psychiater behandelten schwere endogene Psychosen mit Insulinschocks. Zeitweise wurde statt einer Glukoseinfusion Glucagon zur Beendigung des Insulinschocks eingesetzt – glücklicherweise hat man dies und auch die gefährliche und die nie korrekt kontrolliert evaluierte Insulinschock"therapie" verlassen.

Glucagon hilft Menschen mit Diabetes

Ganz im Gegenteil dazu war der Einsatz von Glucagon zur Behandlung schwerer Hypoglykämien bei Menschen mit insulinbehandeltem Diabetes eine segensreiche Erfindung. 1960 wurde erstmals ein Glucagonpräparat mit dieser Indikation von der FDA zugelassen.

Angehörige sollten schon früh die Glucagoninjektion erlernen

Angehörige konnten lernen, das Präparat im Falle einer Bewusstlosigkeit durch Hypoglykämie zu injizieren. In einem von der Amerikanischen Diabetesgesellschaft herausgegebenen Buch wird schon 1964 geraten, die Angehörigen hinsichtlich einer Glucagoninjektion zu instruieren. Erstaunlicherweise wird damals auch noch die nicht ungefährliche Injektion von Adrenalin durch die Angehörigen erwähnt, aber der Autor präferiert schon die Glucagongabe [Sussmann 1964].

Die ersten Ärzte, die sich in Europa dafür einsetzten, generell die Angehörigen diabetischer Kinder mit Glucagon zu versorgen, waren die Pädiater: Lestradet schreibt 1971 im Pfeiffer’schen Handbuch, dass die Patienten zwei bis drei Glucagon-Packungen bei sich haben und auch auf Reisen mitnehmen sollten [Lestradet 1971]. Manche deutschen internistischen Diabetologen waren zunächst zurückhaltend, aber Glucagon setzte sich langsam auch in Deutschland durch.

Allerdings war es nicht so einfach, den Angehörigen Zubereitung und Injektion des Glucagon zu instruieren. In das kristallin in einem Fläschchen vorliegende Glucagon musste Flüssigkeit gespritzt werden. Größtes Problem war, dass es zunächst keine leeren Packungen zum Üben mit den Angehörigen gab, Novo stellte diese Anfang der achtziger Jahre einzelnen Schulungszentren gratis zur Verfügung.

Fortschritte in der Pharma-Forschung

1982 gelang es, die Gensequenz von Glucagon zu entschlüsseln, allerdings zuerst beim Anglerfisch, der für die Forscher den Vorteil hat, dass sich die Pankreasinseln in einem separaten Organ befinden. 1998 wurde Glucagon gentechnologisch hergestellt. Aber auch die so hergestellten Glucagonpräparate (Glucagen®HypoKit) müssen erst gelöst werden.

Nicht die großen Insulinhersteller, sondern ein Start-up machte dann für die Patienten eine sehr hilfreiche Erfindung: Die Firma Locemia in Québec entwickelte ein über die Nasenschleimhaut applizierbares Glucagonpulver. Die überzeugenden Ergebnisse wurden auf dem EASD Meeting 2015 vorgetragen. Kurz darauf erwarb Eli Lilly die Rechte daran und brachte das Präparat unter dem Namen Baqsimi® auf den Markt.

Mittlerweile ist es auch gelungen, stabile Lösungen von Glucagon zu entwickeln, die bei Zimmertemperatur haltbar bleiben. Das hat nicht nur praktische Vorteile für die Notfallbehandlung, es ermöglicht auch die Entwicklung von Pumpen, die nicht nur Insulin sondern auch Glucagon liefern.

Im von der Firma Zealand Pharma entwickelten Dasiglucagon sorgt die Veränderung von sieben Aminosäuren für stabile Löslichkeit des Präparats. Zealand Pharma kooperiert jetzt mit Novo Nordisk. In den USA wird das Mittel bereits unter dem Namen Zegalogue© vertrieben.

Xeris Pharmaceuticals in Chicago entwickelte mit staatlicher Unterstützung ein Präparat, in dem Dimethylsulfoxid humanes Glucagon stabil in Lösung hält. Es wird unter dem Handelsnamen Ogluo® vertrieben

Im noch nicht zugelassenen Biochaperon® Glucagon der französischen Firma Adocia bilden Polymere Komplexe mit Glucagon und dadurch bleibt die Lösung stabil.

Wachsendes Interesse an der Glucagonforschung

Die Zahl der Publikationen zum Thema Glucagon ist in den letzten Jahren erheblich angestiegen (Abb 4). Grund dafür ist das wachsende Interesse an Inkretinen. GLP-1, der kleine Bruder des Glucagon (beide stammen vom Proglucagon ab) hat mittlerweile einen wichtigen Platz in der Diabetestherapie. Und auch der Glucagonrezeptor wird klinisch interessant: Noch wirksamer zur Gewichtsreduktion als duale Inkretinagonisten wirkt ein dreifacher Agonist, nicht nur des GLP-1 und des GIP sondern auch des Glucagons. Noch nie in den 100 Jahren seiner Geschichte stand die Glucagonforschung derart im Zentrum des Interesses der Diabetologie [Müller 2022].


Literatur
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Greben SE, Schulman JL. The effect of glucagon on the blood glucose level and the clinical state in the presence of marked insulin hypoglycemia. J Clin Invest. 1957; 36: 74-80 doi: 10.1172/JCI103412
Jörgens V: Sie waren fast am Ziel: Zülzer, Scott und Paulescu. In: Die Geschichte der Diabetesforschung. Kirchheim Verlag, Mainz, 2022
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Lestradet H: Der Diabetes des Kindes und des Jugendlichen. In: Pfeiffer (Hrsg) Handbuch des Diabetes. Band 2, J F Lehmanns Verlag, München, 1971, pp 555-570
McGavran MH, Unger RH, Recant L: A glucagon-secreting alpha-cell carcinoma of the pancreas. NEJMED 1966; 274:1408–1413
Müller TD, Tschöp MH: Gut-hormone triple agonists: clinical safety and metabolic benefits. Lancet. 2022; 400: 1826-1828
Murlin JR, Clough HD, Gibbs CBF, Stokes AM: Aqueous extracts of the pancreas. 1. Influence on the carbohydrate metabolism of depancreatized animals. J Biol Chem 1923; 56: 253-296
Scheen AJ, Lefèbvre PJ: Glucagon, from past to present: a century of intensive research and controversies. Lancet Diabetes Endocrinol. 2023; 11: 129-138
Staub A, Sinn L, Behrens OK: Purification and crystallization of hyperglycemic glycogenolytic factor (HGF). Science 1953; 117: 628-9 doi:10.1126/science.117628.
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Sutherland EW, De Duve C: Origin and distribution of the hyperglycemic-glycogenolytic factor of the pancreas. J Biol Chem 1948; 175: 663-74
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Unger RH. The milieu interieur and the islets of Langerhans. Diabetologia. 1981; 20: 1-11. doi: 10.1007/BF00253809
Yalow R S, Berson, S A. Immunoassay of endogenous plasma insulin in man. J Clin Invest 1960; 39: 1157-1175


Korrespondenzadresse
Dr. med. Viktor Jörgens
Fuhlrottweg 15
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Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2023; 32 (2) Seite 100-104