Corona hat gezeigt, wie wichtig digitale medizinische Angebote sind. Was hat sich verbessert in den vergangenen fünf Jahren – wo gibt es Schwächen? Im Gespräch mit Dr. Dr. Hans-Jürgen Bickmann und Professor Diethelm Tschöpe.

Im Interview:

Dr. med. Dr. phil. Hans-Jürgen Bickmann
Vorsitzender des Ärztlichen Beirats Digitalisierung in NRW
Aufsichtsratsvorsitzender Gesundheitsregion Siegerland
Gynäkologische Praxisklinik Siegen

Prof. Dr. med. Dr. h.c. Diethelm Tschöpe
Vorsitzender der Stiftung DHD (Der herzkranke Diabetiker)
Klinikdirektor Diabeteszentrum (Diabetologie, Endokrinologie, Gastroenterologie), Herz- und Diabeteszentrum NRW
Universitätsklinik der Ruhr-Universität

Herr Dr. Dr. Bickmann: Corona hat die Nachfrage nach digitalen Angeboten und Telemedizin beschleunigt. In einem Interview vor fünf Jahren hier im DF kritisierten Sie die überwiegend proprietären Lösungen im regulären Versorgungsmarkt, auch Interoperabilität, die fehlt. Was hat sich seit 2017 getan oder auch nicht getan?

Dr. Dr. Hans-Jürgen Bickmann: Am 17.12.2017 schlossen die KBV und der GKV-Spitzenverband die Vereinbarung zur Finanzierung und Erstattung der bei den Vertragsärzten entstehenden Kosten im Rahmen der Einführung und des Betriebes der Telematikinfrastruktur gemäß § 378 Absätze 1 und 2 SGB V. Das war gewissermaßen der Startschuss für etliche Anwendungen aus den unterschiedlichsten Quellen, aber unter der Voraussetzung der Interoperabilität sämtlicher Arztinformationssysteme: Notfalldatenmanagement, der elektronische Medikationsplan, die KIM (Kommunikation im Medizinwesen, Anm.d.Red.), die elektronische Patientenakte und das elektronische Rezept. Soweit die Voraussetzungen. Allein, es fehlt an der breiten Umsetzung. So wurde der Zeitplan für das eRezept für apothekenpflichtige Arzneimittel mehrfach verschoben. Aus der Pflichtanwendung vom 1.1.2022 für alle wurde eine Testphase von Juli bis September 2022. Komplikationen beim Zusammenspiel der technischen Komponenten haben auch bei der eAU (elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, Anm.d. Red.) hohe Fehlerquoten verursacht. Häufig fehlten dann technische Ansprechpartner oder die IT-Dienstleister waren überlastet. Seitdem die PKV wieder Partner der gematik ist, besteht Hoffnung auf eine durchgängige Lösung für alle Versorgungsbereiche.

In der Diabetologie, Herr Prof. Tschöpe, ist die Datenerfassung mittels elektronischer Tools schon viele Jahre Standard. Corona hat aber auch hier neuen Schwung in Digitalangebote gebracht. Was ist neu? Welche Innovationen gibt es?

Prof. Dr. Dr. Diethelm Tschöpe: Die Auswirkungen von zwei Jahren Corona-Pandemie auf die Dynamik der Arzt-Patienten-Beziehung bzw. die der Erfordernisse für eine Patientenbetreuung trotz oder gerade in Pandemiezeiten hat dazu geführt, dass viele existierende Angebote über Plattform-Strategien miteinander vernetzt wurden. Damit ist eine virtuelle Diabetologie, sowohl in der medizinischen Interpretation von Glukosewerten mit dazugehöriger digitaler Arzt-Patienten-Sprechstunde und ergänzender Vermittlung von Diabeteswissen über digitale Lernangebote möglich geworden. Man kann sagen, dass Vernetzung und Interoperabilität bereits existierender Systeme die eigentliche Innovation darstellen. Interoperabilität fehlt noch an vielen Stellen, nur so wird virtuelle Diabetologie umfassend möglich.

Bei telemedizinischen Konzepten denkt man weniger an Diabetologie, eher an Kardiologie, Neurologie, Intensivmedizin und Onkologie. Warum tut sich die Diabetologie so schwer? Welche Potentiale werden verschenkt?

Prof. Dr. Dr. Tschöpe: Wenn man das Komorbiditätsprofil der Patienten mit Diabetes aufruft, so sieht man sofort, dass es gerade die Patientengruppe der herzkranken Diabetiker ist, die besonders von den in Ihrer Frage enthaltenen Angeboten profitieren. Es geht eben nicht nur um Blutzucker, sondern auch um Blutdruck, Gewicht und andere klinische Features, mit deren Behandlung sich gerade Diabetiker in einem holistischen Betreuungsansatz in ihrer Prognose verbessern lassen. Dies gilt allerdings umgekehrt auch für den Blutzucker im kardiologischen oder neurologischen Betreuungssetting. Auch hier geht es um die Individualisierung des Betreuungsangebots, das sich an der individuellen Erkrankungslage des Patienten orientiert und alle im Versorgungsprozess Beteiligten, wie z.B. Pflegedienst, Ärzte, Apotheken, aber auch Kostenträger miteinander verbindet. Ein besonders gutes Beispiel für eine solche Steuerung ist das Berliner Digital-Projekt PräVaNet (Programm zur Optimierung der kardiovaskulären Prävention bei Typ-2-Diabetes, Anm.d.Red.), in dem eine solche risikoadjustierte Betreuung über entsprechende Apps gesteuert wird, die die Akteure miteinander verbinden. Unstrittig ist, dass therapeutischer Nutzen nur durch die Vernetzung über Fachgebietsgrenzen hinaus endpunktrelevant erreicht wird.

Noch eine letzte Frage an Sie, Herr Prof. Tschöpe, zum Thema Künstliche Intelligenz (KI). KI kann die therapeutische Entscheidung des Arztes nicht ersetzen, aber bei der Diagnostik helfen. Wie fortgeschritten und verlässlich sind Algorithmen-basierte Untersuchungen in der Diabetologie und Kardiologie?

Prof. Dr. Dr. Tschöpe: Erfahrungsgemäß haben sich Algorithmen-gesteuerte Betreuungs- und Interventionssysteme, vor allem bei umschriebenen Krankheitsbildern, wie etwa der terminalen Herzinsuffizienz (Steuerung durch den Lungenarterien-Wiederstand) als nützlich erwiesen. Zunehmend entwickeln sich weitere Deep Learning-Algorithmen, die nunmehr mit der KI-basierten Augenhintergrundanalyse auch die klinische Diabetologie auf der Klinikebene erreicht haben. Damit ist es möglich, primärärztlich solche Patienten zu identifizieren, die einer fachärztlich schnellen Intervention bedürfen und gleichzeitig alle Patienten in einen entsprechenden Screeningprozess einzubringen. Nicht vergessen werden dabei darf, dass insbesondere Diabetiker häufig auch von kardiologischen Algorithmen, etwa in der Erkennung von Herzinsuffizienz oder Herzrhythmusstörungen oder auch bei der Diagnose der diabetischen Polyneuropathie, besonders profitieren. Allerdings sollte die Algorithmen-gesteuerte Diagnostik und Therapiesteuerung immer ärztliche kontrolliert bleiben.

In Nordrhein-Westfalen (NRW), Herr Dr. Dr. Bickmann, können seit 2020 Telekonsile mit Experten der Intensivmedizin und Infektiologie über das Virtuelle Krankenhaus (Vkh) angefordert werden. Auch Herzinsuffizienz und seltene Erkrankungen sind Indikationen. Die Landesregierung spricht beim Vkh von einem Leuchtturmprojekt. Könnte ein Modell wie dieses in Deutschland Schule machen?

Dr. Dr. Bickmann: Das Virtuelle Krankenhaus geht auf eine Initiative des alten und wohl auch neuen Gesundheitsministers in NRW Karl-Josef Laumann zurück. Das Krankenhauswesen, das neben dem Bildungswesen allein in Länderhoheit liegt, leidet bundesweit am Investitionstau durch die Länder. Krankenhäuser der Regelversorgung können in der Regel nicht alle benötigten Expertisen bereitstellen. So wurde das Virtuelle Krankenhaus als eine Konsil-Plattform konzipiert. Ärztliche Konsile für die ambulante und stationäre Versorgung können niederschwellig, in der Pilotphase noch kostenfrei angefordert werden. Derzeit stehen Experten für Intensivmedizin, Infektiologie, Herzinsuffizienz, Lebertumore und seltene Erkrankungen bereit. Wünschenswert sind Erweiterungen um Querschnittsdisziplinen wie Endokrinologie und bildgebende Verfahren. Die Leitung liegt in den Händen von Nadja Pecquet, die seit 13 Jahren als Expertin Mitglied des Ärztlichen Beirats Digitalisierung NRW ist und ein Gespür für ärztliche Entscheidungswege hat. Ihr wird auch die künftig zu erwartende Entwicklung als Patienten-Konsultationssystem gelingen. Blaupause ist das in Basel ansässige Medgate: Patientenanfragen erfolgen telefonisch und werden durch ein strukturiertes Anamnesesystem dem zuständigen Ressort zugeleitet.

Abschließend noch eine Frage zur Rolle des nichtärztlichen Personals, Herr Dr. Dr. Bickmann. Digitalisierung und Telemedizin sind bei den Ärztekammern Westfalen-Lippe und Nordrhein Inhalte der Aus- und Weiterbildungscurricula entlastender Versorgungsassistentinnen und -assistenten, den EVAs. Inwiefern kann nichtärztliches Personal die ambulante haus- und fachärztliche Versorgung entlasten?

Dr. Dr. Bickmann: Deutschland zählt zu den ganz wenigen Ländern, die einen regelhaften Direktzugang zur fachärztlichen Versorgung bieten. Im Kontext von Arztstundenreglementierung und Arztstundenrückgang auf der einen Seite und steigender Morbidität und komplexeren Behandlungspfaden auf der anderen Seite ergeben sich zwangsläufig Versorgunglücken. Den drohenden Verlust an ärztlicher Zuwendung sollten wir jedoch nicht durch nichtärztliche Expertise substituieren, sondern wir sollten die Verantwortung für die Diagnostik und Indikationsstellung in ärztlicher Hand belassen und die Therapie und Überwachung an Personen delegieren, die die ärztlichen Entscheidungen verstehen und umsetzen können. Um die ärztlichen Indikationsstellungen und Diagnose zeitnah zu aktualisieren oder zu korrigieren, brauchen wir zunehmend mehr telemedizinisch erhobene Vitaldaten. Die Entwicklung einer differenzierten Assistenzebene erfordert daher eine systematische Ausbildung auf akademischem Niveau, die einen Schwerpunkt in der digitalisierten Medizin haben muss.


Das Interview führte:
Katrin Hertrampf
Wissenschaftliche Koordination
Diabeteszentrum am Herz- und Diabeteszentrum NRW (HDZ NRW
Universitätsklinik der Ruhr-Universität Bochum (UK RUB)
Georgstr. 11, 32545 Bad Oeynhausen

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (7/8) Seite 22-24