Leuchttürme dienen der allgemeinen Orientierung insbesondere bei schlechter Sicht. Bis in die 90er Jahren des letzten Jahrhunderts wurden Innovationen in der Diabetologie ganz überwiegend aus Leuchtturm-Kliniken in die damals hausärztliche Versorgungsebene weitergegeben und trugen damit schrittweise zur Verbesserung der Lebenssituation von Menschen mit Diabetes bei. Schulungen, ICT, Pumpentherapie und Fußbehandlungen, um nur einige zu nennen wurden quasi in der Klinik "erfunden" und dienten als Modell für die optimale Behandlung "draußen". Studien zu neuen Therapien wurden ausschließlich an großen Kliniken und deren Ambulanzen durchgeführt, der mediale Diskurs von deren Leitern bestimmt. Diese Entwicklung schuf durch Ausbildung von Diabetolog:innen und Diabetesberater:innen die personellen Ressourcen für die flächendeckende Versorgung mit Schwerpunktpraxen in der Republik.
Heute, knapp dreißig Jahre später, steht die Welt auf dem Kopf. Neuestes technisches Zubehör der Diabetestherapie wird zuallererst in der "community" der Schwerpunktpraxen getestet, die nicht selten zu großen Studienzentren der innovativsten Medikamente mutiert sind. Nicht die örtlichen Kliniken, sondern die Schwerpunktpraxen organisieren federführend diabetologische Qualitätszirkel für Hausärzte. Gelegentlich finden diese Veranstaltungen noch in den Räumen eines Krankenhauses, meist aber in Räumen der kassenärztlichen Vereinigungen statt.
Diese Abkoppelung vom Fortschritt in der Diabetologie hat u.a. dazu geführt, dass mehr und mehr Kliniken das Feld der Diabetologie aufgegeben oder marginalisiert haben. Ein wesentlicher Punkt hierbei ist die vollständige Verweigerung der hierarchisch organisierten Klinik gegenüber der Autonomie des Menschen mit Diabetes und seiner persönlichen Behandlungsführung. Das von ihm eingebrachte Know-how seiner Erkrankung führt regelmäßig zu Reibungen mit Pflege und Therapeuten, die auf diese Entwicklung nicht vorbereitet sind. Einige Leser haben vielleicht selbst schon Patienten telefonisch in entfernten Kliniken gecoacht, nicht immer zur Freude der Behandler. Die Verwendung mitgebrachter Glukosesensoren durch Patienten, die Dokumentation der angezeigten Ergebnisse im Klinikinformationssystem (KIS) oder auch nur das schiere Wissen um die Existenz klinikfremder Therapiegeräte (Pumpen) im Patientenzimmer stellt manche Station in unseren Krankenhäusern auf nicht zu unterschätzende Proben.
Ein wesentlicher Schritt für die Öffnung der Kliniken ist die transparente Dokumentation der Diabetestherapie im komplett digitalisierten Klinikinformationssystem (KIS). Nur so können technische Hilfsmittel korrekt identifiziert, komplexe Schemata nachvollziehbar angeordnet und Ergebnisqualität der Glukosetherapie glaubhaft überprüft werden. Daten aus Glukosesensoren, Insulinpumpen oder Smart Pens sollten für die stationäre Behandlung nutzbar gemacht werden. Nur so können die vielbeschworenen telemedizinischen Konsile überhaupt erst entwickelt werden, um den zunehmenden lokalen Fachkräftemangel abzumildern.
Erste Schritte in Richtung einer digitalen Diabetestherapie und deren Vorteile werden in der Abbildung komplexer diabetologischer Informationen im KIS aber bereits heute erkennbar. In diesem Schwerpunkt zeigen wir Lösungsansätze aus verschiedenen Versorgungsebenen, von der Uniklinik bis zum regionalen Krankenhaus, die allesamt durch Eigeninitiative der Kliniken entstanden sind. Keines der vorgestellten Systeme erhebt den Anspruch auf Vollständigkeit und Perfektion. Sie sind teils über ein Jahrzehnt oder gerade erst im letzten Jahr entstanden und spiegeln die unterschiedlichsten Bedarfe von Hochspezialisierung einer reinen Diabetesstation bis zur Anwendung über alle Fachdisziplinen eines Maximalversorgers wider.
In allen Fallbeispielen aber wird das grundsätzliche Problem der Therapieanpassung der Insulintherapie im Alltag deutlich, der bislang nicht zufriedenstellend gelöst werden konnte. Im Kern geht es um die Frage, ob Dosierungen der Insulintherapie durch das KIS "errechnet" werden dürfen. Das dürfen nur dafür zugelassene Medizinprodukte, die einer erheblichen Reglementierung unterliegen und die Hersteller der KIS vor juristische Probleme stellen könnte. Allein die Aussicht darauf verdirbt Ihnen den Appetit auf solche Angebote. Was viele Apps und AID-Systeme hierzulande schmerzlos erlauben, hat bislang keine Chance im Klinikalltag zur Unterstützung von Pflege und Patienten.
Es ist hohe Zeit, die bundesdeutschen Kliniken auf den Stand der täglichen diabetologischen Praxis zu hieven. Nur so können wir verhindern, dass Kliniken bei schlechter Sicht ohne Orientierung zum Notfall der Diabetologie werden.
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (10) Seite 5