Welche Bedeutung hat die Hypoglykämie als Trigger für Migräneattacken bei Menschen mit Diabetes? Dr. Torsten Schröder berichtet hier über die Physiologie und sagt, wie man helfen kann.
Mehr als ein Drittel ihrer Lebenszeit verbrachte die Migränepatientin Pirkko F. mit heftigen Attacken. Um ihre Migräne zu lindern, achtete die 31-jährige unter anderem auf ihren Lebensstil, insbesondere auf ihre Ernährung. Sie kochte vielseitig, verwendete frische Zutaten, viel Gemüse und Ballaststoffe. Sie trank viel Flüssigkeit und probierte es ohne Trigger-verdächtige Stoffe. Doch nichts brachte eine deutliche Verbesserung. Eines Tages erfuhr Pirkko von der Möglichkeit, über eine Gewebeglukosemessung personalisierte Ernährungsempfehlungen zu erhalten. Die Notfallsanitäterin und Osteopathin kannte die Kontrolle des Blutzuckers über CGM-Sensoren bisher nur von Menschen mit Diabetes. Umso neugieriger war sie, ob sich ihre Migräne unter Anwendung der neuen digitalen Gesundheitsanwendung (DiGA) "sinCephalea" verbessern würde.
Die Auswertung nach der 14-tägigen Glukose-Messphase brachte mehrere Überraschungen: Vollkornbrot war für ihren Blutzuckerspiegel wie ein Ticket für eine Achterbahnfahrt zwischen Hyper- und Hypogykämie – und für die nächste Migräneattacke. Auch Nudeln und ihr gewohntes Müsli jagten ihren Blutzuckerspiegel in die Höhe, wonach er immer steil wieder abfiel. Daraufhin experimentierte sie mit anderen Kombinationen und Alternativen wie Mischbrot, Reis und Kartoffeln. Das Ergebnis war verblüffend, denn auch Monate nach der Ernährungsumstellung konnte sie sich kaum daran erinnern, seitdem Migräne gehabt zu haben.
Auch Maike F. konnte ihre Migräne über die individuelle, Blutzucker-stabilisierende Anpassung ihres Speiseplans in den Griff bekommen. Bei ihr ihr fiel die Auswertung allerdings ganz anders aus: Für sie war Vollkornbrot "der Retter am Abend". Ein Scheibe vor dem Schlafengehen half ihrem Blutzuckerspiegel, über Nacht nicht zu stark abzusinken.
Beide Fallbeispiele zeigen, wie individuell die Blutzuckerreaktion sein kann, obwohl die gleiche Mahlzeit gegessen wurde. Tatsächlich hängen weniger als ein Fünftel der Blutzuckerreaktionen vom Lebensmittel ab (1). Das bedeutet, dass der überwiegende Teil vom individuellen Stoffwechsel bestimmt werden. Doch warum hilft ein niedrig-stabiler Blutzuckerspiegel überhaupt dabei, Migräne vorzubeugen?
Neuere Studien zeigen, dass der Zuckerstoffwechsel eine bedeutende Rolle bei der Entstehung von Migräne-Attacken spielt (2,3,4,5).
Dabei wurden Zusammenhänge zwischen Insulinresistenz, hohen Blutzucker- und Insulinspiegeln und Migräne festgestellt. Besonders stark schwankende Blutzuckerreaktionen nach dem Essen können auf mehreren Ebenen Migräneanfälle fördern. Dabei gibt es zwei Ansatzpunkte, die dem Wirkmechanismus zugrunde liegen: der Energiestoffwechsel und Entzündungsreaktionen.
Der sensible Energiestoffwechsel des Gehirns
Da das Gehirn über unzureichende eigene Energiespeicher verfügt, hängt die Hirnfunktion wesentlich von den über das Blut zugführten Energiemetaboliten ab. Der für die Gehirnfunktion wichtigste Energielieferant ist Glukose, also der Blutzucker. Somit beeinflusst die Nahrungsaufnahme über den Blutglukosespiegel unsere Hirnfunktion (6).
Das Gehirn steckt also in einem Dilemma. Einerseits kann es nicht wie andere Organe Energie speichern, doch andererseits hängt die Funktion aller anderen Organe wesentlich davon ab, wie gut es selbst funktioniert. Deshalb hat es die Evolution so eingerichtet, dass das Gehirn sozusagen ein Vorrecht auf die im Blut zirkulierende Energie genießt. Das bedeutet aber auch, dass das Gehirn extrem empfindlich reagiert, wenn sich ein Mangel an Blutzucker andeutet, also eine Hypoglykämie. Bei Migränepatient:innen ist diese Sensibilität besonders ausgeprägt. Das hat zur Folge, dass ein "Migränegehirn" so extrem auf Blutzuckerschwankungen reagiert, dass es den Körper über die Migräneattacke in einen Energiesparmodus zwingt (7).
Migräne als "Heißhunger" des Gehirns
Aus diesem Grund wird Migränepatient:innen unter anderem empfohlen, regelmäßige Mahlzeiten einzunehmen und keine zu großen Essenspausen zu machen. Wenn sie jedoch Lebensmittel zu sich nehmen, die den Blutzucker individuell stark ansteigen lassen, fällt er kurze Zeit nach dem Essen so stark ab, dass dem Gehirn ein Energiedefizit gemeldet wird (8) (vgl. Grafik). Hintergrund ist, dass der Körper als Reaktion auf den hohen Blutzuckerspiegel viel Insulin ausgeschüttet hat, um die Energie in den Zellen zu transportieren. Bei gesunden Menschen macht sich das als Heißhunger bemerkbar, der uns zum süßen Dessert oder Snack greifen lässt. Eine Migräneattacke kann sich also auch als Heißhunger äußern, das einen Not-Aus-Schalter betätigt – einen Schalter in Form einer Migräneattacke, die Betroffene zum Ausruhen zwingt, so dass sie oft nicht einmal mehr Licht oder Lärm ertragen.
Blutzuckerbedingte Einflußfaktoren auf die Migräne.
Pathogenese durch gefäßerweiternde Botenstoffe
Darüber hinaus steht die Blutzuckerreaktionen nach der Nahrungsaufnahme in einem engen Zusammenhang mit Entzündungsprozessen, die wiederum an der Entstehung von Migräneattacken beteiligt sind. (9,10) Zum Hintergrund: Wird dem Körper eine Entzündung gemeldet, sorgen Botenstoffe des Immunsystems dafür, dass sich die Blutgefäße erweitern, damit das Entzündungsgebiet stärker durchblutet wird. Der Botenstoff, der zu den stärksten Blutgefäß-relaxierenden Substanzen zählt, ist CGRP (Calcitonin gene-related peptide). Dadurch, dass CGRP auch wichtige Gehirnarterien erweitert, wird ihm eine wichtige Rolle bei der Pathogenese der Migräne zugeschrieben.
CGRP steht in mehrfacher Hinsicht im Zusammenhang mit dem Blutzuckerspiegel. So hemmt ein stabiler Blutzuckerspiegel die CGRP-Produktion und kann dadurch der Migräne vorbeugend entgegenwirken. (11) Die reduzierte Ausschüttung von CGRP verbessert gleichzeitig die zerebrale Energieversorgung, denn durch die Hemmung dieses Neuropeptids wird der Transport von Glukose in die Zelle ebenso gefördert wie der Abbau von Glykogen im Muskel. (12)
Nachdem der mögliche pathophysiologische Zusammenhang zwischen CGRP und Migräne erkannt war, wurden direkte Antagonisten für den CGRP-Rezeptor entwickelt, um Migräneattacken vorzubeugen. Sie sind heute als monoklonale Antikörper bekannt und kommen als Migräneprophylaxe bei besonders stark betroffen Patient:innen zum Einsatz.
Evidenz der ernährungsbasierten, nicht-medikamentösen Migräneprophylaxe
Aus der Erkenntnis, dass die Produktion von CGRP sowohl durch Blutzuckerveränderungen beeinflusst wird, als auch selbst einen Einfluss auf den Blutzucker hat, ergibt sich eine neue, nicht-medikamentöse Herangehensweise für die vorbeugende Migränetherapie. Um die Effekte einer auf personalisierter Ernährung beruhender DiGA auf Migräne zu untersuchen, führte Perfood eine prospektive Studie durch. Dabei zeigte sich, dass die Anzahl der Migränetage nach zwölf Wochen mit einer personalisierten Ernährung um durchschnittlich 2,4 Tage sank, das entspricht 44 Prozent. (13) Derzeit findet eine große klinische Interventionsstudie am Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) statt.(14,15) Schon jetzt lässt sich sagen, dass sich Migräne-Betroffenen mit Hilfe von CGM ein neuer Blick in den eigenen Körper öffnet. Die Glukosemessung ist ein wichtiger Baustein in der ernährungsbasierten Migräneprophylaxe, um mit Hilfe der App auf Rezept ihre Ernährung personalisiert und effektiv anzupassen.
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (12) Seite 27-29