Mit Ernährungsminister Cem Özdemir hat die von Diabetesorganisationen erhobene Forderung nach Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse einen engagierten Verfechter. Bei der übergeordneten Ernährungsstrategie ist die Bundesregierung jetzt einen Schritt weiter.

Er hat es wieder getan: Auf dem Agrarkongress des Bundesumweltministeriums am 17. Januar hat Bundesernährungsminister Cem Özdemir für die Streichung der Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse oder Hülsenfrüchte plädiert. Die Streichung würde viele Menschen im Alltag unterstützen und zugleich gesunde Ernährung günstiger machen. Und im Übrigen nehme sie die Empfehlung der Zukunftskommission Landwirtschaft auf, die Mehrwertsteuer auf diese Produkte zu senken, so der Grünenpolitiker. Gerade jetzt in diesen schwierigen Zeiten, in denen die Preise steigen, insbesondere auch für Lebensmittel, hält Özdemir den Vorschlag der Mehrwertsteuer-Nulldiät für sinnvoll.

Mit dieser Forderung beginn der Minister das neue Jahr so, wie er 2022 beendet hat. "Ich fände es nach wie vor sinnvoll, wenn man auf Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte einen Mehrwertsteuersatz Null machen würde", hatte er Ende November in der ARD-Talksendung "maischberger" zu Protokoll gegeben. Und damit selbst darauf hingewiesen, dass er die Idee im Laufe des Jahres beständig beworben hat. Im April 2022 beschrieb er im Interview mit der Nachrichtenagentur dpa die Absenkung des Mehrwertsteuersatzes für Obst und Gemüse als einen "Vorschlag mit doppelter Dividende, wie ich sie bevorzuge". Auch damals schon war die Forderung ein Beitrag in der Diskussion um die sozialen Verwerfungen durch die steigenden Lebenshaltungskosten in Folge des Ukraine-Kriegs: Im März 2022 kosteten Nahrungsmittel nach Angaben des Statistischen Bundesamts 6,2 Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Teurer wurden vor allem Speisefette und Speiseöle (plus 17,2 Prozent), aber eben auch frisches Gemüse mit einem satten Plus von 14,8 Prozent. Der Sozialverband VdK und die Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) hatten die Bundesregierung damals aufgefordert, die Mehrwertsteuer generell bei Grundnahrungsmitteln auszusetzen.

Schon im letzten Frühjahr fehlte in den Ausführungen von Özdemir aber nicht der Verweis auf mögliche Hindernisse auf dem Weg zur ernährungspolitischen Steueroase: Prüfung und Umsetzung möglicher Mehrwertsteueränderungen seien Sache des Finanzministeriums, hieß es. Das steht bekanntermaßen unter der Leitung des FDP-Politikers Christian Lindner. FDP-Fraktionschef Christian Dürr kritisierte im April, eine solche Steuersenkung sei keine Maßnahme, um gezielt Menschen mit geringen Einkommen zu entlasten. Selbst bei Bündnis 90/Die Grünen gebe es aber keine Mehrheit für die Null-Prozent-Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse, wie Özdemir bei "maischberger" einräumte. "Es gab auch Kritik in der eigenen Fraktion. Manche sagen, man muss das gesamte System der Mehrwertsteuer ändern. Die haben formal recht", so der Minister. Damit wäre das große Fass der zum Teil komödiantisch inkonsequenten Mehrwertsteuertarife aufgemacht. Um die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel zu senken, brauche er "zumindest noch den Finanzminister und auch die Sozialdemokraten", so der Minister in der ARD-Sendung.

Eckpunkte verabschiedet

Die Forderung einer Mehrwertsteuer von 0 Prozent auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte ist also auch aus dem Mund des für Ernährung zuständigen Bundesministers nur als ein Diskussionsbeitrag zu sehen, der politischen Druck ausüben soll. Formell von der Bundesregierung verabschiedet ist dagegen ein Papier, das auf zehn Seiten die Eckpunkte einer neuen Ernährungsstrategie nennt. Am 21. Dezember 2022 wurde das vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft vorgelegten Dokument vom Kabinett abgesegnet. Zentrale Ziele sind:

  • eine stärker pflanzenbetonte Ernährung,
  • die weitere Reduzierung von Zucker, Fetten und Salz in verarbeiteten Lebensmitteln,
  • eine effektive Reduzierung der Lebensmittelverschwendung, indem über die gesamte Kette Lebensmittelabfälle halbiert werden,
  • Mahlzeiten in der Gemeinschaftsverpflegung sollen gesünder und nachhaltiger werden und die Standards der Deutschen Gesellschaft für Ernährung einhalten.

Nötig ist laut des Eckpunktepapiers ein systemischer Ansatz aus Verhaltens- und Verhältnisprävention, der die Auswirkungen auf Umwelt und Klima sowie die unterschiedlichen Lebenswelten berücksichtigt und die Themen Ernährung und Bewegung verbindet.

Parallel dazu wird ein Runder Tisch Bewegung und Gesundheit beim BMG Ansätze für mehr Bewegung erörtern.

Im Koalitionsvertrag der Ampelparteien findet sich die Strategie gleich im ersten Satz zum Punkt "Ernährung": "Wir werden, insbesondere mit Blick auf Kinder, mit den Akteuren bis 2023 eine Ernährungsstrategie beschließen, um eine gesunde Umgebung für Ernährung und Bewegung zu schaffen", schrieben die Partner.

Die Ernährungsstrategie soll als Dachstrategie auf mehrere Phasen und Zeiträume bis 2050 ausgerichtet sein und kurz-, mittel- und langfristig ernährungspolitische strategische Prioritäten, Handlungsfelder und deren jeweilige Ziele definieren, konkrete Maßnahmen benennen und effektive Wege zu deren Verwirklichung aufzeigen. Die Umsetzung der Ernährungsstrategie soll regelmäßig überprüft werden. Dazu ist es notwendig, dass die Maßnahmen evaluiert werden, um nachsteuern zu können.

Die Strategie nimmt bestehende Strategien und Maßnahmenpläne wie die Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung, die nationale Reduktions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten oder den nationalen Aktionsplan IN FORM auf und entwickelt sie fort, so die Ankündigung.

Brückenschlag zu UN-Ernährungssystemgipfel

Ein zentraler Ansatzpunkt der Ernährungsstrategie soll die pflanzenbasierte Ernährung sein. Am 25. Oktober 2022 fand gemeinsam mit dem Bundeszentrum für Ernährung (BZfE) ein Brückenschlag zwischen dem Themenfeld "Ernährung der Zukunft – mehr pflanzenbasiert" des Nationalen Dialogs zum UN Food Systems Summit (UNFSS) und der Ernährungsstrategie statt. Über 160 Teilnehmenden unter anderem aus der Politik, Verwaltung, Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Ernährungswirtschaft und Verbänden diskutierten über eine pflanzenbetonte Ernährung.

Mit dem UN FSS rufen die Vereinten Nationen zum gemeinsamen Handeln gegen Hunger und alle anderen Formen der Fehlernährung auf . Der Nationale Dialogprozess dazu wurde im Juni 2021 bekommen, auch an ihm sollen alle Akteure des Ernährungssystems mitwirken, um Lösungen für das deutsche Ernährungssystem von morgen zu erarbeiten. Partnerschaften für konkrete Aktivitäten sollen identifiziert und umgesetzt werden.

Breite Beteiligung erwünscht

Die Ernährungsstrategie soll unter Einbindung der relevanten Akteure erarbeitet werden, nicht "im stillen Kämmerlein", wie Özdemir betont. Nach Überzeugung des BMEL bedürfen grundlegende Veränderungen einer gemeinsamen Kraftanstrengung, bei der alle gefordert seien – Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Zur digitalen Auftaktveranstaltung der Ernährungsstrategie am 29. Juni 2022 kamen denn auch 150 Teilnehmende, die Liste der "Stakeholder" umfasst rund 120 Organisationen und Institutionen, vom Bundesverband der Deutschen Süßwarenindustrie bis zum Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, von der Deutschen Diabetes Gesellschaft bis zu zum Verband Deutscher Schul- und Kitacaterer.

Verabschiedung noch 2023

Nach Verabschiedung des Eckpunktepapiers soll in den nächsten Monaten bis zum März in Experten-Workshops sowie in Umfragen unter den Stakeholdern Feedback hinsichtlich Zielbild, Handlungsfeldern und Maßnahmen eingesammelt und spezifische Lösungsansätze entwickelt werden. Im Juni wird laut BMEL die Ressortabstimmung der Ernährungsstrategie eingeleitet, bis Ende 2023 soll das fertige Werk dann wiederum vom Bundeskabinett beschlossen werden. Und bis 2025 ist geplant, "erste Maßnahmen der Ernährungsstrategie" auch tatsächlich umzusetzen.

Özdemir erläuterte Hintergründe und Ziele der Arbeit: "Gut zwei Drittel der Männer, ungefähr die Hälfte der Frauen und fast jedes sechste Kind in Deutschland sind übergewichtig. Ich möchte den Leuten nicht vorschreiben, was sie essen sollen. Ich möchte dafür sorgen, dass es für alle Menschen in Deutschland möglich ist, sich gut und gesund zu ernähren – unabhängig von Einkommen, Bildung oder Herkunft." Als Hebel soll hier die Gemeinschaftsverpflegung herhalten, um allen Bürgern Erfahrungen mit guten, leckeren und gesunden Mahlzeitent zu ermöglichen. "Es hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun, wenn hart arbeitende Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich darauf verlassen können, in der Kantine gutes Essen zu bekommen. Es sollte selbstverständlich sein, dass Patienten in Krankenhäusern das für ihre Genesung bestmögliche Essen bekommen. Und wir tun uns als Gesellschaft einen großen Gefallen, wenn wir unseren Kindern, dem Wertvollsten, was wir haben, in Kita und Schule ein gesundheitsförderndes und abwechslungsreiches Essensangebot machen", erläuterte der Grünenpolitiker. "Denn wer die Erfahrung macht, wie gut Obst, Gemüse oder Hülsenfrüchte schmecken, greift vielleicht seltener zum beliebtesten Kantinengericht der Deutschen, der Currywurst mit Pommes. Das schont die eigene Gesundheit, die Umwelt und das Klima", so Özdemir.

VDBD unterstützt Forderung

Den aktuellen Vorstoß des Bundesernährungsministers, die Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte abzuschaffen, hat der Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e. V. (VDBD) Mitte Januar befürwortet. Man hoffe, "dass andere verantwortliche Politiker diese Notwendigkeit ebenso erkennen", so VDBD-Vorsitzende Dr. rer. medic. Nicola Haller. "Jede und jeder muss sich gesunde Lebensmittel leisten können. Gerade in Zeiten von Inflation und steigenden Lebensmittelpreisen ist Cem Özdemirs Forderung absolut begrüßenswert", machte sie klar. Ergänzend hierzu fordert der Verband von der Ampelkoalition eine Zuckersteuer für Erfrischungsgetränke. "Das würde der Ernährungsstrategie der Bundesregierung eine höhere Schlagkraft geben, da einerseits der Griff zu gesunden Lebensmitteln gefördert und andererseits die Industrie dazu bewegt würde, auf unnötigen Zucker in ihren Produkten zu verzichten", sagte VDBD-Geschäftsführerin Dr. Gottlobe Fabisch.

Die Abschaffung der Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte wäre ein Meilenstein für die Diabetesprävention, betont der VDBD. Denn neben den rund acht Millionen Diabetespatientinnen und -patienten leben in Deutschland etwa 15 bis 20 Millionen Menschen mit einem Prädiabetes. "Ihnen kann gesunde Ernährung unter Umständen sogar einen manifesten Diabetes ersparen", erläuterte Haller. Finanzielle Anreize können den Ausschlag für eine flächendeckend gesündere Ernährung geben, wovon aus Sicht der Diabetesberaterin besonders Geringverdiener profitieren würden. Derzeit seien ungesunde Lebensmittel oftmals günstiger; ballaststoffarme, zucker-, fett- und fleischreiche hyperkalorische Ernährung, aber auch Rauchen und Bewegungsmangel betreffen in Deutschland vor allem ärmere Bevölkerungsschichten. "Für Personen und Familien mit und unter dem Mindestlohn oder Anspruch auf Sozialleistungen ist ein gesünderes Ernährungsmuster schlichtweg unbezahlbar." Untersuchungen hierzu würden zeigen, dass die oft empfohlene mediterrane Ernährung etwa 20 bis 40 Prozent höhere finanzielle Aufwendungen erfordert als die so genannte Western Diet.


Autor:
Marcus Sefrin
Chefredaktion DiabetesNews
Schmiedestraße 54
21335 Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2023; 35 (1/2) Seite 6-8