Die Lektüre des Buches "Mythos Übergewicht – Warum dicke Menschen länger leben" von Achim Peters hat Diabetes-Forum-Chefredakteur Dr. Martin Lederle zum Nachdenken angeregt.

Ich denke, es geht Ihnen so wie mir: Ich muss mich täglich bei der Patientenversorgung mit dem Thema Adipositas beschäftigen. Von den knapp 1.600 Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, die im 2. Quartal 2015 in der Diabetespraxis Ahaus behandelt wurden, hatten 65 % einen BMI von über 30 kg/m² und immerhin 30 % einen BMI von über 35 kg/m². Bei den knapp 450 Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1 sah es folgendermaßen aus: 21 % hatten einen BMI über 30 kg/m² und noch 6 % hatten einen BMI von über 35 kg/m².

Pathophysiologisches Gedankengebäude

In unserem derzeit (noch) gültigen pathophysiologischen Gedankengebäude ist Adipositas mit vermehrtem Kranksein = Morbidität und früherer Sterblichkeit = erhöhter Mortalität verbunden. Davon ausgehend haben wir bisher viel Zeit und "Herzblut" investiert, um Patienten mit Adipositas Wege aufzuzeigen, wie sie ihr Gewicht nachhaltig reduzieren können: Wenige der Patienten sind – mittelfristig gesehen – dabei erfolgreich; bei den meisten Patienten ist es schon ein Erfolg, wenn sie ihr Gewicht über die Zeit halten können.

Auch der Gesetzgeber, der den Gesundheitsfonds und den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) geschaffen hat, berücksichtigt diese "Gleichung" Adipositas = mehr Morbidität und daher höhere Kosten für die Krankenkassen: wenn der ICD-Code E66.91+G =Adipositas, nicht näher bezeichnet: Body-Mass-Index [BMI] von 35 bis unter 40 in 2 Quartalen dokumentiert wird, erhält die Krankenkasse aus dem Gesundheitsfonds einen Zuschlag von etwa 500 Euro pro Jahr, der in etwa dem Zuschlag für die Behandlung einses Patienten mit Diabetes mellitus ohne Komplikationen entspricht.

Viele sprechen inzwischen von einer Adipositas-Epidemie und fordern drastische Maßnahmen (Stichwort "Fett-Steuer"), um diesen "Tsunami" in den Griff bekommen zu können.

Achim Peters' Buch "Mythos Übergewicht"

Ich habe gerade das Buch von Achim Peters mit dem Titel "Mythos Übergewicht" und dem provokanten Untertitel "Warum dicke Menschen länger leben" gelesen. Peters hat zusammen mit anderen das Konzept "selfish brain" (das egoistische Gehirn) entwickelt. Hier ein kurzer Auszug aus dem Buch:

"Und so fragt man sich offen oder im Stillen, was eigentlich mit diesen Millionen von Männern und Frauen los ist, die mit ihrem Körperumfang gegen die als wünschenswert erachtete Schlankheitsnorm verstoßen, auf besseres Aussehen verzichten, ihre Erfolgsaussichten trüben und sogar ihre Gesundheit gefährden. Längst steht der Verdacht im Raum, dass ihre Disziplinlosigkeit größer ist als ihr Wunsch abzunehmen. Sie fangen zwar Diäten an, halten sie aber nicht durch. Sie verweigern sich dem Normalgewicht, und trotz ärztlicher Bemühungen, zahlloser Aufklärungskampagnen und diverser Abnehmkuren sind sie noch immer nicht schlanker als zuvor. Hinter dieser Haltung stehen zwei völlig haltlose Annahmen. Erstens, dass das Dicksein ein kontrollierbarer Zustand sei. Und zweitens, dass vor diesem Hintergrund dicke Menschen ihr Schicksal ändern könnten, wenn sie es doch endlich in die Hand nehmen würden."

Viele Passagen und Sätze im Buch haben mich zu einem intensiven Nachdenken angeregt; hier eine Auswahl davon:

"Dick zu sein, ist eine Reaktion des menschlichen Organismus auf eine Überlastung des Stresssystems und schützt die Menschen vor Folgeerkrankungen einer daueraktivierten Stressabwehr."

"Unter dauerhaftem Stress dick zu werden, ist unter den gegebenen Umständen eine sinnvolle und gesunde Anpassungsstrategie des menschlichen Organismus."

"Bauchfettgewebe wachsen zu lassen, ist eine wesentliche Strategie des gestressten Gehirns, seine eigene Energieversorgung abzusichern."

"Die Gewichtszunahme oder Fettleibigkeit ist quasi eine Nebenwirkung – der Preis für eine erfolgreiche Stressdämpfung."

"Gewichtszunahme ist das wesentliche Merkmal phänotypischer Plastizität von Menschen im "Haifischbecken", und diese schützt vor den Folgen psychosozialen Dauerstresses."

"Dicke Menschen haben bei Stress einen robusten Hirnstoffwechsel – darin besteht ihr Überlebensvorteil."

Lektüre regt zu Nachdenklichkeit an

Herr Peters ist davon überzeugt: "Es gibt keine Adipositas-Epidemie, sondern eine Stress-Epidemie." Und er äußert folgende provokante These: "Wenn es gelingt, diese Entwicklung immer stärkerer Stressbelastungen in unseren Lebensumfeldern einzudämmen, braucht die Welt weder Diätprogramme oder Light-Produkte noch Verbote süßer Limonaden."

Wir diskutieren gerade in unserem Team, ob und wie sich die Erkenntnisse von Peters und seiner Arbeitsgruppe auf unsere tägliche Arbeit mit den betroffenen Patienten auswirken muss/kann/soll. Ich kann Ihnen diese Lektüre nur empfehlen; sie verursacht Nachdenklichkeit.



Autor: Dr. Martin Lederle
Diabetes-Forum-Chefredakteur

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2015; 27 (10) Seite 5