Die VDBD AKADEMIE freut sich, in diesem Jahr ein Seminarprogramm mit vielen neuen Themen anbieten zu können, darunter auch "Adipositastherapie – Strukturen aufbauen für die Behandlung". Wir haben die Referent:innen Dr. Winfried Keuthage und Ernährungsexpertin und Diabetesberaterin Verena Janning gefragt, was das Besondere an ihrem Seminar ist und warum es sich für Diabetesberater:innen lohnt teilzunehmen.
Was ist Ihre Motivation, sich für die Adipositastherapie einzusetzen, weshalb haben Sie das Seminar entwickelt?
Verena Janning: In Deutschland stehen adipösen Menschen aktuell keine ausreichenden Therapieangebote zur Verfügung. Krankenkassen beteiligen sich nur eingeschränkt und regional sehr unterschiedlich an den Kosten für konservative Therapieangebote und die prä- und postoperative ernährungsmedizinische Betreuung bei adipositaschirurgischen Eingriffen. Unser Ziel ist es daher, durch flächendeckende einheitliche Therapieformen und -strukturen die Krankenkassen von der notwendigen Unterstützung in der Adipositastherapie zu überzeugen.
Dr. Winfried Keuthage: Die Häufigkeit des Krankheitsbildes Adipositas in Deutschland nimmt stetig zu, mit der Konsequenz, dass auch Folgeerkrankungen und Folgekosten der Adipositas zunehmen. Die Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft (DAG) empfiehlt adipösen Menschen die Teilnahme an einem Basisprogramm bestehend aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie [1]. In der im Februar 2018 erschienenen S3-Leitlinie "Chirurgie der Adipositas und metabolischer Erkrankungen" wird in vielen Fällen vor der Operation ein konservativer Therapieversuch gefordert [2]. Der Medizinische Dienst des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen (MDS) sieht in seinem aktuellen Leitfaden zur Begutachtung von Anträgen für einen adipositaschirurgischen Eingriff vor, dass vor der OP-Genehmigung ein konservativer Therapieversuch erfolgen sollte, im Idealfall ein multimodales konservatives Programm zur Gewichtsreduktion bestehend aus Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie. Leitlinien und Leitfaden machen zur Bedingung, was in Deutschland flächendeckend weder angeboten noch von den Kostenträgern finanziert wird. Bislang fehlen in Deutschland ausreichend Therapieangebote für Menschen mit Adipositas.
© Ines Heider | Dr. Winfried Keuthage, Facharzt für Allgemeinmedizin, Ernährungsmediziner und Diabetologe DDG in eigener Schwerpunktpraxis Diabetes und Ernährungsmedizin in Münster.
© privat | Verena Janning ist Diätassistentin, Diabetesberaterin DDG und hat ein abgeschlossenes Bachelorstudium Ernährungstherapie B.Sc. (Clinical Nutrition).
Worum geht es konkret in Ihrem Seminar zur Adipositastherapie?
Janning: Inhaltlich werden Grundlagen zur Adipositas, eine Übersicht der Behandlungsmöglichkeiten der konservativen Gewichtsreduktion, sowie Interpretation von Gewichtsverläufen und Stoffwechsellagen anhand von Fallbeispielen behandelt. Zusätzlich werden die Vor- und Nachsorge von adipositaschirurgischen Eingriffen intensiv erläutert.
Keuthage: Der Hausarzt ist für Menschen mit Adipositas primäre Anlaufstelle. Der Vorteil einer diabetologischen Schwerpunktpraxis zur Etablierung der Adipositastherapie liegt jedoch in der häufigen Korrelation von Adipositas und Diabetes mellitus. Besonders Patient:innen mit Diabetes mellitus Typ 2 profitieren von einem solchen Angebot. In der diabetologischen Schwerpunktpraxis bietet sich die Möglichkeit, das bisherige Leistungsspektrum auszuweiten und eine ausreichende Betreuung zu gewährleisten.
Seit Jahren können wir in unserer Praxis auf eine erfolgreiche Adipositastherapie zurückblicken. In dieser Zeit haben wir uns Strukturen erarbeitet, die wir nun weitergeben wollen. Therapieerfolg und Patientenzufriedenheit bestärken uns darin. Hierzu zählt beispielsweise der Vertrag der "besonderen Versorgung Adipositas". Vorreiter der Krankenkassen in der Region Westfalen-Lippe war die Barmer. Im Jahr 2018 ist der "Vertrag gemäß §140a SGB V über die Besondere Versorgung von Patient:innen mit krankhaftem Übergewicht (Adipositas)" in Kraft getreten. Mittlerweile hat sich die IKK-Classic dem Vertrag angeschlossen. Die von den beiden Krankenkassen finanzierten Behandlungsangebote sind ärztlich geleitet und umfassen sowohl die konservative als auch die operative Therapie. Der Vertrag sieht vor, dass weitere Krankenkassen beitreten können. Diabetologische Schwerpunkpraxen können hier als Vertragspartner fungieren.
Für wen ist das Seminar Adipositastherapie besonders interessant?
Janning: Das Seminar richtet sich daher an Diabetesberater:innen, die ihr aktuelles Wissen bezüglich unterschiedlicher Methoden zur Gewichtsreduktion und dem daraus resultierenden Einfluss auf die Stoffwechsellage erweitern sowie die Adipositastherapie in ihrem beruflichen Umfeld etablieren wollen. Der Mehrwert des Seminars liegt darin, dass wir als Referent:innen die theoretische Aufbereitung des Themas und praxisrelevante Arbeit mit Patientenbeispielen einbeziehen.
Sie setzen das Schulungsprogramm DocWeight ein. Was ist das für ein Therapiekonzept?
Janning: Das 12-monatige multimodale, interdisziplinäres Konzept DOC WEIGHT® vereint die Bausteine Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie miteinander. Das interdisziplinäre Team besteht aus einem Arzt, einer Ernährungsfachkraft, einem Bewegungstherapeuten sowie in der Regel einem Psychologen. Das Programm zielt auf eine Ernährungsumstellung bzw. -optimierung, Verbesserung der Aktivität sowie Verhaltensmodifikation ab. Einschlusskriterium ist ein Ausgangs-BMI von mindestens 35 kg/m2.
Keuthage: DOC WEIGHT® wurde vom Verband deutscher Ernährungsmediziner e.V. (BDEM) und dem Verband der Diätassistenten – Deutscher Bundesverband e.V. (VDD) entwickelt und vom MDS anerkannt. Zur flächendeckenden Empfehlung der Kostenübernahme führte dies allerdings nicht. Die neue Version DOC WEIGHT® 2.3 wird derzeit im Rahmen einer dreijährigen Studie in ernährungsmedizinischen Schwerpunktpraxen des BDEM und an der Universität Leipzig evaluiert. Die Neuerungen bei DOC WEIGHT® 2.3 sind, dass alle Menschen mit Adipositas ab einem BMI von 30 kg/m2 teilnehmen können (Voraussetzung BMI 30 kg/m2- 35 kg/m2 beim Vorliegen von adipositas-assoziierten Komorbiditäten), sowie eine optionale Ergänzung um eine achtwöchige Formuladiätphase ab einem BMI von 35 kg/m2 zu Beginn des Programms.
Sind die Möglichkeiten der konservativen Therapie ausgeschöpft, ist laut S3-Leitlinie bei bestimmten Bedingungen der adipositaschirurgische Eingriff zu prüfen. Was bedeutet das?
Keuthage: Ja, bei einem BMI oberhalb von 40 kg/m2 bzw. oberhalb von 35 kg/m2 und Bestehen von Folgeerkrankungen ist die Indikation zu prüfen. Die prä- und postoperative ernährungsmedizinische Betreuung sollte gemeinsam durch eine:n Ärzt:in (z.B. Ernährungsmediziner:in, Fachkraft für Innere Medizin oder Allgemeinmedizin, Diabetolog:in) und Ernährungsfachkraft (z.B., Oecotropholog:in, Diätassistent:in) erfolgen. Doch vor der eigentlichen Indikationsstellung eines adipositaschirurgischen Eingriffs hat der Betreffende eine Reihe von Voraussetzungen zu erfüllen. Oft wendet sich der Interessierte in dieser Phase an seine Krankenkasse, Selbsthilfegruppen Adipositas oder Gleichgesinnte mittels sozialer Netzwerke. Mit Hilfe des Schulungsprogramms b.m.i.-Zirkel können den Patient:innen wichtige Informationen praxisnah vermittelt werden [4]. Sind die OP-Voraussetzungen in Bezug auf Indikation und Kontraindikationen erfüllt, kann der Versicherte bei seiner Krankenkasse die Kostenübernahme beantragen. In nahezu allen Fällen schalten die Krankenkassen den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) ein, um jeden Einzelfall prüfen zu lassen. Zur weiteren Operationsvorbereitung zählen unter anderem Laboruntersuchungen, Gastroskopie und Abdomensonografie, welche in der Regel über die Krankenversichertenkarte abgerechnet werden. In Deutschland fehlt es bisher an einer flächendeckenden Versorgung sowie adäquater Finanzierung solcher prä- und postoperativen ernährungsmedizinischen Leistungen. In einigen Regionen erfolgt die ernährungsmedizinische Betreuung im Krankenhaus, in dem auch die operativen Eingriffe durchgeführt werden.
Was ist aus ernährungsmedizinischer Perspektive nach einem adipositaschirurgischen Eingriff besonders wichtig?
Janning: Nach einen adipositaschirurgischen Eingriff benötigen Patient:innen eine regelmäßige und lebenslange ernährungsmedizinische Nachsorge. Dieses umfasst eine intensive Ernährungsberatung, körperliche und laborchemische Untersuchungen sowie die Beratung zur Einnahme von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten. Die Nachsorge sollte im ersten postoperativen Jahr besonders engmaschig erfolgen, da in diesem Zeitraum die Komplikationsrate am höchsten ist. Patient:innen mit regelmäßiger postoperativer Nachsorge verlieren nach Magenbypass signifikant mehr Gewicht als solche, die die Nachsorge vernachlässigen oder auslassen. Die ernährungsmedizinische Nachsorge ist zeitintensiv und erfordert spezifische Kenntnisse. Bisher engagieren sich nur wenige Ärzt:innen auf diesem Gebiet. Dies mag unter anderem daran liegen, dass es meist keine angemessene Honorierung der Nachsorge gibt. Einige Krankenkassen sind der Auffassung, dass das DRG des operativen Eingriffs eine Nachsorge beinhaltet. Andere sehen ernährungsmedizinische Leistungen im EBM abgebildet. Strittig ist insbesondere auch, wer die lebenslangen Laboruntersuchungen zu zahlen hat.
Im Herbst vergangenen Jahres hat der Gemeinsame Bundesausschuss ein Disease-Management-Programm Adipositas verabschiedet, das im April 2024 in Kraft treten soll. Wie schätzen Sie das neue DMP ein?
Keuthage: Ziel des DMP Adipositas ist es, die vorhandenen Gesundheits- und Unterstützungsangebote für Patient:innen mit krankhaftem Übergewicht zu verbessern. Durch ein strukturiertes, bedarfsorientiertes und leitliniengerechtes Angebot soll der Verlauf der Erkrankung positiv beeinflusst und die Lebensqualität erhöht werden. Zusätzlich wird eine Gewichtsreduktion bzw. -stabilisierung angestrebt. Die Ausgestaltung des DMP Adipositas erfolgt jedoch regional und noch fehlt ein passendes Schulungsprogramm im DMP, denn DOC WEIGHT® entspricht (noch) nicht allen Anforderungen des künftigen DMP.
Vielen Dank, Herr Dr. Keuthage, Frau Janning für das Gespräch!
Das Interview führte Dr. Gottlobe Fabisch und Ria Grosse.
Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (4) Seite 40-42