Kommentar: Warum immer mehr Menschen mit Diabetes nicht die benötigtenMedikamente erhalten und warum deswegen immer mehr Menschen mit Diabetes nicht leitliniengerecht behandelt werden (können).

Prof. Dr. Martin Schulz, Geschäftsführer für den Bereich Arzneimittel bei der ABDA – Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände hat in einem Interview mit dem Apothekenmagazin "Diabetes Ratgeber" zu dem Mangel an Medikamenten mit Wirkstoffen wie Semaglutid oder Liraglutid, sogenannten GLP-1-Rezeptoragonisten, Stellung genommen. Sein Rat: "Erst einmal keinen neuen Patient:innen die Medikamente zu verschreiben, solange es hier noch einen Mangel gibt, erscheint mir angesichts der aktuellen Situation als nicht unvernünftig."

Was bedeutet das für unseren Alltag in der Diabetologischen Schwerpunktpraxis?

Wir sind offenbar an einem Punkt, an dem Menschen mit Diabetes eine notwendige, sinnvolle, medizinisch indizierte und wirtschaftliche Behandlung verweigert wird, weil der Bedarf vermeintlich nicht gedeckt werden kann. Und ein echter Versorgungsengpass ist seitens der Behörden und Kostenträger bisher nicht festgestellt worden. Stillschweigend wird in diesem Kontext seitens der Kostenträger unterstellt, daß das zunehmende Interesse weitgehend gesunder Menschen an der "Abnehmspritze" schuld ist. Das erscheint zumindest zweifelhaft!

Während bei uns und in anderen EU-Ländern wie Griechenland Verordnungen durch die Apotheken nicht beliefert werden können, werden nach Deutschland gelieferte Packungen wieder exportiert. So sind Trulicity® und Ozempic® (als Export aus Deutschland) in Georgien problemlos zu bekommen (allerdings 50 % bis 300 % teurer). Es ist unverständlich, warum das zuständige Gesundheitsministerium hier nicht reagiert. Ein Exportverbot für Ozempic® wurde im Herbst 2023 vom Präsidenten des BfARM diskutiert, vom Ministerium jedoch für nicht nötig erachtet. Andere Staaten wie Frankreich, Österreich, Griechenland oder die Tschechei haben ein solches Verbot schon lange.

Patient:innen, die sich die Mühe machen und bei den zuständigen Stellen nachfragen, erhalten vom BfARM die Auskunft, dass grundsätzlich die Möglichkeit des Einzelimportes gemäß § 73 Absatz 3 Arzneimittelgesetz besteht. Dies ist zwar richtig, nur wird es keine Kasse in Deutschland geben, die bereit ist, die Kosten dafür zu übernehmen, da die anfallenden Kosten für die Kassen nicht kalkulierbar zu sein scheinen.

Es gibt aber noch einen anderen Aspekt, den wir als Ärzte in Niederlassung unbedingt berücksichtigen sollten: wir können mit großer Sicherheit davon ausgehen, dass die Kostenträger im Rahmen der regional geltenden Prüfvereinbarungen zwischen Krankenkassen und der ärztlichen Selbstverwaltung mit Argusaugen auf unsere Verordnungen der vermeintlich teuren GLP1-Agonisten schauen werden und sich bei Zweifelsfällen für Prüfungen – auch im Einzelfall – entscheiden werden. Dabei wird uns ein Verweis auf bestehende Versorgungsengpässe nicht helfen, da diese nach Lesart der Krankenkassen nicht bestanden haben.

Umso wichtiger ist, dass wir heute die Grundlagen in unseren Praxen schaffen, dass Zweifel bzgl. der korrekten Verordnung garnicht erst aufkommen. Dazu ist ein eng an die aktuellen Leitlinien und Indikationen angelehntes Verordnungsprocedere sowie eine saubere Dokumentation in unseren PVS essentiell: lassen Sie sich nicht von den real existierenden Versorgungsengpässen und dem ebenfalls häufig seitens der Patient:innen, aber auch Apotheken aufgebauten Druck dazu verleiten, wohlfeile und verfügbare, aber sehr viel teurere Alternativen zu rezeptieren. Das kann mittel- und langfristig zu einem teuren Vergnügen werden, wenn Kassen diese Beträge von den Verordnern zurückfordern. Zumal für eventuelle Alternativen die Evidenzlage aktuell doch eher "dünn" auszufallen scheint...

Unser dringender Rat: Kodieren Sie exakt – Adipositas (stadiengerecht!), Diabetes mellitus Typ 2, entgleist, nicht entgleist – und halten Sie sich an die in den Zulassungen festgelegten Kriterien! Achten Sie darauf, dass die Kombination dieser Diagnosen in bestimmten Konstellationen verdächtig auf missbräuchliche Verordnung sein könnte: bei Verordnung von z.B. Tirzepatid (Mounjaro®) sollte womöglich nur die Dia-beteserkrankung, deretwegen die Patient:innen die Verordnung erhalten, für die prüfrelevanten Abrechnungen kodiert werden...


Autoren:
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Für den Vorstand
Toralf Schwarz
Vorsitzender BVND

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Dr. Nikolaus Scheper


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (7/8) Seite 36