Unter den vielen Reformvorhaben des Bundesministers für Gesundheit erntet das Gesundes-Herz-Gesetz (GHG) besonders harsche Kritik. Erklärtes Ziel des GHG sind die Früherkennung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Erwachsenen sowie von Fettstoffwechselerkrankungen bei Kindern und Jugendlichen.

Am 28. August dieses Jahres verabschiedete die Bundesregierung per Kabinettsbeschluss ihren Gesetzentwurf zum GHG. Doch schon seit dem Referentenentwurf zu diesem Gesetzesvorhaben entbrannte eine öffentliche Debatte um den gesundheitspolitischen Ansatz des GHG und zu den vorgeschlagenen Maßnahmen zur Vorbeugung kardiovaskulärer Ereignisse. Gemeint ist insbesondere der frühzeitigere Einsatz von Lipidsenkern gestaffelt nach Alter und Risiko. Dafür will die Bundesregierung Beitragsgelder umschichten, die die gesetzlichen Krankenkassen zur verhaltensbezogenen Prävention, Gesundheitsförderung und Primärprävention nach §20 SGB V aufwenden. Kritiker haben dem Gesetzesentwurf daher den Titel "Pillen-statt-Prävention-Gesetz" verpasst. Gleichzeitig sollen Screening-Instrumente, d.h. Fragebögen und Laboruntersuchungen zur Erfassung kardiovaskulärer Risikofaktoren im Rahmen der J1-Untersuchung im Alter von 12 bis 14 Jahren und der "Check-up" Untersuchungen im Alter von 25, 35 und 50 Jahren verbindlich eingeführt werden.

Fehlende Evidenz

Aus Sicht des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (EbM-Netzwerk) stellt das GHG einen "Affront gegenüber dem Kerngedanken der evidenzbasierten Gesundheitsversorgung" dar und hebelt einen Großteil der Grundsätze der evidenzbasierten Einführung von Leistungen und einer ethisch gebotenen wie rechtlich geforderten gemeinsamen Entscheidungsfindung mit Patient:innen aus. Besonders kritisch beurteilt das Netzwerk, dass die geplante Ausweitung von Leistungen der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ohne vorherige systematische und transparente Bewertung der Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit vorgenommen werden soll.

Die Regelungen zur präventiven Verordnung von Lipidsenkern und zum Screening sind nicht auf der Grundlage einer systematischen, öffentlich zugänglichen Bewertung von Nutzen, Schadensrisiken und gesundheitsökonomischen Effekten erfolgt, wie es die Bewertungsmaßstäbe des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) vorsehen. Laut EbM-Netzwerk besteht zudem die Gefahr, dass durch die Neuregelungen monetäre Fehlanreize entstehen und eine Fehl- und Überversorgung gefördert werden, obwohl hier eine Reduzierung von Nöten wäre. Diese grundsätzliche Kritik des EbM-Netzwerks muss den Bundesminister für Gesundheit besonders schmerzen, da Karl Lauterbach zu den Gründungsmitgliedern des Netzwerks gehörte.

Unterstützung für die Position des EbM-Netzwerks kommt aus den Reihen des G-BA. Die Unparteiischen Mitglieder des G-BA erklären in ihrer Stellungnahme ebenfalls, dass der Gesetzentwurf nicht dem Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsgebot des GKV-Systems entspreche und eine Abkehr von den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin darstelle. Außerdem verstärke das GHG den Trend, präventive Maßnahmen auf individuelles Verhalten zu fokussieren, während sozio-ökonomische Einflussfaktoren unberücksichtigt bleiben. Dies schadet den jahrelangen Bemühungen um die Ausgestaltung eines Präventionsgesetzes und entlasse die Zuständigen für gesunde Lebenswelten in Schulen und in Kinder- und Jugendeinrichtungen aus ihrer Verantwortung.

Gesundes-Herz-Gesetz auf einen Blick
  • Verbesserung der Früherkennung kardiovaskulärer Risiken bei Erwachsenen durch Check-ups im Alter von 25, 35, 50 Jahren
  • Verbesserung der Früherkennung kardiovaskulärer Risiken bei Kindern und Jugendlichen u.a. durch Screening auf familiäre Hypercholesterinämie
  • Vorbeugung kardiovaskulärer Ereignisse durch Absenkung der Verordnungsschwelle von Lipidsenkern gestaffelt nach Alter und Risiko
  • Einmal jährlich Beratung zu Prävention und Früherkennung in Apotheken, unabhängig vom ärztlichen Check-up
  • Reduzierung des Nikotinkonsums
  • Öffnung der DMP für Risikopatient:innen
  • Verpflichtungen der Krankenkassen alle DMP anzubieten
  • Verpflichtung des G-BA, ein neues DMP für Menschen mit hohem Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankung zu entwickeln
  • Erfolgsabhängige Vergütung für die DMP Diabetes mellitus Typ 1, Diabetes mellitus Typ 2 und Koronare Herzerkrankungen

Pathologisierung und Überversorgung

"Besser komplett einstampfen", pointierter hätte die Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands Dr. Carola Reimann die Position ihrer Organisation zum GHG nicht zusammenfassen können. So kritisiert der AOK-Bundesverband die vom GHG vorgesehene Öffnung der bestehenden Disease-Management-Programme für Risikopatienten. Laut einer Folgenabschätzung der AOK auf der Basis epidemiologischer Daten wären bei konsequenter Umsetzung der Pläne – Mehrfach-Einschreibungen eingeschlossen – bis zu 34 Millionen zusätzliche DMP-Teilnahmen möglich. Bei zehn Minuten Dokumentationsaufwand pro Patient und Quartal ergäben sich für jede und jeden der derzeit rund 44 000 aktiv in die DMP eingebundenen Hausärzt:innen ca. 32 zusätzliche Arbeitstage. Die Zusatzkosten für die GKV beziffert die AOK nach einer fünfjährigen Hochlaufphase bei den Teilnehmendenzahlen auf 3,8 Milliarden Euro pro Jahr, was wiederum zu einer Erhöhung der Beitragssätze um 0,22 Punkte führen würde.

Leistungsversprechen nicht einlösbar

Wie das EbM-Netzwerk so moniert auch der AOK-Bundesverband, dass mit den Regelungsvorschlägen des GHG eine Pathologisierung und Überversorgung bei vielen Menschen mit Risikofaktoren drohe, die jedoch im Rahmen der Regelversorgung und mit den bestehenden Vorsorgeuntersuchungen schon heute meist adäquat versorgt werden. Darüber hinaus wird vor einer Aufweichung der DMP gewarnt, da deren Fokus die strukturierte Behandlung von chronisch erkrankten Menschen ist, die auf eine gute Versorgung angewiesen sind.

"Angesichts begrenzter ärztlicher Ressourcen, die durch den Nachwuchsmangel im hausärztlichen Bereich in Zukunft noch knapper werden dürften, seien solche gar nicht einlösbaren Leistungsversprechen schlicht absurd", so Reimann weiter. Auch der Verband der Diabetes-Beratungs- und Schulungsberufe in Deutschland e.V. (VDBD) bedauert, dass die DMP relevanten Maßnahmen des GHG bislang kaum öffentlich diskutiert werden. Der Verband ist alarmiert und besorgt, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen die DMP als bewährte strukturierte Behandlungsprogramme für chronisch erkrankte Menschen und Angebote der Sekundärprävention untergraben.

Negative Folgen für DMP

In seinem aktuellen Positionspapier zum GHG thematisiert der VDBD folgende Punkte:

1. Die Öffnung der DMP für Risikopatient:innen sieht der VDBD nicht nur wegen der zusätzlichen Mehrbelastung von Hausärzt:innen und Mehrkosten in Milliardenhöhe kritisch. Darüber hinaus entstünde Überversorgung, zumal bestimmte in den strukturierten Behandlungsprogrammen vorgesehene Leistungen bei Risikopatient:innen nicht notwendig oder medizinisch nicht sinnvoll sind. Beispielhaft seien hier die DMP Diabetes mellitus Typ 1 und Diabetes mellitus Typ 2 genannt, die eine regelmäßige "Inspektion der Füße einschließlich klinischer Prüfung auf Neuropathie" vorsehen, die bei an Diabetes erkrankten Menschen essenziell sind, bei Menschen mit einem Prädiabetes jedoch medizinisch nicht angezeigt sind. Hier wäre eine frühzeitige Aufklärung der Patient:innen hilfreicher.

Für den VDBD stellt sich zuallererst die Frage, weshalb diese neue Vorgabe nur für die drei DMP Diabetes mellitus Typ 1, Diabetes mellitus Typ 2 und koronare Herzkrankheit gelten und damit ungleiche Regeln für die verschiedenen DMP eingeführt werden sollen. Dies könnte in einer Diskriminierung der entsprechenden Leistungserbringer und letztlich der betroffenen chronisch erkrankten Menschen resultieren.

2. Weder in der öffentlichen Debatte noch in vielen Stellungnahmen wird diskutiert, dass mit dem GHG eine neue Vorgabe für die Verträge zur Durchführung der drei DMP Diabetes mellitus Typ 1, Diabetes mellitus Typ 2 und Koronare Herzkrankheit eingeführt werden soll. D.h. die Höhe der Vergütung der in den Verträgen vereinbarten Leistungen soll sich zumindest teilweise nach dem Maß der Erreichung der festgelegten Qualitätsziele richten. Der G-BA soll dafür innerhalb von sechs Monaten jeweils mindestens drei der bereits festgelegten Qualitätskriterien auswählen.

Eine Einführung von Qualitätskriterien gebundenen Vergütungsanteilen würde nur dann sinnvoll sein, wenn sich die ausgewählten Qualitätskriterien auf die Leistungserbringung beziehen, z.B. die Umsetzung von Schulungen oder die Erhebung von Laborwerten. Therapieziele hingegen sind abhängig von der Therapieadhärenz der Patient:innen und werden u.U. nicht erreicht, obwohl die Leistungen vom Behandlungsteam erbracht wurden. Unklar bleibt zudem, wie der Nachweis für den Grad der Erreichung der ausgewählten Qualitätsziele erbracht werden soll, insbesondere ohne weitere bürokratische Belastungen für die Leistungserbringer zu verursachen.

3. Äußerst kritisch beurteilt der VDBD auch die Regelung, dass künftig der G-BA keine Anforderungen mehr an Schulungen oder deren begleitende Evaluation, sondern stattdessen an Patienteninformationen regeln soll, wenn und solange für eine Erkrankung bisher keine hinreichend evaluierten Schulungen vorliegen. Dieser Verzicht auf verpflichtende Patientenschulungen führt aus Sicht des VDBD zu einer Aufweichung der Qualitätskriterien und abermals zu ungleichen Regeln für die verschiedenen DMP und u.U. zu strukturellen Diskriminierungen. Zudem sind evidenzbasierte, strukturierte und leitliniengerechte Schulungsprogramme nicht durch Patienteninformationen ersetzbar.

4. Nicht zuletzt schließt sich der VDBD in seiner Stellungnahme zum GHG der vielfach geäußerten Kritik an, dass die zusätzlichen Leistungen der präventiven Verordnung von Statinen zu Lasten der Budgets der Primärprävention finanziert werden sollen. In diesem Zusammenhang wiederholt der Verband die Forderungen zur Verhältnisprävention, mit denen der VDBD gemeinsam mit der Deutschen Allianz für Nichtübertragbare Krankheiten seit Jahren an die Politik appelliert, damit die Entstehung von Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, wie z.B. Übergewicht, Adipositas oder Diabetes, eingedämmt wird. Dazu gehören beispielsweise der Schutz von Kindern durch eingeschränkte Werbung für Lebensmittel mit hohem Fett-, Salz- und Zuckeranteil, aber auch Steuersenkungen für Gemüse und Obst und Steuerhöhungen für Softdrinks im Sinne einer "gesunden Mehrwertsteuer – eine Forderung, die auch der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege empfiehlt. Entsprechende verbindliche Regelungen der Verhältnisprävention sind in Deutschland überfällig.


Quellen:
AOK-Bundesverband. "Öffnung der DMP für Risikopatienten: AOK warnt vor schlechterer Versorgung chronisch Kranker und Überlastung der Arztpraxen". Pressemitteilung vom 19.08.2024.
Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.
(EbM-Netzwerk). Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Herzgesundheit (Gesundes-Herz-Gesetz – GHG). Berlin, 02.07.2024.
Stellungnahme der unparteiischen Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zum Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit – Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Herzgesundheit. Berlin, 05.07.2024.
VDBD Positionspapier zum GHG. Gesundes-Herz-Gesetz gefährdet bewährte Sekundärprävention der DMP. Berlin, 23.09.2024
Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege: Fachkräfte im Gesundheitswesen. Nachhaltiger Einsatz einer knappen Ressource. Gutachten 2024.

Autorin:
© privat
Dr. Gottlobe Fabisch
Berlin


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (10) Seite x-x