Durch technischen Fortschritt hat sich die Diabetesbehandlung in den vergangenen Jahren erheblich erleichtert für die Patienten. Dr. Andreas Thomas berichtet hier darüber.
AID-Systeme – eine lange Entwicklung führt schrittweise zum Ziel
Menschen mit Diabetes (MmD), speziell mit Typ-1-Diabetes wünschten sich schon vor Jahrzehnten ein System für die automatische Insulinabgabe, auch bezeichnet als Closed-Loop-System. Dies war abgeleitet aus der Insulinpumpentherapie (CSII; Continuous Subcutaneous Insulin Infusion), die gewissermaßen ein offenes System darstellt. Die CSII hatte eine wichtige Komponente für die automatische Insulinabgabe im Einsatz, nämlich die Insulinpumpe. Die Glukosemessung erfolgte manuell, genauso wie die Abgabe der Insulindosis zur Mahlzeit und zur Kompensation erhöhter Glukosewerte. Dieses offene System zu schließen bedufte schließlich der kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) und eines Algorithmus zur Umrechnung der gemessenen Glukosekonzentration in die abzugebende Insulinmenge.
Auch wenn Insulinpumpen den nahrungsunabhängigen, basalen Insulinbedarf selbständig auf Grundlage der einprogrammierten Basalrate abgeben, so war der Aufwand für den Anwender immer noch groß. Die mehrfache tägliche Messung der Blutglukose nach notwendiger Selbstverletzung, die Schätzung der geplanten Kohlenhydrate sowie die nachfolgende Berechnung des Insulinbolus waren trotz der seit ca. 2003 verfügbaren, in die Pumpe integrierten Bolusrechner auch für CSII-Nutzer noch aufwendig. Sie wünschten sich mehr Entlastung, zumal auch unter der CSII nicht immer befriedigende Glukosewerte erzielt wurden. Die Ursache dafür war und ist auch therapiebedingt, denn die einprogrammierte Basalrate entspricht nur dem durchschnittlichen Insulinbedarf eines Tages. Weil die Aktivitäten an verschiedenen Tagen bei den wenigsten Menschen gleich sind, ist ein Durchschnittswert nicht immer zutreffend. Die fest programmierte Basalrate setzte das aber gewissermaßen voraus. Die Abweichungen in den Tagesaktivitäten sorgen folglich zu Abweichungen von dem gewünschten Glukosezielbereich. In früheren Zeiten fiel dies nicht immer auf. Auch mit 6-7 Blutzuckermessungen am Tag hat der MmD kein vollständiges Bild über seine Glukoseregulation.
Mit der Verfügbarkeit des kontinuierlichen Glukosemonitorings (CGM) änderte sich das aber. Seit Mitte der 2010er Jahre ist die Messqualität von Real-Time CGM-Systemen (rtCGM) soweit ausreichend, dass auf deren Grundlage therapeutische Entscheidungen ohne vergleichende Blutzuckermessung getroffen werden können [1]. Weiterhin ist CGM seit Juni 2016 auch Kassenleistung [2], wodurch viele insulinbehandelte MmD über ein CGM-System verfügen können. Alle Anwender von CGM, auch solche, die eine CSII durchführen, konnten anhand der CGM-Glukosekurve nun bestehende Unterschiede zwischen dem gewünschten und dem tatsächlichen Glukoseverlauf sehen. Insbesondere war aber mit zuverlässig messenden rtCGM-Systemen die Hardware verfügbar, die essentiell für die Realisierung eines Closed-Loop-Systems ist. Das Verbindungsglied zwischen dem CGM und der Insulinpumpe, bzw. zwischen dem aktuell gemessenen Glukosewert und der für das Erreichen des Glukosezielwertes notwendigen Insulindosierung realisiert die dritte Komponente eines Closed-Loop-Systems, bezeichnet auch als AID-System (automated insulin delivery): der mathematische Algorithmus.
Es ist nicht verwunderlich, dass mit dem Vorhandensein ausreichend zuverlässig messender CGM-Glukosesensoren MmD und vorhandenen Kenntnissen in der Informationstechnologie auf die Idee kamen, Algorithmen zu entwickeln und ein AID selbst zu bauen. So entstand die sogenannte Do-It-Yourself-Systeme (DIY) - Community [3,4]. Die Algorithmen wurden von den Entwicklern frei ins Internet gestellt und damit jedem Interessierten zugänglich gemacht. Diese konnten vorgenommene Modifikationen und Verbesserungen gleichfalls öffentlich darstellen. Als Insulinpumpen wurden solche mit offener Schnittstelle (z.B. Dana RS von Soil) genutzt, bzw. die Software anderer Pumpen freigelegt ("gehackt"). Dann wurde das CGM an die Pumpe angekoppelt und der Algorithmus implementiert. Neben dem Enthusiasmus zeichnen sich diese MmD vor allem durch eine profunde Kenntnis ihres Glukosestoffwechsels aus, was sie befähigt ihre Algorithmen entsprechend zu personalisieren und damit sehr gute Stoffwechselergebnisse mit einem Anteil der Zeit im Glukosezielbereich ("Time in Range"; TIR) von 80% und mehr zu erreichen [5}.
Unabhängig von der Eigeninitiative technisch begabter MmD gab und gibt es vielfältige Entwicklungen bei professionellen Herstellern von Diabetestechnologie. Zu beachten ist aber, dass deren Entwicklungen nicht nur strengen Zulassungskriterien genügen, sondern von beliebigen Anwendern, auch ohne tiefere Kenntnisse auf ingenieurtechnischen und diabetologischen Gebiet im Alltag sicher anwendbar sein müssen. Aus diesem Grund konnte das erste AID-System erst in den Markt eingeführt werden, als die MmD ihre selbstgebauten Geräte (die sogenannten "Looper") bereits benutzten (seit Ende 2014). Das geschah in den USA ab 2016 und in Deutschland ab 2019 mit der Zulassung des Hybrid-AID-Systems MiniMedTM 670G. Seitdem sind mehrere Systeme auf dem Markt gekommen, von den Firmen Medtronic, Tandem, Ypsomed und Insulet. Dass alle Komponenten des AID, also Insulinpumpe, Algorithmus und CGM aus einer Firma kommen ist dabei nur bei den Systemen von Medtronic der Fall. Die anderen Firmen koppeln an ihre Insulinpumpen CGM-Sensoren der Firmen Dexcom bzw. Abbott an.
Allerdings realisiert noch keines der Systeme die gewünschte vollautomatische Insulindosierung. Bei allen aktuellen AID muss der Anwender das Insulin zu den Mahlzeiten weiterhin manuell über die Insulinpumpe abgeben (deswegen "Hybrid-AID-Systeme"). Das bedeutet also, dass das Therapiemanagement teilweise weiterhin von ihm zu realisieren ist. Allerdings wird dieser MmD durch die bedarfsgerechte, automatische Abgabe des nahrungsunabhängigen, basalen Insulinanteils im Vergleich zur CSII und erst recht zur intensivierten Insulintherapie (ICT) deutlich entlastet.
Vollständig automatisierte AID-Systeme sind bald zu erwarten. Aktuell werden Ergebnisse von Studien vorgestellt, in welchen Mahlzeiten nur noch qualitativ angegeben werden, also z.B. mehr oder weniger kohlenhydratreich, klein, mittel, groß usw.) [6]. Das ist ein Schritt zu dem Voll-AID, das über den Algorithmus realisiert wird. Die Entwicklung dürfte damit aber noch nicht abgeschlossen sein. Denkbar sind die zunehmende Integrierung von nicht-glykämischen Parametern in den Algorithmus, wie beispielsweise Herzrate oder Hautfeuchtigkeit – beides Zeichen für die Entwicklung einer Hypoglykämie. Auch besondere Aktivitäten des Betroffenen, zum Beispiel erhöhte körperliche Aktivität/Sport, auch Stress lassen sich anhand der Herzrate ableiten. Durch Methoden der künstlichen Intelligenz können Details in den Glukoseprofilen erkannt und ausgewertet werden. Über bestimmte Muster, verarbeitet in neuronalen Netzwerken sind ebenfalls Schlussfolgerungen auf Aktivitäten des Anwenders ableitbar, die sich in das Insulinabgabemanagement des Systems automatisch integrieren lassen. Insgesamt umfasst das den gesamten Bereich von mess- und auswertbaren, individuellen Parametern des MmD, womit das Therapiemanagement personalisiert wird. Zweifellos lassen die vielfältigen Entwicklungen weiterhin Hoffnungen auf das "perfekte System" zu. Aktuell ist dabei die Rechenkapazität von Smartphones (insofern solche Algorithmen als Smartphone-App entwickelt werden) noch begrenzt. Aber das ist nur eine Frage der Zeit. Grundsätzlich wird mit jedem Entwicklungsschritt dem Betroffenen das Therapiemanagement erleichtert. Damit wird dem Ziel nähergekommen, sich möglichst wenig um die Diabeteserkrankung kümmern zu müssen, also den Alltag weitgehend unabhängig davon gestalten zu können. Das drängt den "Human-Faktor" zurück und verringert darüber hinaus die Gelegenheit Therapiefehler zu begehen. Das ist etwa so wie bei einem Auto mit automatischer Abstandsmessung und Bremsbereitschaft. Es kann nicht mehr zu Auffahrunfällen kommen, selbst wenn der Fahrer unaufmerksam ist.
Allerdings ist auch zu beachten, dass das Ganze ein technisches Gerät bleibt. Es bedarf des Vertrauens des Anwenders, dieses für sich arbeiten zu lassen. Genauso bedarf es auch der Notwendigkeit dieses zu kontrollieren. Es kann auch einmal defekt sein. Und es ersetzt keineswegs das Diabetesteam, welches den MmD unterstützt, seine Daten beurteilt und beratend zur Seite steht.
Komponenten von AID-Systemen
Die Zusammenführung der einzelnen Komponenten Insulinpumpe, CGM und Algorithmus führt zu einem AID-System. Alle Komponenten haben ihre eigene Entwicklung genommen.
Insulinpumpen
Die Anwendung von Insulinpumpen ist eine Standardtherapie bei der Behandlung von Menschen mit Typ-1-Diabetes (MmT1D). In Deutschland gibt es ca. 120.000 Pumpenträger (ca. 30% der MmT1D). Schätzungsweise 30-40% nutzen zusätzlich zu ihrer Insulinpumpe ein CGM-System. Die CSII war motiviert durch Defizite der ICT, bei welcher die Verwendung von langwirksamen Basalinsulins häufig nicht den natürlichen Insulinbedarf des MmD adaptiert (Dawn Phänomen, instabile Glukoseverläufe). Die an den nahrungsunabhängigen, basalen Insulinbedarf angepasste Abgabe von kurzwirksamem Insulin unter der CSII konnte dieses Defizit teilweise kompensieren [7]. Weil aber die Basalrate auf Grundlage durchschnittlicher Erfahrungswerte im Alltag festgelegt und in die Insulinpumpe programmiert wird, führten auch hier deutliche Abweichungen in den Alltagsaktivitäten zu nicht-adäquaten Glukoseverläufen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit die basale Insulinabgabe weitgehend bedarfsgerecht entsprechend des aktuellen Glukosespiegels anzupassen, was dessen ständige Messung und damit die Verbindung von CSII und CGM erfordert. Realisiert wurde das schließlich mit der Zulassung eines ersten Hybrid-AID-Systems [8].
In Bezug auf die Insulinpumpen erscheint die technologische Entwicklung zunächst ausgereizt, zumindest was die "klassischen" Pumpen mit angekoppelten Infusionsset betrifft. Anders ist das mit den sogenannten Patchpumps, von denen aktuell in Deutschland neben der Omnipod der Firma Insulet die Akku-Chek-Solo der Firma Roche verfügbar sind (Abb.1). Diese sind schlauchlos, d.h. das Infusionsset besteht nur aus der zu insertierenden Kanüle und die Pumpe wird unmittelbar auf die Hautoberfläche aufgeklebt. Modifikationen sind zu erwarten in Bezug auf die Möglichkeit ein CGM anzukoppeln und die Pumpe als AID zu nutzen. Realisiert ist das bereits bei der Omnipod 5, die noch 2023 in Deutschland zu erwarten ist. Eine weitere zu erwartenden Pumpe, die einer Patchpump ähnlich ist, aber an die ein kurzes Infusionsset angekoppelt wird ist die Kaleido der holländischen Firma ViCentra, die vermutlich ebenfalls 2023 in Deutschland verfügbar sein wird. Auch sie lässt sich mit einem CGM koppeln und als AID konfigurieren. Inwieweit die GlucoMen Day Pump der Firma Menarini verfügbar sein wird, ist unklar.
Abb. 1: Darstellung von auf der Haut zu befestigenden Insulinpumpen. Links: OmniPod (Insulet), Mitte: Kaleido (ViCentra), rechts: Accu-Chek Solo Mikropumpe (Roche-Diagnostics)
Die Entwicklung geht aktuell in Richtung kleinerer Insulinpumpen, ggf. auch ausgelegt als Patchpump. Bei Medtronic betrifft das die EOFlow Patchpump, eine Akquisition von der südkoreanischen Firma EOFlow. Die Firma Tandem bekam im Juli 2023 die FDA-Zulassung (FDA Food and Drug Administration der USA) für eine kleine Insulinpumpe namens "Mobi". Sie ist nur etwa halb so groß, wie die Insulinpumpe t:slim X2 und wird vollständig über eine mobile App gesteuert. Der Verringerung der Größe von Insulinpumpen waren in der Vergangenheit Grenzen gesetzt, die mit der Handhabung sehr kleiner Geräte bedingt waren. Die Digitalisierung, dazu gehört auch die allgemeine Verfügbarkeit von Smartphones hebt diese Limitierungen auf.
CGM-Systeme
CGM sind als Teil der Therapiesteuerung ein unabdingbarer Bestandteil eines AID. Als "Stand alone"- Gerät ist CGM "nur" ein diagnostisches Werkzeug, im Rahmen der Sensorunterstützten Pumpentherapie mit prädiktivem Hypoglykämiemanagement (MiniMed® 640G; Tandem t:slim X2 BASAL IQ) dienen die gemessenen Glukosewerte der Therapieunterstützung und werden schließlich nach Anbindung an ein AID essentiell für die Therapiesteuerung. Die Anforderungen an die Messgenauigkeit der Glukosesensoren ist dabei bei einem AID-System besonders hoch, sind die Glukosewerte doch Stellgröße für den Algorithmus zur Steuerung der Insulinabgabe. Dazu darf die MARD (Mean Absolute Relative Difference, deutsch: Mittlere absolute relative Abweichung) als Parameter für die Messwertabweichung gegenüber der Blutglukosemessung nur weniger als 10% abweichen, was seit 2015 der Fall ist [9]. Das ist auch der Grund, warum das erste AID-System erst 2016 die Marktreife erreicht hatte.
Etabliert haben sich einerseits die CGM-Glukosesensoren Guardian 3 bei den Insulinpumpen MiniMedTM 670G/770G und Guardian 3/Guardian 4 bei der MiniMedTM 780G der Firma Medtronic. Das Konzept der Firma besteht darin alle Komponenten aus einer Hand zu vereinen. Bei allen anderen AID-Systemen, also t:slim X2 CONTROL IQ der Firma Tandem, Accu-Check Insight mit dem DBLG1®-Algorithmus von Diabeloop (nicht mehr auf dem Markt), mylife Loop CamAPS FX der Firma Ypsomed, Dana RS CamAPS FX der Firma Sooil/IMS (in der Vergangenheit für Selbstzahler), OmniPod 5 der Firma Insulet (soll ab Herbst 2023 auch in Deutschland erhältlich sein) kommt der Dexcom G6-Sensor von Dexcom zum Einsatz. Die Strategie der Firma Dexcom besteht darin, ihr CGM-System für alle interessierten Firmen anzubieten, welche ihre Insulinpumpe als AID ausstatten wollen. Dieses Konzept verfolgt nun auch die Firma Abbott, welche die Kopplung ihres CGM FreeStyle Libre 3 mit dem AID mylife Loop der Firma Ypsomed zulässt.
Zu beachten ist allerdings, dass Abweichungen in der Messgenauigkeit einerseits durch Produktstreuungen auftreten können, andererseits durch die Kalibrierung. Beim Guardian 3-Sensor sind zwei bis drei Kalibrierungen pro Tag vorgesehen. Das CGM misst in der interstitiellen Flüssigkeit, also in einem anderen Kompartiment als das bei der Blutzuckermessung der Fall ist. Die Übereinstimmung der Messwerte in beiden Kompartimenten ist aber nur in einer stabilen Glukosesituation gegeben. Bei starken Anstiegen bzw. Abfällen kommt es hingegen zu physiologisch bedingten Messwertunterschieden. Wenn solche abweichenden Werte zur Kalibration genutzt werden, verschlechtert sich die Messgenauigkeit, was den Anwendern klar gemacht werden muss. Im Gegensatz dazu ist z.B. der Dexcom G6 werkskalibriert. Er muss also nicht zwangsläufig kalibriert werden, sondern nur, wenn die angezeigten CGM-Werte nicht plausibel sind und eine Kontrolle per Blutzuckermessung größere Abweichungen anzeigt. Wird dagegen der Glukosesensor FreeStyle Libre 3 verwendet, so ist eine Kalibrierung gar nicht möglich. Der Vorteil ist, dass damit keine Fehler durch die Kalibrierung gemacht werden können, der Nachteil ist, dass bei festgestellten Messwertabweichungen nur noch der Sensor gewechselt werden kann.
Algorithmen
Der Algorithmus errechnet auf Grundlage der CGM-Messwerte die Insulindosis. Allerdings treten dabei physiologische Unterschiede gegenüber Stoffwechselgesunden auf. Bei MmD erfolgt die Insulininfusion in das subkutane Gewebe und wirkt deshalb erst peripher und danach hepatisch. Das verzögert die Bremsung der hepatischen Glukoseausschüttung, die physiologisch schon in der kephalischen Phase eintritt. Weitere Verzögerungen ergeben sich durch die Messung der Glukosekonzentration in der interstitiellen Flüssigkeit. Der Unterschied zwischen Blut und Interstitium ist umso höher, je schneller die Glukose ansteigt oder abfällt (bei Mahlzeiten oder körperlicher Aktivität oder Stress). Nicht zuletzt haben Algorithmen auch bestimmte Sicherheitsaspekte zu berücksichtigen. Da der Algorithmus nicht nur die Insulinabgabe auf Grundlage der aktuellen Glukosekonzentration steuert, sondern auch zwei bis drei Stunden vorausberechnen soll, fließen als Randbedingungen die Insulinempfindlichkeit und die Insulinwirkung ein. Gegebenenfalls werden auch Informationen zur Kohlenhydrataufnahme, körperlichen Aktivität und Stress berücksichtigt [10].
Die aktuellen, in den AID-Systemen eingebrachten Algorithmen unterscheiden sich in der Art und Weise, wie verschiedene Parameter (Insulinempfindlichkeit, Insulinwirkung, Kohlenhydrataufnahme, körperliche Aktivität, Stress usw.) einbezogen und inwieweit prädiktive Glukosewerte errechnet werden [10]. Wesentliche Algorithmen sind:
- Beim MPC-Algorithmus (Model Predictive Controller) simuliert der Kontrollalgorithmus prospektiv den Glukosespiegel. Anhand eines Eingangswertes für die Insulindosis wird die sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt (z.B. 2-3 h) ergebende Glukosekonzentration berechnet. Ist diese noch zu hoch wird mit höheren Eingangswerten weitergerechnet. Ist diese zu niedrig, so werden niedrigere Insulindosen der Simulation zugrunde gelegt. In den verschiedenen AID-Systemen (es betrifft alle mit Ausnahme der Systeme von Medtronic) sind verschiedene Modifikationen des MPC im Einsatz.
- Die AID-Systeme von Medtronic verwenden den PID-Algorithmus (Proportional-Integral-Derivativ). Ausgehend von einem festgelegten Glukosezielwert z.B. 120mg/dl (6,7 mmol/l) nimmt er in Abhängigkeit von der Größe der Abweichung Änderungen vor: liegt die Glukosekonzentration in der Nähe des Sollwerts, wird eine proportionale Menge Insulin abgegeben, bei Werten über dem Sollwert ist diese stetig (integral) und bei sehr hohen Werten derivativ (starker Insulinbolus). Die Insulinempfindlichkeit ermittelt sich der Algorithmus anhand des durchschnittlichen Tagesinsulinbedarfs, die Insulinwirkdauer wird initial eingestellt.
Die klinischen Ergebnisse der in unterschiedlichen AID-Systemen eingesetzten Algorithmen sind vergleichbar und ermöglichen durchschnittlich einen Anteil der Zeit im Glukosezielbereich von 70-180 mg/dl (3,9-10,0 mmol/l) von mehr als 70% und einen HbA1c von ≤7% [8,11,12]. Das betrifft nicht nur kontrollierte Studien, sondern auch den Alltag von größeren Patientenpopulationen mit Typ-1-Diabetes (Real-World-Daten) [13,14].
Versionen von AID-Systemen
AID-Systeme werden schrittweise zum Standard der Therapie bei der Behandlung von MmT1D, was ca. 920 000 Anwender von AID-Systemen weltweit belegen [17]. Seitens der technischen Ausstattung sind aktuell unterschiedliche Konfigurationen im Einsatz:
Abb. 2: Verschiedene AID-Systeme und deren Konfiguration.Obere Ebene: Insulinpumpe, mittlere Ebene: rCGM-System, untere Ebene: Algorithmus. Das Hybrid-AID OmniPod 5 ist aktuell (08/2023) noch nicht in Deutschland verfügbar. Nicht mit aufgeführt ist die Dana RS (Sooil), die in der Vergangenheit mit dem Dexcom G6 CGM und dem CAM APS FX verbunden war, der Algorithmus war dabei aber nur für Selbstzahler erhältlich. Sie wird aktuell nicht beworben. Ebenfalls nicht aufgeführt ist die Kaleido (ViCentra), die voraussichtlich mit dem Dexcom G6 und dem Algorithmus DBLG1 (Diabeloop) ein AH-AID bilden wird
- In die Insulinpumpe ist der Algorithmus integriert. Ein Glukosesensor der gleichen Firma ist angekoppelt, z.B. über Bluetooth. Das ist bei den AID-Systemen von Medtronic der Fall, woher alle Komponenten stammen.
- In die Insulinpumpe ist der Algorithmus integriert. Angekoppelt ist aber ein CGM eines fremden Herstellers. Das betrifft zum Beispiel die AID-Systeme der Firmen Tandem und Ypsomed.
- Die Insulinpumpe besitzt eine offene Schnittstelle, an dem ein beliebiges CGM angekoppelt werden kann. Die Verbindung zwischen beiden Komponenten wird auf der App eines Smartphones realisiert, in welcher auch der Algorithmus implementiert ist. Das war zum Beispiel bei der Dana RS mit CAM APS FX der Fall.
Die letztgenannte Lösung ist aus der Sicht der Patienten sicher die flexibelste und wird in der Zukunft vermutlich eine zunehmende Bedeutung haben.
Mittlerweile existieren bereits zwei Generationen von AID-Systemen:
- Die erste Generation waren Hybrid-AID-Systeme (H-AID), wie die MiniMedTM 670G. Hybrid ist ein solches System deshalb, weil nur die basale Insulinabgabe automatisch an die aktuelle Glukosesituation adaptiert wird. Der Bolus zu den Mahlzeiten und ggf. ein Korrekturbolus sind manuell durch den Anwender vorzunehmen [8].
- Die zweite, aktuelle Generation sind die sogenannten Advanced Hybrid-AID-Systeme (AH-AID), wie z.B. t:slim X2 CONTROL IQ und die MiniMed 780G. Neben der adaptiven basalen Insulingabe erfolgt auch die Korrektur erhöhter Glukosewerte automatisch. Der Mahlzeitenbolus muss aber auch weiterhin manuell gegeben werden. Allerdings ist durch die Option der automatischen Korrektur die genaue Schätzung der Kohlenhydrate und die Berechnung des Insulinbolus nicht mehr so exakt notwendig, wie bei dem H-AID. Abweichungen in beidem kompensiert das System über Korrekturboli.
- Die dritte Generation werden Voll-AID-Systeme sein.
Zukünftige AID-Systeme
Es sind weiter AID-Systeme in der Entwicklung. So gibt es das Konzept von bi-hormonellen Varianten. Bekannt dafür sind die iLet der amerikanischen Firma Beta-Bionics und eine ähnliche Pumpe der holländischen Firma Inreda. In beiden Systemen erfolgt simultan die Steuerung von Insulin- und Glukagoninfusion. Denkbar ist deren Einsatz bei MmD, die besonders zu schweren Hypoglykämien neigen, wie solche mit Hypoglykämiewahrnehmungsstörungen oder mit Pankreasektomie. Mit einen bi-hormonellen System wäre eine sich ausbildende Hypoglykämie gut beherrschbar [15]. Andere bi-hormonelle AID-Systeme könnten eine Kombination mit GLP-1 oder Amylin (Pramlintide) sein [16]. In diesen Fällen würden die prandialen Glukosespitzen verringert.
Ein etwas exotisches Zukunftsprojekt ist ein EU-Projekt mit dem Namen "FORGETDIABETES" [17]. Der MmD bekommt eine implantierbare Insulinpumpe in den Bauchraum eingesetzt. Wenn Insulin unmittelbar in den Bauchraum abgegeben wird ist die Insulinwirkung näherungsweise physiologisch. Solche Pumpen gab es über viele Jahre (z.B. MiniMed 2008). Eine ihrer Nachteile bestand darin, dass alle ca. 3 Monate das Insulin durch die Bauchdecke in den Pumpenkorpus eingespritzt werden musste. Bei dem Projekt "FORGETDIABETES" erfolgt die Insulinbefüllung über eine zu schluckende Insulinkapsel, also über den Intestinaltrakt. Die Kapsel wandert zu der Pumpe, die an den Dünndarm angebracht ist. Die Pumpe nimmt die Kapsel auf und leert sie in ihrem Korpus. Anschließend wird die Kapsel ausgeschieden. Inwieweit ein derartiges Projekt zu einem marktfähigen Produkt führen wird ist nicht zu beurteilen. Solche Projekte zeigen aber, dass durchaus verschiedene Ideen zu interessanten Innovationen führen können.
Generell lässt sich feststellen, dass AID-Systeme dabei sind zum Standard der Therapie des Typ-1-Diabetes zu werden. Sie führen zu besseren klinischen Ergebnissen als jede andere therapeutischen Option. Dabei wird der MmD in seinem Therapiemanagement entlastet. Das verringert die diabetesbedingten Belastungen, verbessert die Therapiezufriedenheit und erhöht die Lebensqualität von MmD.
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (9) Seite 10-16
