In welchen Fällen müssen Patienten mit Diabetes in einer Notfallsituation in der Klinik behnadelt werden? Antworten darauf hat Dr. Martin Lederle parat. Er ist Ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme (ZNA) im St. Marien-Krankenhaus in Ahaus.

Die diabetologische Versorgung von Patienten mit Diabetes mellitus findet seit vielen Jahren vorwiegend im ambulanten Setting in den Diabetologischen Schwerpunktpraxen und in den Hausarztpraxen statt. Leistungen, die vor etwa 30 Jahren noch fast ausschließlich unter stationären Bedingungen durchgeführt wurden (z.B. Beginn mit einer Insulintherapie oder Beginn mit einer Insulinpumpentherapie), werden heute natürlich im ambulanten Bereich erbracht. Es gibt nur noch wenige akute Komplikationen der Stoffwechselerkrankung, die stationär behandelt werden müssen.

Neben meiner Tätigkeit in der Diabetespraxis der MVZ Ahaus GmbH bin ich seit einiger Zeit Ärztlicher Leiter der Zentralen Notaufnahme (ZNA) des St. Marien – Krankenhauses Ahaus. Patienten mit einer akuten Stoffwechselentgleisung – entweder einer schweren Hypoglykämie oder einer ketoazidotischen bzw. hyperosmolaren Stoffwechselentgleisung landen in der Regel zur Erstversorgung in der ZNA.

Management der schweren Hypoglykämie

Die Diagnose "Hypoglykämie" wird in der Regel schon prästationär von den professionellen Rettungskräften gestellt: eine Glukosemessung gehört bei der Bewusstseinsstörung eines Patienten zur Basisdiagnostik. Bei einem zu niedrigen Glukosewert erfolgt durch das Rettungspersonal umgehend eine intravenöse Glukosegabe. Wenn der Patient dann in der ZNA ankommt, ist er in der Regel wieder ansprechbar. Es muss dann entschieden werden, ob der Patient in stationärer Überwachung bleiben soll/muss oder ob er ambulant weiter versorgt werden kann. Dafür muss der Grund für die schwere Hypoglykämie gesucht und bedacht werden. Die folgenden 2 Konstellationen machen eine weitere stationäre Überwachung des Patienten erforderlich – eventuell sogar auf der Intensivstation:

Gabe von Insulinen in suizidaler Absicht:

Intravenös zirkulierendes Insulin hat nur eine kurze Halbwertszeit von einigen Minuten. Problematisch ist ein großes Insulindepot im subkutanen Fettgewebe. Wenn beispielsweise das ultralang wirksame Insulinanalogon Insulin degludec = Tresiba® in suizidaler Absicht in einer hohen Dosis subkutan appliziert wurde, dann kann es aufgrund der langen Wirkdauer des Insulins zu einer prolongierten Hypoglykämie – Gefahr kommen. Solche Patienten müssen dann über mehrere Tage stationär überwacht werden. Da bei einem solchen Patienten zunächst das medizinische Problem "Hypoglykämie" im Vordergrund steht, wird eine Akutpsychiatrie die Übernahme zunächst ablehnen.

Schwere Hypoglykämie unter der Therapie mit einem Sulfonylharnstoff:

Sulfonylharnstoffe wie Glibenclamid oder Glimepirid werden in den letzten Jahren nur noch selten zur Therapie von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 eingesetzt: laut Information der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen – Lippe (WL) lag der Anteil der Sulfonylharnstoff - Verordnungen an allen Antidiabetika außer Insulinen im 2. Quartal 2021 in Diabetespraxen in WL bei nur noch 3,6 % und in Hausarztpraxen bei 7,1 %. Wenn bei einem Patienten mit Sulfonylharnstofftherapie eine schwere Hypoglykämie aufgetreten ist und bei ihm gleichzeitig eine Nierenfunktionsstörung vorliegt, muss er über mehrere Tage stationär überwacht werden, da aufgrund der verlängerten Wirkdauer des Medikamentes immer wieder Hypoglykämien auftreten können.

Folgender Fall aus den 90 Jahren ist mir noch gut in Erinnerung: ein Patient mit Diabetes mellitus Typ 2, der mit Glibenclamid behandelt wurde und gerade eine akute Gastroenteritis durchgemacht hatte, hatte eine schwere Hypoglykämie. Die Ehefrau hat ihren Hausarzt gerufen, der aus der laufenden Sprechstunde kam und dem bewusstseinsgetrübten Patienten Glukose intravenös verabreichte. Da der Patient danach wieder bewusstseinsklar war, fuhr der Arzt zurück in seine Praxis. Nach 30 Minuten trübte der Patient erneut ein, die Ehefrau rief jetzt den Notarzt (ich hatte an diesem Tag Notarztdienst). Ich habe dem Patienten einen venösen Zugang gelegt und Glukose i.v. appliziert; der Patient war sofort wieder ansprechbar. Zur weiteren Überwachung habe ich den Patienten ins Krankenhaus mitgenommen. Bei der Umlagerung im "Aufnahmezimmer" (es gab damals noch keine ZNA) wurde die Glukoseinfusion abgestellt und zunächst nicht mehr angestellt; der Patient rutschte wieder in eine symptomatische Hypoglykämie. Es dauerte dann weitere 4 Tage mit kontinuierlicher Glukoseinfusion bis bei ihm keine Hypoglykämie mehr aufgetreten ist. Bei schon leicht erhöhtem Kreatinin - Wert hatte sich durch den Flüssigkeitsverlust im Rahmen der Gastroenteritis die Nierenfunktion weiter verschlechtert und dadurch die Wirkdauer von Glibenclamid deutlich verlängert.

Solche Verläufe gehören meiner Wahrnehmung nach zum Glück aus den oben genannten Gründen (Sulfonylharnstoffe werden nur noch selten rezeptiert) der Vergangenheit an. Ich habe in den letzten Jahren keinen einzigen Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 neu mit einem Sulfonylharnstoff behandelt.

Ketoazidotische bzw. hyperosmolare Stoffwechselentgleisung

Am 20.07.2022 wurde eine 44-jährige Frau mit dem klinischen Bild eine Kussmaulschen Atmung (stark vertiefte und beschleunigte Atmung) und erheblicher Unruhe vom Rettungsdienst in die ZNA des Ahauser Krankenhauses gebracht. Das Ergebnis der sofort durchgeführten Blutgasanalyse bestätigte den klinischen Verdacht einer schweren Ketoazidose: pH – Wert im kapillaren Blut: 6,91 (ein pH – Wert, der eigentlich mit Leben nur schwer vereinbar ist); Glukosewert: 621 mg% bzw. 34,5 mmol/l; CO2 – Partialdruck und Bikarbonat nicht messbar; Kalium 5,41 mmol/l. Die Patientin wurde umgehend zur weiteren Versorgung auf die Intensivstation des Krankenhauses gebracht.

Im weiteren Verlauf konnten von der bzw. zur Patientin folgende Informationen erhoben werden: sie stammte aus Rumänien und war zusammen mit ihrem Ehemann seit Wochen in einem Fleisch verarbeitenden Betrieb in der Region berufstätig. Deutschkenntnisse waren nicht vorhanden. Sie hatte seit Tagen kein Insulin mehr gespritzt, da sie in Deutschland keinen Arzt hatte (zuvor die Insuline Levemir® und Actrapid®). Der HbA1c – Wert lag bei 15,9%; die durchgeführte Antikörperdiagnostik sprach für einen Diabetes mellitus Typ 1. Nach Abschluss der intensivmedizinischen Behandlung hat die Patientin eine weitere Betreuung in der Klinik für Diabetologie des Klinikums Westmünsterland abgelehnt und hat auf eigene Verantwortung die stationäre Behandlung beendet.

Nach der S3 – Leitlinie "Therapie des Typ 1 – Diabetes"(gültig seit März 2018; siehe QR – Code 1) ist die diabetische Ketoazidose biochemisch definiert durch eine Blutglukose über 250 mg% bzw. 13,9 mmol/l, einer Ketonurie und/oder einer Ketonämie, einem erniedrigtem pH – Wert (Säuregrad des Blutes; normal 7,36 bis 7,44) von unter 7,35 (arteriell) bzw. unter 7,3 (venös) und einem Serum – Bikarbonat von unter 15 mmol/l (normal 22 - 26 mmol/l). Das hyperosmolare hyperglykämische Syndrom unterscheidet sich von der diabetischen Ketoazidose dadurch, dass keine signifikante Ketonämie vorliegt (< 54 mg% bzw. 3 mmol/l), eine meist sehr ausgeprägtere Hyperglykämie besteht (> 540 mg% bzw. 30 mmol/l) und eine ausgeprägte lebensbedrohliche Hypovolämie und Hyperosmolarität (Serumosmolarität 320 mosmol/kg oder mehr) im Vordergrund stehen.

Wie entstehen eine ketoazidotische und/oder einehyperosmolare Stoffwechselentgleisung?

Das Hormon Insulin ist nicht nur wichtig für den Glukosestoffwechsel, sondern auch für den Protein- und Fettstoffwechsel. Bei einem vollständigen Insulinmangel kommt es neben einem Glukoseanstieg zu einem massiven Abbau von Fett. Dadurch fallen die Abbauprodukte von Fett, die Ketonkörper in einer großen Menge an. Unter dem Begriff Ketonkörper werden 3 Stoffe zusammengefasst: Aceton (kann über die Atmung ausgeschieden werden und verursacht den typischen Geruch bei Kussmaulscher Atmung; ist manchmal noch Bestandteil von Nagellackentferner), Acetoacetat und ß – Hydroxybutyrat, das vor allem mit dem Urin ausgeschieden wird und somit einfach mit einem Urinteststreifen nachweisbar ist. Diese Stoffe können eine Übersäuerung des Blutes = Azidose verursachen. Ein pH – Wert von unter 7,1 stört alle Stoffwechselvorgänge im Körper und ist somit lebensgefährlich.

Wenn noch eine sehr geringe Menge Insulin vorhanden ist, dann findet kein so massiver Fettabbau statt, "nur" der Glukosewert steigt sehr stark auf Werte von über 540 mg% bzw. 30 mmol/l an.

Eine Ketoazidose tritt somit häufig bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 auf, entweder bei der Erstmanifestation oder wenn aus irgendeinem Grund ein Insulinmangel auftritt, z.B. durch die unterbrochene Insulinzufuhr bei Insulinpumpentherapie durch ein Herausrutschen des Insulinpumpenkatheters aus dem subkutanen Fettgewebe. In einer solchen Situation kann sich diese lebensgefährliche Stoffwechselentgleisung innerhalb von wenigen Stunden entwickeln, wobei der Glukosewert nur mäßig stark ansteigen muss.

Eine hyperosmolare Stoffwechselentgleisung tritt somit häufiger bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 (noch geringe Insulinsekretion vorhanden) auf. Ich habe aber auch schon Patienten mit einer Erstmanifestation eines Diabetes mellitus Typ 2 gesehen, die eine ausgeprägte Ketonurie hatten.

Sowohl die ketoazidotische als auch die hyperosmolare Stoffwechselentgleisung sind lebensgefährlich. Diese Patienten müssen somit stationär unter intensivmedizinischen Bedingungen versorgt werden. Dafür sollte in jeder Klinik ein detaillierter, schriftlicher Behandlungsplan vorhanden sein.

Meiner Wahrnehmung nach werden bei der Therapie von Patienten mit diesen schweren Stoffwechselentgleisungen häufig folgende "Anfängerfehler" gemacht:

  • Die parenteral verabreichte Flüssigkeitsmenge ist zunächst viel zu gering.
  • Der Glukosewert wird durch eine zu hohe Insulingabe zu rasch gesenkt.
  • Der Verlauf des Kalium – Wertes wird nicht beachtet bzw. unterschätzt (bei einer Azidose werden Wasserstoff – Ionen ins Zellinnere verlagert; um den Ladungsausgleich herzustellen, wandern dafür Kalium – Ionen aus dem Zellinnern in die interstitielle Flüssigkeit bzw. ins Blut; somit ist bei jeder Azidose der Kalium – Wert im Blut falsch zu hoch).
  • Es wird zu schnell Bikarbonat gegeben, um die Azidose auszugleichen.

In der S3 – Leitlinie "Therapie des Typ 1 – Diabetes" sind zur Therapie der diabetischen Ketoazidose folgende 5 Maßnahmen aufgelistet. Ich habe sie in Einklang mit den Inhalten der S3 – Leitlinie "Intravasale Volumentherapie bei Erwachsenen" (die letzte Überarbeitung erfolgte am 21.09.2020; siehe QR – Code 2) modifiziert.

1. Legen eines Zugangs:

peripherer Zugang oder zentraler Venenkatheter (abhängig vom Alter, Schwere der Entgleisung, Vorliegen von Begleiterkrankungen).

2. Rehydrierung:

Zufuhr einer balancierten, kristalloiden, isotonen Vollelektrolyt – Lösung (z.B. Sterofundin® ISO Infusionslösung oder Jonosteril®). Laut der oben genannten S3 – Leitlinie von 2020 soll isotone Kochsalzlösung (NaCL 0,9%) zum Volumenersatz nicht mehr verwendet werden, da dadurch das Auftreten einer Hyperchlorämie begünstigt werden kann; diese ist mit negativen Auswirkungen auf die Sterblichkeit und anderen nachteiligen Outcomes (wie z.B. Infektion, Nierendysfunktion, Säure-Basen-Haushalt) assoziiert.

In Abhängigkeit von Herz- und Nierenfunktion sollen zunächst bis zu 1–2 l in den ersten 60 min. infundiert werden; weitere Infusionsgeschwindigkeit zwischen 250-500 ml/Std. Der gesamte Bedarf liegt bei etwa 5–10 l oder ca. 15% des Körpergewichts, in Einzelfällen auch darüber. Zur Steuerung der Flüssigkeitszufuhr sollen sonographische Verfahren (z.B. sonographische Messung der Vena cava inferior; Echokardiographie) zum Einsatz kommen; die Messung des zentralen Venendrucks = ZVD alleine ist nicht ausreichend.

3. Blutglukosesenkung:

Insulingabe immer intravenös über Perfusor (in der Regel 50 E Normalinsulin in 50 ml NaCl 0,9%) 0,05-0,1 E/kg KG/h i.v.;

Zielwerte für die Blutglukosesenkung: Abfall der Blutglukosekonzentration pro Stunde um 50-100 mg% bzw. 5,6-2,8 mmol/l. Nicht tiefer als 250 mg% bzw. 13,9 mmol/l während der ersten 24 h senken, um ein Hirnödem zu vermeiden (dies gilt besonders bei einer schweren Ketoazidose).

Ab 300 mg% bzw. 16,7 mmol/l Infusion von Glukose 10% zur Vermeidung eines zu raschen Blutglukoseabfalls und wegen des intrazellulären Glukosebedarfs. Die Infusionsgeschwindigkeit richtet sich nach der Blutglukose.

Anmerkung zur i.v. Gabe von Normalinsulin über einen Perfusor:

Das Insulinmolekül wird an das Kunststoffmaterial der Perfusorspritze und des Perfusorschlauches adsorbiert, bis diese Bindungsstellen "gesättigt" sind. Somit wird in der Vene des Patienten zunächst pro ml infundierter Lösung nicht 1 E Normalinsulin ankommen. Bei jedem Wechsel des Perfusionsschlauches bzw. der Perfusorspritze wird dieses Phänomen wieder auftreten. Da das Insulin immer nach Wirkung auf den aktuellen Glukosewert dosiert wird, hat diese Insulinadsorption keine große klinische Relevanz. Wie schon oben erwähnt, hat Insulin intravenös gegeben nur eine kurze Wirkdauer von einigen Minuten. Wenn also der Insulinperfusor aus irgendeinem Grund gestoppt wird, dann ist nach kurzer Zeit keine Insulinwirkung mehr vorhanden.

4. Kaliumgabe:

wichtig: Kaliumspiegel beachten, bei subnormalem Kaliumspiegel erst Kaliumgabe, dann Insulingabe, ansonsten Risiko von Herzrhythmusstörungen.

Die Kaliumsubstitution richtet sich nach folgendem Schema:
Solange kein Insulin oder Bikarbonat gegeben werden, ist die Kaliumsubstitution problemlos. Mit der Gabe von Insulin kann Kalium sehr rasch fallen, so dass eine adäquate Substitution nicht mehr möglich ist. Der Insulinperfusor sollte dann gestoppt werden, bis sich das Kalium wieder im normalen Bereich befindet.

5. Bikarbonatgabe: nur im Ausnahmefall:

Eine Bikarbonatgabe ist die Ausnahme und nicht die Regel bei Vorliegen einer Ketoazidose. Gabe nur bei pH < 7,0, als 8,4% Natriumbicarbonat, 50 mmol über eine Stunde (um einen Wasserstoff-Kalium-Shift nicht zu sehr zu beschleunigen; siehe oben). Gepuffert wird nur bis zu einem pH von 7,1.

Die Therapie des hyperosmolaren Stoffwechselentgleisung unterscheidet sich von der Therapie der diabetischen Ketoazidose dadurch, dass bei fehlender Ketonämie (< 18 mg% bzw. 1 mmol/l) zunächst kein Insulin gegeben werden sollte. Der Volumenersatz mit einer isotonen Vollelektrolytlösung führt in der Regel allein zu einer langsamen Blutglukosesenkung (die Nieren nehmen ihre Arbeit wieder auf und scheiden Glukose auf; wichtig: Kontrolle der Flüssigkeitsausscheidung mittels Harnblasenkatheters zur Bilanzierung).

Die Natrium-Konzentration im Blut (normal 135 – 145 mmol/l) sollte nicht schneller als 10 mmol/l in 24 h fallen. Der Blutglukosewert sollte nicht mehr als 90 mg% bzw. 5 mmol/l pro Stunde fallen. Fällt der Glukosewert nicht mehr durch die i.v.-Flüssigkeitsgabe oder wenn eine Ketonämie > 18 mg% bzw. 1 mmol/l vorliegt, soll mit einer 0,05 E/kg/h Insulininfusion begonnen werden. Die Kaliumsubstitution entspricht der bei diabetischer Ketoazidose.

Direkt nach der Akuttherapie dieser lebensgefährlichen Stoffwechselentgleisungen muss unbedingt nach deren Ursache gefahndet werden. Jede Klinik mit einer Intensivstation wird diese Patienten in der Akutsituation behandeln müssen; nicht jede Klinik wird über eine ärztliche diabetologische Kompetenz verfügen: das ist eine der Kehrseiten der "Ambulantisierung" der Diabetologie in den letzten Jahren.

Diabetisches Fuß-Syndrom

Es gibt noch eine weitere Gruppe von Patienten mit Diabetes mellitus, die bei Bedarf einer akuten stationären Behandlung bedürfen: Patienten mit einem Diabetischen Fußsyndrom (DFS), die ambulant nicht mehr versorgt werden können. Dies sind beispielsweise Patienten, die einen gefäßchirurgischen Eingriff benötigen oder Patienten, bei denen eine parenterale Medikamentengabe (Antibiotikum) erforderlich ist oder bei denen eine Amputation/Rekonstruktion durchgeführt werden muss. Diese stationäre Behandlung sollte unbedingt in einem von der AG Fuss der DDG anerkannten stationären Zentrum (https://ag-fuss-ddg.de/) erfolgen.

Am folgenden Patientenbeispiel möchte ich deutlich machen, dass aus dem klinischen Bild bei Unkenntnis bzw. Nichtbeachten der zugrunde liegenden Pathophysiologie eine falsche therapeutische Konsequenz gezogen werden kann.

Ein Patient mit diabetischer Neuropathie stellt sich mit folgendem Fußbefund vor (Bild 1):

Es besteht eine ausgedehnte Gewebsnekrose an der 2. Zehe links; der Knochen liegt frei. Dieses klinische Bild könnte fehlgedeutet werden als Folge einer arteriellen Perfusionsstörung.

Bei dem Patienten war die A. dorsalis pedis und die A. tibialis posterior links kräftig tastbar; es bestand somit keine bedeutsame arterielle Perfusionsstörung. Die Nekrose an der 2. Zehe ist über den folgenden Mechanismus entstanden: ein erhöhter Druck durch das Tragen eines zu engen Schuhes hat eine Läsion an der Medialseite der 2. Zehe verursacht. Da der Patient aufgrund der Neuropathie keine Schmerzen gespürt hat, konnte sich eine bakterielle Entzündung in dem Weichteilgewebe der Zehe ausbreiten und die Digitalarterien erfassen: dies führte zu einer akuten Ischämie in der Zehe mit konsekutiver Gewebsnekrose = septische Thrombose der Zehe.

Die 2. Zehe links musste amputiert werden; die Amputationswunde ist problemlos abgeheilt (Bild 2).

Wenn dieser Patient in einer Klinik für Chirurgie ohne diabetologische Kompetenz gelandet wäre, dann wäre ihm möglicherweise eine Amputation des Fußes wegen schlechter arterieller Perfusion empfohlen worden. Um eine solche fatale Fehleinschätzung zu vermeiden, hat der Gemeinsame Bundesausschuss am 16. April 2020 das Zweitmeinungsverfahren beschlossen: Patienten mit DFS können sich vor einer Amputation an den unteren Extremitäten zukünftig eine unabhängige ärztliche Zweitmeinung einholen. Hierbei überprüft ein qualifizierter Zweitmeiner die medizinische Notwendigkeit des geplanten Eingriffs und berät zu konservativen und weniger invasiven Behandlungsmöglichkeiten. Alle Patienten mit DFS müssen wissen, dass sie diese Option vor einer Operation in Anspruch nehmen können.


Autor:
Dr. Martin Lederle
Chefredakteur Diabetes-Forum
Arzt für Innere Medizin, Diabetologie
MVZ Ahaus, Fachbereich Diabetologie
Wüllener Straße 101, 48683 Ahaus


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (10) Seite 14-19