Der Typ-2-Diabetes (T2DM) wird je nach wissenschaftlichem Fokus mit ganz unterschiedlichen Attributen der Pathogenese besetzt. Aus genetischer Sicht ist die Erkrankung zu einem hohen Grade erblich, was durch genomweite Analysen mit hunderten signifikant assoziierter SNPs gut belegt ist. Aus ernährungsmedizinischer Sicht resultiert der T2DM vor allem aus einer Mischung aus Überernährung und qualitativer Fehlernährung. Aus sportmedizinischer Sicht ist Bewegungsarmut ein wesentlicher Aspekt, warum eine energiedichte Nahrungszufuhr regelhaft zur positiven Energiebilanz führt und nicht durch ausreichende Muskelaktivität balanciert wird. Mikrobiomveränderungen, Inkretine, Inflammationstrigger – allesamt zweifellos relevante Mediatoren, aber nicht die primären Ursachen, die den pandemischen Zuwachs so vieler metabolischer Erkrankungen binnen weniger Jahrzehnte erklären.

Soziale Risikofaktoren für Typ-2-Diabetes

Unsere genetische Ausstattung datiert Jahrmillionen zurück, eine Anpassung an moderne Verhältnisse war schlichtweg unmöglich. Überernährung gab es in der Vorzeit allenfalls saisonal in vorzivilisatorischen Phasen oder seit der Entwicklung städtischer Gesellschaften für reiche Oberschichten. Die große Verbreitung der Überernährung und des Bewegungsmangels ist eine zivilisatorische "Errungenschaft", die nicht alle Länder gleichermaßen trifft.

Entscheidender Nährboden ist die soziale Indolenz gegenüber Armut in allen Facetten. Armut, die gesunde Ernährung unerschwinglich macht – auch beim Discountereinkauf. Armut, die Bildungschancen verschlechtert – in allen Ausbildungsstufen. Armut, die überproportional Migranten betrifft – aus dem Heimatland mitgebracht oder im neuen Land erworben. Armut, die mit Kinderreichtum einhergeht – weil viele Kinder mehr Geld kosten, in manchen Ländern aber auch das Überleben der Eltern sichern. Armut, die mit dem Alter entsteht – falls man als einkommensschwacher Mensch ein höheres Alter überhaupt erreicht. Armut, die mit psychischen Erkrankungen verknüpft ist – als Ursache und als Folge davon.

Armut ist der wesentliche Faktor für gesellschaftliche Ungleichheit, der sich z. B. in den USA und auch Deutschland in den letzten Jahrzehnten nicht abgeschwächt hat, während andere Gründe der Benachteiligung an Bedeutung für die Diabetesentwicklung verloren haben [Saelee 2023, Statista 2024]. Nicht alle reichen Länder schneiden in puncto Armutsbekämpfung gleichermaßen schlecht ab. In skandinavischen Ländern, die gesunde Lebensmittel mit ver-lässlicher Sozialfürsorge erschwinglich halten, die Bildungsgerechtigkeit fördern, die armutsgefährdete Einwanderer zielgerichtet bei der Integration unterstützen, die Kinder und ältere Menschen gleichermaßen gesellschaftlich wertschätzen und in Krisenzeiten auffangen, die eine generell offene Wahrnehmung und rasche Behandlung psychischer Erkrankungen leisten, liegen die Diabetesraten deutlich niedriger als in den USA, in Großbritannien oder Deutschland [Sun 2022].

Und auch innerhalb Deutschlands ist der T2DM samt seiner Vorläufer (Adipositas, Prädiabetes) keine homogen verteilte Erkrankung. In Süddeutschland sind die Prävalenzen vergleichbar mit Finnland, in NRW und den östlichen Bundesländern sowie Berlin liegen sie eher auf US-Niveau [Schipf 2012, Neupane 2024]. Solche starken regionalen Unterschiede sind auch aus anderen Ländern bekannt und beruhen vor allem auf der medizinischen und sozialen Versorgungs- sowie der allgemeinen Einkommenssituation, nicht aber dem Altersdurchschnitt. Auch der Grad der Urbanität leistet nur einen kleinen Beitrag zur Regionalität von Morbidität und Mortalität [Seiglie 2021, Jain 2023].

Veränderte Ernährungskultur im letzten Jahrhundert

Die Ernährungskultur der vergangenen hundert Jahren unterliegt dem gleichen beschleunigten permanenten Wandel wie alle anderen Lebensbereiche der Menschheit. Durch technische Innovationen in der Produktion, Distribution und Zubereitung von Lebensmitteln sowie durch Globalisierung und Ausdifferenzierung von Ernährungskulturen muss man gegenwärtig mit Blick auf Ernährungskultur stehts von einer Ernährungskultur der Ernährungskulturen und vor allem auch von einer Ernährungskultur des Ernährungskulturkontakts sprechen [Kofahl 2014]. Das heißt nicht nur, dass unterschiedliche regionale und nationale Esskulturen (bayrische und norddeutsche, italienische und chinesische etc.) auf engstem Raum zu finden sind und Auswahloptionen erhöhen. Es bedeutet auch, dass verschiedene Auffassungen, welche Funktionen die alltägliche Ernährung primär und sekundär zu erfüllen hat, divergieren, zumal das Stillen von lebensbedrohlichem Hunger für die allermeisten Menschen in den Rang einer Hintergrundsbefriedigung gerückt ist [Hahn 2010] – selbst bei denjenigen, die von einem Armutsrisiko betroffen sind. Auch wenn in ernährungswissenschaftlichen und ernährungsmedizinischen Diskursen oftmals die Auffassung vorherrscht, Ernährung sei primär hierarchisch unter einem Gesundheitsaxiom zu organisieren, entspricht dies keineswegs einem gesamtgesellschaftlichen Konsens, in dem vor allem weiterhin der Geschmacks- und Genussaspekt im Vordergrund steht [Kofahl 2010, BMEL 2023], aber auch andere Ernährungsaxiome wie Regionalität, Preisgünstigkeit, Quantität, Muskelaufbau etc. ausschlaggebend sind und Gesundheit nur eine nachgeordnete oder auch gar kein strukturierendes Motiv darstellen kann. Diese verschiedene Ernährungskulturen existieren alle gleichzeitig miteinander und stehen in permanentem Kontakt und auch in einem Wettbewerb miteinander, wobei sie nicht alle widerspruchsfrei hierarchisch unter einen Hut zu bekommen sind, sondern von Akteuren Selektionsentscheidungen verlangen, um die Komplexität der Situation handhabbar zu machen.

Zu dieser Ausdifferenzierung hat fraglos einerseits das zunehmende Warenangebot im Lebensmittelsegment beigetragen, zum anderen ist es zu einer Erosion traditioneller Strukturen gekommen, die auch das Ernährungshandeln betrifft [Hirschfelder 2005]. Was man wie zu essen und zu trinken respektive nicht zu essen und zu trinken hat, wird immer weniger über die in relativ feste Standes- oder Klassenstrukturen eingebettete Traditionen bestimmt, die dann auch weitestgehend oral oder durch Anschauung tradiert wurden – also ganz stark von Hausfrau zu Hausfrau, von Mutter zu Tochter in konkreter kulinarischer Praxis. Stattdessen gilt nun auch bezüglich der Ernährung immer mehr, dass alles, was wir wissen, wir durch die Massenmedien wissen [Luhmann 1989]. Und treten zunächst Kochbücher, Zeitschriften oder das Fernsehen als massenmediale Vermittler alimentärer Ideen und Konzepte auf, sind es mit Beginn des Internetzeitalters neue Formen und stetig diversifizierende Wissensanbieter wie z. B. Food-Influencer, die bezüglich der alltäglichen Ernährung der Menschen Gehör finden und alimentäres Agendasetting betreiben[Endres 2018] – unabhängig davon, ob das von ihnen vermittelt und gerahmte Wissen etwa akademisch-wissenschaftlichen Kriterien standhalten könnte oder nicht.

Die Rolle von Influencern bei der Nahrungsauswahl

Massenmedien bieten in keiner ihrer Spielarten einen rein objektiven Spiegel der materiellen Realität und werden niemals ohne Voreingenommenheiten derjenigen realisiert werden, die sie gestalten oder ihre Formate als Akteure lebendig gestalten. Die Medienwirkungsforschung verweist schon lange auf "Gatekeeper" und "Meinungsmacher", die auch im klassischen Print-Journalismus wie auch im TV eine gewichtige Rolle dabei spielen, was dem Publikum aus der unendlichen Vielfalt der Möglichkeiten selektiv präsentiert und wie es diskursiv gerahmt wird [Jäckel 2019]. Das betraf und betrifft immer auch die massenmediale Kommuni-kation über Lebensmittel.

Im Zuge der Verbreitung von Social Media Plattformen wie bspw. YouTube, Instagram, TikTok oder Twitch wird seit inzwischen unter dem terminologischen Label "Influencer" ein Phänomen gesellschaftlich diskutiert und inzwischen auch wissenschaftlich untersucht, bei dem Mediengestalter auf diesen Plattformen mit überproportional großer Reichweite (gemessen an Abonnenten oder Beitragsaufrufen) ihre Mitteilungen verbreiten, wobei davon ausgegangen wird, dass diese Reichweite mit einem gewissen Einfluss auf das alltägliche Leben der Medienkonsumenten ausübt. Bezüglich des alltäglichen Essverhaltens bedeutet dies, dass bspw. einzelne Lebensmittel bekannt gemacht oder beworben werden, aber auch, dass ganze ernährungskulturelle Konzepte – wie bspw. Veganismus, zuckerfreie oder Halal-Ernährung – beworben oder diskreditiert werden. Historisch gesehen handelt es sich um einflussreiche Botschafter diverser alimentärer Ideen und Produkte zwar um kein völlig neues Phänomen – von "Kohlrabi-Aposteln" [Albrecht 2022] über Fernsehköche und Diätpäpste –, was jedoch zunimmt, ist die diversifizierte Omnipräsenz, mit der nun um die Aufmerksamkeit und auch die Kaufkraft der angesprochenen Zielgruppen geworben wird.

Dabei dominieren in den Beiträgen der Influencern – auch von solchen, die sich mit ihren medialen Beiträgen vor allem an Kinder und Jugendliche wenden (Kid- und Youngfluencer) – mit der reichweitenstärksten Präsenz oftmals Lebensmittel, die in Bezug auf ihren ernährungsgesundheitlichen Gehalt kritisch gesehen werden, zum Teil werden Speisen und Getränke (wenngleich oft unentgeltlich) positiv in Szene gesetzt, die nach rechtlichen Kriterien nicht in Kinder- und Jugendformaten beworben werden dürften [Effertz 2021, Winzer 2023]. Hier zeigt sich, dass regulative Maßnahmen noch schwieriger umzusetzen sein dürften als dies im Vergleich zu klassischen Medienformaten, wie bspw. dem Fernsehen oder dem Kino, in de-nen allerdings ebenfalls von ernährungswissenschaftlichen Fachgesellschaften überwiegend ernährungsgesundheitlich kritisch eingestufte Lebensmittel gezeigt werden [Rössler 2006, Johnson 2013] und dennoch bisher wenig gesundheitspräventive Veränderungen angestoßen werden konnten [Rössler 2020].

Ein erster, immer noch ausstehender Schritt wäre es, immerhin einmal ein konsequentes wissenschaftliches Monitoring der alimentären Medieninhalte zu institutionalisieren [Rössler 2020]. Allerdings sollte hierbei nicht übersehen werden, dass es nicht nur um die reine Quantität von in Szene gesetzten vermeintlich gesunden bzw. ungesunden Lebensmitteln gehen kann. Es müsste auch die Art und Weise der durch Influencer betrieben alimentären Laienbildung in den Blick genommen werden, bei der sich gerade Influencer, die sich zum Thema einer aus ihrer Sicht "gesunde Ernährung" äußern, oftmals "am Rande einer Essstörung [bewegen]" und ein Zusammenhang zwischen einem hohen Konsum sozialer Medien – respektive Influencern – und der Ausbildung von Essstörungen aufgrund falscher oder verzerrter Informationsaufbereitung nahezuliegen scheint [Endres 2018, Engel 2024]. Die Qualität der von Influencern und privaten Websites kolportierten Ernährungsempfehlungen – für die Allgemeinbevölkerung oder bestimmte Zielgruppen – weicht sehr oft von etablierten Leitlinien der Fachgesellschaften ab; verschiedene Studien sehen 50 bis 90 % der ausgesprochenen Ratschläge als nicht evidenzbasiert an [Denniss 2023, Post 2010, Denniss 2024].

Auf der anderen Seite ist eine einseitige Verteufelung massenmedialer Formate zu kurz gedacht und blendet das alimentäre Aufklärungspotential für einen gesundheitsförderlichen Lebensstil aus, welches sowohl in bei den klassischen massenmedialen Meinungsmachern als auch bei den zeitgenössischen Influencern liegt [De Jans 2021], unter letzteren gibt es sogar eine wachsende Anzahl von Akteuren, die, indem sie explizit ihre Diabetes-Erkrankung zum Hauptthema machen, ein Communitygefühl unter ihren Rezipienten erzeugen und, wenngleich womöglich in begrenztem Rahmen, zu einem verantwortungsvollen Umgang informieren und anregen [Wiedicke 2022].

Lebensmittelpreise im Kontext gesunder und sozialpolitisch verantwortungsvoller Ernährung

Eine gesunde Ernährung kann sehr unterschiedlich definiert werden, die heutigen Ernährungsleitlinien ermöglichen eine Bandbreite von Konzepten, die jeglichen Nährstoffbedarf adäquat decken und zugleich evidenzbasiert mit einer Verbesserung von kardiovaskulären Risikoparametern oder sogar harten Endpunkten assoziiert sind [Skurk 2022, Diabetes and Nutrition Study Group 2023]. Gleichwohl ist aber deutlich, dass die Erfüllung dieser Empfehlungen an oben genannten sozialen Hürden oftmals scheitert. Armut verhindert eine gesunde Ernährung – präventiv und im therapeutischen Setting.

Die Datenlage ist international sehr einhellig. Wissen um relevante Ernährungsfaktoren, Zeit zur Zubereitung und finanzielle Ressourcen zum Erwerb gesunder Produkte sind kritische Elemente [Achón 2017]. Die frei gewählte Durchschnittsernährung in westlichen Ländern ist der preiswerteste Weg, den täglichen Energiebedarf zu decken, deckt aber nicht die Ernährungsempfehlungen für kritische Nährstoffe [Fulgoni 2019]. Für Menschen mit geringem Bildungsniveau ist die Preisspreizung zwischen gesunder und ungesunder Ernährung zwar kleiner als für höher gebildete Menschen (die auch zu hochpreisigen, nicht evidenzgeforderten Produkten greifen), aber dennoch kaufentscheidend [MacKenbach 2019].

Die mediterrane Ernährung als bestes Ernährungskonzept erfordert einige hochpreisige Lebensmittel [Tong 2018]. Selbst in Mittelmeerländern mit entsprechender kulinarischer Tradition ist dieses Ernährungsmodell gut 30 % teurer als das ungesunde "westliche Nahrungsmuster" und schränkt damit Erwachsene wie Kinder in der Wahl für einen präventiven Lebensstil ein [Fresán 2019, Albuquerque 2017, Schroder 2016]. Auch low-carb ist für einkommensschwache Haushalte besonders unerschwinglich, wie Daten aus Neuseeland zeigen [Zinn 2019]. Dabei sind gerade diese Haushalte vermehrt von diätetisch zu behandelnden Erkrankungen betroffen. Und umgekehrt: Wer mehr Geld für seine Ernährung aufbringt, hat epidemiologisch auch geringere Risiken für metabolische Erkrankungen [Schröder 2006, Anekwé 2015].

Diese erhöhten Krankheitsrisiken resultieren dabei aus zwei finanziellen Blickrichtungen: gesundes Essen ist für die meisten Produktgruppen zu teuer, preiswerte Lebensmittel sind im überwiegenden Maße energiedichte, hochverarbeitete, eiweiß- und ballaststoffverarmte Produkte [Drewnowski 2009, Faria 2016, Stroebele-Benschop 2020].

Unzureichende Einkommensverhältnisse führen daher in Deutschland nur in relativ seltenen Fällen zu einer quantitativen Unterversorgung mit Lebensmitteln überhaupt; die qualitative Unterversorgung äußert sich aber sogar in Übergewicht und dessen metabolischen Folgen [Reeves 2017]. Die Versorgung mit Mikronährstoffen ist dabei kritisch, während reine Energieträger abgedeckt oder übererfüllt sind [Biesalski 2021]. Ein gewisses Ausgleichspotential schafft der Austausch von tierischen durch pflanzliche Produkte. Sowohl Kindern als auch Erwachsenen ist damit eine Bedarfsdeckung leichter möglich [Alexy 2012, Alexy 2014], wenngleich pflanzlich betonte Ernährungsmuster im metabolischen Outcome nicht überlegen sein müssen. In Deutschland sind nach neuesten Daten gerade Ernährungsmuster mit dem stärksten Effekt auf Körperzusammensetzung, Stoffwechsel und Langzeitprognose (Mediterranes Muster und low-carb) besonders teuer. Deren Preisunterschied zur erschwinglichsten Ernährungsform – low-fat und vegetarische Diät – beträgt 40-60 %. Die absoluten Preisniveaus aller hierbei verglichenen Ernährungsmuster waren dabei zum Untersuchungszeitpunkt höher als der im Bürgergeld (damals noch ALG II) angesetzte Betrag zur Ernährung. Auch die gängigen Zuschüsse für medizinisch notwendige Ernährungsvorgaben deckten das Defizit nicht ab [Kabisch 2021]. Der tatsächliche finanzielle Bedarf liegt auch nach anderen Arbeiten deutlich höher [Thiele 2014, Preuße 2018].

Die Gesellschaft in der Pflicht – notwendige Maßnahmen

Die Aushandlung, Steuerung oder gar Festlegung von Marktpreisen für Lebensmitteln ist ein komplexes Terrain, es gleicht einem sozial- und ernährungspolitischen Minenfeld. Gleichwohl muss man grundlegend feststellen, dass Lebensmittelpreise in aller Regel nicht allein aus Mechanismen einer unsichtbaren Hand eines irgendwie gearteten absolut "freien Marktes" resultieren, sondern nahezu immer von politökonomischen Überlegungen zwar nicht determiniert, aber doch zumindest beeinflusst sind. Eine solche Preispolitik kann man schon bei von politischen Mehrheitsverhältnissen abhängigen Agrarsubventionen beobachten. Hier können bspw. Anbaumethoden subventioniert werden, die zu mehr und damit im Handel potenziell günstigeren Lebensmitteln führen, die als gesundheitsförderlicher angesehen werden als andere, z. B. "Gemüselandbau" vor "Fleischproduktion" oder "mit weniger Pestizid belastete Lebensmittel" etc.

Der nächste Schritt ist die steuerliche Be- oder Entlastung von ausgewählten Lebensmittelgruppen, ein Verfahren, welches in Bezug auf "Fleischsteuer" oder "Zuckersteuer" – wie es sie seit 2016 in Großbritannien [Gov.uk 2016] und seit 2018 in Irland [Gov.ir 2018] gibt – derzeit eine große Aufmerksamkeit erfährt. Die ernährungspädagogische Intention dahinter ist offensichtlich und das Instrument scheint zur Steuerung des Konsumverhaltens attraktiv zu sein: mit gestiegenen Preisen, so legen auch ausgewählte Studien nahe, sinkt mittelfristig der Zuckergehalt in Getränken und es wird von Konsumenten auf weniger zuckerhaltige Getränke ausgewichen [Bandy 2020].

Dieser Lenkungswirkung steht jedoch berechtigte Kritik gegenüber – und zwar nicht allein diejenige von Seiten industrieller Produzenten. Es sind vor allem sozialpolitische Faktoren, welche die Schattenseiten bei der Anhebung von Verbrauchssteuern darstellen. Von Ver-brauchssteuern, explizit der sogenannten Mehrwert- oder Umsatzsteuer, sind sozioökonomisch schwache Milieus der Bevölkerung überproportional betroffen, da sich diese Steuern eben gerade nicht wie andere progressive Steuern an der Einkommens- und Vermögenssitu-ation der Besteuerten, in diesem Fall der Konsumenten, orientieren. Steigende Preise im Lebensmittelsegment bewirken somit in der Tat sofort einen Effekt im knappen Haushaltsbudget dieser Konsumentengruppen. Das mag von den Initiatoren gewollt sein, es wird aber somit steuerpolitisch der schwächste Teil der Bevölkerung zur einer an Gesundheitsparametern orientierten Diät konditioniert, die nicht aus intrinsischen Motiven der Betroffenen herrührt oder ihnen sogar diametral entgegensteht. Es kann in solchen Fällen durchaus von einem paternalistischen Diätregime gesprochen werden [Klotter 2015]. Betrifft die Besteuerung nur (künstlich gesüßte) Getränke, so ist auch einkommensschwachen Haushalten ein Auswei-chen auf preiswerte Alternativen einfach möglich. Gilt die Besteuerung auch für hochverarbeitete Speisen, ohne dass ein steuerlicher Ausgleich bei gesunden Lebensmitteln erfolgt, verschiebt sich das Problem in Richtung quantitative Mangelernährung.

Aus sozialpolitischer Perspektive stellt sich die Sachlage etwas anders dar, wenn man anstatt von zusätzlichen Belastungen in Richtung steuerliche Entlastung von als gesundheitlich besonders wertvoll betrachteten Lebensmitteln umstellt. Seit 2022 wäre es von gesetzlicher Seite prinzipiell möglich, die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel – die zu den sogenannten "lebensnotwendigen Gütern" gezählt werden – bis auf Null Prozent zu senken [Scholle 2022]. Eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf zum Beispiel als gesundheitlich besonders wertvoll geltende Lebensmittel wie Gemüse, Obst oder Vollkornprodukte hätte nicht nur den Effekt, dass die davon betroffenen Lebensmittel preislich attraktiver würden. Sie würden auch besonders für sozioökonomische schwächere Milieus interessanter, weil diese Milieus von Mehrwertsteuerentlastungen am deutlichsten profitieren [Scholle 2022]. So führt die Steuerabsenkung für Obst und Gemüse nachweislich zu einem gesteigerten Verkauf dieser Produkte [Andreyeva 2022] Im europäischen Vergleich finden sich bspw. in Bezug auf Steuersätze auf Obst und Gemüse sehr unterschiedliche Größen, so erheben Ungarn 27 Prozent, Dänemark 25 Prozent oder Litauen 21 Prozent Steuern auf diese Produktgruppen, während Großbritan-nien, Irland, Malte und Polen hier gar keine Steuern erheben. In den D-A-CH-Länder werden 10 Prozent (Österreich), 7 Prozent (Deutschland) und 2,6 Prozent (Schweiz) erhoben [Gauß 2022].

Sofern steuerliche Eingriffe nicht gewünscht sind, muss das Grundeinkommen der Bevölkerung angehoben werden – für reine Sozialleistungen, aber auch für Menschen mit rein beruflichem Einkommen am Unterrand des Lohnspektrums. Gesunde Ernährung berührt den Kern der menschlichen Würde – sie muss daher universell ermöglicht werden, ohne administrative Voraussetzungen.

Für Kinder bis ins Schulalter stellt die Versorgung mit gesunden Mahlzeiten in Ausbildungsstätten eine essentielle Komponente dar. Gleichzeitig muss es gelingen, nachweislich ungesunde Produktgruppen stärker aus dem schulischen Kontext zu verdrängen [Boehm 2020, Hecht 2023] und sie durch ästhetisch wie geschmacklich ansprechende Alternativangebote zu substituieren. Neben rein baulichen und schulorganisatorischen Maßnahmen gehört hierzu auch ein mögliches Verbot für die gezielte an Kinder gerichtete Bewerbung zucker-, salz- und fettreicher Lebensmittel. Das schließt neutrale Verpackungen, keine Werbeplakatierung und Anpassungen der Fernsehwerbung (inhaltlich und zeitlich) ein [Gage 2024, Dillman 2023].

Für Erwachsene können bessere Produktinformationen eine Hilfestellung sein; Nutri-Score und NOVA-System haben noch ihre methodischen Schwachstellen, zeigen aber in der praktischen Anwendung einen Effekt auf die Lebensmittelauswahl [Andreeva 2021]. Voraussetzung für den optimalen Effekt ist eine verbindliche Anwendung, die evidenzbasierte Definition der Labels und die Sicherstellung von erschwinglichen Produktalternativen. Mindestens genauso wichtig ist auch die Etablierung ernährungswissenschaftlich abgesicherten Wissens sowie die Vermittlung kulinarischer Bildung in der Breite der Allgemeinbevölkerung, um diese in Bezug auf ihre alltäglichen Ernährungsentscheidungen zu empowern.

Merksätze
  • Armut ist in westlichen Ländern der treibende und bleibende Risikofaktor für metabolische Erkrankungen.
  • Die Modernisierung der Ernährungskultur erbrachte eine Diversifizierung von Ernährungsformen, -motiven und -vorbildern.
  • Zeitgenössische Influencer besitzen einen großen Einfluss auf Ernährungstrends in der gesamten Bevölkerung – nicht nur zum Guten.
  • In allen westlichen Ländern ist gesunde Ernährung deutlich teurer als energiedichte, schnell verzehrbare Convenience-Produkte.
  • Neben fiskalischen Maßnahmen, stärkerer Aufklärung und der Beschränkung von Werbung für ungesunde Produkte ist die markante Verbesserung der Einkommenssituation großer Bevölkerungsteile essentiell.


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Erschienen in: Diabetes, Stoffwechsel und Herz, 2024; 33 (6) Seite 332-337