Fachgesellschaften und andere Organisationen fordern schon lange mit einer Liste an konkreten Maßnahmen mehr Engagement bei der Verhältnisprävention von Diabetes und Adipositas. Warum, zeigt jetzt eine Studie zu Coronafolgen bei Kindern.

Corona und Kinder, das ist ein emotionales Thema. Ängste vor der unbekannten, unsichtbaren Bedrohung, massive und immer wieder neue Veränderungen des gewohnten Alltags, fehlende soziale Kontakte während der Lockdowns, zusätzlicher familiärer Stress zum Beispiel durch paralleles Homeoffice und Homeschooling – es ist in den letzten Jahren vieles auf Kinder und Jugendliche eingestürzt. Und all das noch zusätzlich zu den möglichen direkten gesundheitslichen Folgen einer Coronainfektion, von Long Covid über das Multi-Entzündungssyndrom PIMS (Paediatric Inflammatory Multisystem Syndrome) bis hin zu einer höheren Inzidenz des Typ-1-Diabetes.

Massive Auswirkungen auf die Kindergesundheit

Seit den hemdsärmeligen Anfangstagen der Pandemiebekämpfung wird angesichts dessen gebetsmühlenartig von Medien und Politik wiederholt, dass die Coronakrise massive Auswirkungen auf die Kindergesundheit hat. Und dass diese Tatsache doch bitte bei politischen Entscheidungen zu berücksichtigen sei.

Eine repräsentative Umfrage unter Eltern hat jetzt weitere Daten geliefert, die diese Gesundheitsauswirkungen verdeutlichen.Jedes sechste Kind in Deutschland ist danach seit Beginn der Coronapandemie dicker geworden, fast die Hälfte bewegt sich weniger als zuvor, etwa ein Viertel isst mehr Süßwaren, so die Erhebung, die die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG) und das Else Kröner-Fresenius-Zentrum (EKFZ) für Ernährungsmedizin an der Technischen Universität München Ende Mai vorgestellt haben.

Ungleichheit verschärft

Die Pandemie hat dabei die gesundheitliche Ungleichheit weiter verschärft: Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien sind doppelt so häufig von einer ungesunden Gewichtszunahme betroffen wie Kinder und Jugendliche aus einkommensstarken Familien.

Die DAG und das EKFZ für Ernährungsmedizin leiten aus den Daten der von ihnen initiierten Umfrage einen klaren politische Handlungsbedarf ab. Sie fordern mit Blick auf die Ergebnisse einen "Marshallplan für die Kindergesundheit", um die Folgen der Pandemie aufzufangen. Als Sofortmaßnahmen empfehlen die Experten eine Besteuerung von Zuckergetränken, Werbeschranken für ungesunde Lebensmittel und eine Stärkung der Adipositas-Therapie, die in Deutschland chronisch unterfinanziert sei.

Ungewöhnlich hohe Gewichtszunahme

"Eine Gewichtszunahme in dem Ausmaß wie seit Beginn der Pandemie haben wir zuvor noch nie gesehen. Das ist alarmierend, denn Übergewicht kann schon bei Kindern und Jugendlichen zu Bluthochdruck, einer Fettleber oder Diabetes führen. Schon vor Corona waren 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen von Übergewicht betroffen, sechs Prozent sogar von starkem Übergewicht", erklärt Dr. med. Susann Weihrauch-Blüher, Oberärztin an der Universitätskinderklinik Halle/Saale und Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft Adipositas im Kindes- und Jugendalter (AGA) der DAG.

"Die Krankheitslast ist ungleich verteilt und Corona hat das erheblich verschärft", ergänzt Prof. Dr. med. Hans Hauner, Direktor des EKFZ für Ernährungsmedizin und DAG-Vorstandsmitglied. "Die Folgen der Pandemie müssen aufgefangen werden, sonst werden die ‚Corona-Kilos‘ zum Bumerang für die Gesundheit einer ganzen Generation. Die Stärkung geeigneter Therapieangebote, die alle Gruppen gleichermaßen erreicht, ist nun von enormer Bedeutung", so Hauner. Die Finanzierung der Adipositas-Therapie durch die Krankenkassen müsse dafür zur
Regel werden.

Über 1000 Eltern befragt

Für die Studie hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa im März und April 2022 insgesamt 1.004 Eltern mit Kindern im Alter von 3 bis 17 Jahren befragt. Die wichtigsten Ergebnisse:

  • 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind dicker geworden, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 32 Prozent
  • Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen Familien sind doppelt so häufig von einer ungesunden Gewichtszunahme betroffen wie Kinder und Jugendliche aus einkommensstarken Familien (23 zu 12 Prozent)
  • 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen bewegen sich weniger als vor der Pandemie, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 57 Prozent
  • Bei 33 Prozent der Kinder und Jugendlichen hat sich die körperlich-sportliche Fitness verschlechtert, bei Kindern im Alter von 10 bis 12 Jahren sind es sogar 48 Prozent
  • Bei 43 Prozent der Kinder und Jugendlichen belastet die Pandemie die seelische Stabilität "mittel" oder "stark"
  • 70 Prozent der Kinder und Jugendlichen haben die Mediennutzung gesteigert
  • 27 Prozent der Kinder und Jugendlichen greifen häufiger zu Süßwaren als zuvor
  • 34 Prozent der Familien essen häufiger gemeinsam als zuvor

Experten warnen deutlich

Kürzlich hat die WHO Europa vor den Folgen der Adipositas-Epidemie gewarnt und auf "nachteilige Veränderungen bei Ernährungs- und Bewegungsmustern" durch die Coronapandemie hingewiesen. Auch der Corona-Expertenrat der Bundesregierung hatte im Februar vor einer "Zunahme von Adipositas" gewarnt und Gegenmaßnahmen empfohlen. Das EKFZ für Ernährungsmedizin hatte im September 2020, kurz nach Beginn der Coronapandemie, bereits eine Befragung mit vergleichbarer Methodik durchgeführt. Ein Abgleich mit den aktuellen Daten zeigt, dass sich die Auswirkungen auf den Lebensstil verfestigt haben.

Bestätigung regionaler Daten

Aktuelle, bundesweit repräsentative Messungen des Körpergewichts von Kindern und Jugendlichen liegen nicht vor. Die letzte Erhebung des Robert Koch-Instituts im Rahmen der Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland KiGGS fand in den Jahren 2014 bis 2017 statt.

Die aktuelle Umfrage sowie erste regionale Messungen und Befragungen legen nahe, dass heute mehr Kinder und Jugendliche von Übergewicht betroffen sind als je zuvor. So ist einer Studie der Universität Leipzig zufolge das Körpergewicht von Kindern in der Region Mitteldeutschland in den ersten Monaten der Coronapandemie deutlich gestiegen. Im Rahmen einer Befragung des Karlsruher Instituts für Technologie berichtete ein Viertel der Kinder und Jugendlichen mit Normalgewicht von einer Gewichtszunahme im zweiten Lockdown 2020. Auch Daten der DAK-Gesundheit zeigen einen deutlichen Anstieg der Krankenhausbehandlungen wegen Adipositas bei Kindern und Jugendlichen im Jahr 2020.

Die aktuelle Eltern-Umfrage wurde anlässlich des Welt-Adipositas-Tags durchgeführt. Der Tag findet jährlich Anfang März statt und wird in Europa von der European Association for the Study of Obesity (EASO) und der European Coalition for People living with Obesity (ECPO) ausgerufen. Finanziert wurde die Eltern-Umfrage durch die Else Kröner-Fresenius-Stiftung (EKFS), durch die EASO und die ECPO sowie durch den Sonderforschungsbereich Adipositasmechanismen der Universität Leipzig.

Die Ermittlung von Lebensgewohnheiten und der Gewichtsentwicklung mittels Umfragen, wie im vorliegenden Fall, unterliegt methodischen Einschränkungen. Insbesondere ist von einer Untererfassung bei Angaben zu ungesundem Verhalten auszugehen, geben die Initiatoren zu bedenken.

Abgestumpft gegenüber den Alarmmeldungen?

"Die Corona-Kilos werden zu einer schweren Hypothek für eine ganze Generation. Die Ergebnisse der DAG-Elternbefragung sind alarmierend", kommentierte Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und Sprecherin der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK), die Ergebnisse. "Wie viele Studien, Umfragen und Fakten braucht es noch, damit die Politik gegensteuert und die Hersteller fettiger, süßer und salziger Produkte endlich in die Pflicht nimmt? Eine Herstellerabgabe auf stark zuckerhaltige Getränke und ein Werbeverbot für ungesunde Produkte, die sich an Kinder richten, sind längst überfällig. Im Gegenzug sollten gesunde Lebensmittel komplett von der Mehrwertsteuer befreit werden. Wir appellieren an die Bundesregierung, ernährungspolitisch nicht länger in der Warteschleife zu verharren, sondern schnelle und nachhaltige Entscheidungen zu treffen, von denen auch diese Generation noch profitiert."

WHO European Regional Obesity Report 2022

Am 3. Mai ist der neue WHO European Regional Obesity Report 2022 vom europäischen Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation publiziert worden. In der gesamten Region haben danach Übergewicht und Adipositas epidemische Ausmaße angenommen. Und die Prävalenzen steigen weiter an, keiner der 53 Mitgliedstaaten der Region sei momentan auf gutem Weg, das von der WHO ausgegebene Ziel zu erreichen, den Adipositas-Anstieg bis 2025 zu stoppen.

Der Report betont, dass Adipositas eine komplexe Krankheit ist – und nicht "nur" ein Risikofaktor für Diabetes, Krebs oder andere Krankheiten.

Der WHO-Report nennt einige spezifische politische Ansätze, die vielversprechend seien um das Maß an Adipositas und Übergewicht zu reduzieren:

  • die Einführung von fiskalischen Maßnahmen wie der Besteuerung von mit Zucker gesüßten Getränken oder Subventionen für gesunde Nahrungsmittel

  • Einschränkungen an Kinder gerichteter Werbung für ungesunde Lebensmittel

  • Verbesserung des Zugangs zu Angeboten für Adipositas- und Übergewichtsmanagement in der Allgemeinmedizin als Teil der universellen Gesundheitsversorgung

  • Maßnahmen um Ernährung und körperliche Bewegung in allen Lebensabschnitten zu verbessern, beispielsweise schon in der Versorgung vor und in der Schwangerschaft, Förderung des Stillens, an Schulen angesiedelte Interventionen und Interventionen, die eine Umwelt schaffen mit verbesserter Zugänglichkeit und Bezahlbarkeit von gesunden Lebensmitteln und mehr Möglichkeiten für körperliche Bewegung

Die Publikation weist auch auf einige Faktoren hin, die insbesondere in Europas hochdigitalisierten Gesellschaften eine Rolle als Triebfedern für Adipositas spielen. Zum Beispiel würden das digitale Marketing für ungesunde Lebensmittel mit Kindern als Zielgruppe und die Verbreitung des bewegungsarmen Onlinegamings zur immer weiter ansteigenden Welle an Übergewicht und Adipositas in Europa beitragen. Gleichzeitig beleuchtet der Report aber auch, wie digitale Plattformen Möglichkeiten zur Förderung und Diskussion von Gesundheit und Wohlbefinden bieten könnten

Der WHO-Report Adipositas 2022 für die Region Europa kann hier in Englisch auf den Internetseiten der WHO heruntergeladen werden.


Autor:
Marcus Sefrin
Schmiedestraße 54
21335 Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (7/8) Seite 6-8