Eine nationale Diabetesstrategie, die nicht vom Fleck kommt, ein DRG-System, das die für Diabetes nötigen Kompetenzen unbeachtet lässt und infolgedessen immer weniger Ausbildungsmöglichkeiten: so ist die Versorgung in Gefahr, warnt die DDG.

Fast war man nach der Jahrespressekonferenz der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) versucht, frei nach Heine zu dichten: „Denk ich an Diabetes in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.“ Denn es ging auf der Veranstaltung um die Zukunft der Diabetesversorgung – und nicht zum ersten Mal malten Vertreter der Fachgesellschaft diese in düsteren Farben.

Heute gibt es bereits rund 8,5 Millionen Menschen mit Dia­betes in Deutschland – und vielleicht in einigen Jahren über 10 Millionen. Die meisten dieser Patienten würden ambulant versorgt, bei so hoher Prävalenz gebe es aber auch viele, die eine stationäre Behandlung brauchen, verdeutlichte Prof. Dr. med. Monika Kellerer auf der Pressekonferenz Mitte März. Zwar würden nur ein Prozent der Hauptdiagnosen in den Kliniken hierzulande den Diabetes betreffen, doch es sei falsch zu sagen, Diabetologie spiele im stationären Krankenhausbereich gar keine große Rolle mehr.

Von Diabetes betroffen seien rund 20 Prozent der Patienten in deutschen Krankenhäusern – sie seien eben nur nicht unbedingt wegen des Diabetes dorthin gekommen, sondern wegen einer Infektion, einer Krebsbehandlung oder einem chirurgischen Eingriff. ­Circa 3 der 16,6 Millionen pro Jahr stationär behandelten Patienten weisen nach diesen Zahlen eine Diabetes­erkrankung auf. Und man wisse, dass, wenn diese Patienten keine gute Stoffwechsel­einstellung haben, ihnen zum Beispiel ein komplikationsreicherer Verlauf einer Operation droht, wie Kellerer unter Verweis auf eine aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. med. Reinhard Holl 2021 publizierte Arbeit mahnte. [1]

„Eine gute Diabeteseinstellung ist für all ­diese ­Patienten, für diese 20 Prozent der Patienten in deutschen Krankenhäusern, absolut notwendig!“ Die Krankenhaussterblichkeit von Menschen mit Diabetes sei um 32 Prozent höher als bei Menschen mit den gleichen Erkrankungen, aber ohne Diabetes, ergänzte die Ärztliche Direktorin des Zentrums für ­Innere Medizin I am Marienhospital in Stuttgart. „Das zeigt uns, dass diese Gruppe eine besonders vulnerable Gruppe ist“, so Kellerers Resümee. „Wir müssen diesen Menschen all unsere medizinische Aufmerksamkeit in besonderer Weise widmen“, forderte die Past-Präsidentin der DDG als Schlussfolgerung aus diesen Zahlen.

Im Wortlaut
Im Koalitionsvertrag haben die Ampelparteien zu Krankenhausplanung und -finanzierung Folgendes festgeschrieben:

„Mit einem Bund-Länder-Pakt bringen wir die nötigen Reformen für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung auf den Weg. Eine kurzfristig eingesetzte Regierungskommission wird hierzu Empfehlungen vorlegen und insbesondere Leitplanken für eine auf Leistungsgruppen und Versorgungsstufen basierende und sich an Kriterien wie der Erreichbarkeit und der demographischen Entwicklung orientierende Krankenhausplanung
erarbeiten. Sie legt Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Krankenhausfinanzierung vor, die das bisherige System um ein nach Versorgungsstufen (Primär-, Grund-, Regel-, Maximalversorgung, Uniklinika) differenziertes System erlösunabhängiger Vorhaltepauschalen
ergänzt.“

Auf diese gefährdete Gruppe scheint aber die deutsche Krankenhaus-Landschaft schon jetzt nicht ausreichend vorbereitet zu sein. Nur 20 Prozent der Kliniken in Deutschland würden die Qualitätskriterien erfüllen, die die DDG aufgestellt hat, beklagte Kellerer. Sie höre in vielen Selbsthilfegruppen, dass es zunehmend schwerfalle, ein wohnortnahes Krankenhaus mit Diabetesexpertise zu finden, berichtete sie.

Kellerer ­nannte für diese Entwicklung zwei Hauptgründe: In den letzten Jahrzehnten habe in der Diabetologie weitaus mehr als in den meisten anderen internistischen Schwerpunktfächern eine Ambulantisierung stattgefunden. „Sie hat aus meiner Sicht jetzt wirklich absolut die Endstrecke erreicht, wahrscheinlich ist der Bogen schon überzogen“, kritisierte die Klinikerin angesichts dessen. Auch das DRG-System machte sie für die derzeitige Situation mitverantwortlich, Operationen würden sich dort finanziell besser abbilden als Diabetesfälle. Insbesondere für die älteren und die ganz jungen Patienten brauche es eher weniger Prozeduren und Aktionismus, sondern mehr Zeit und Geduld für den Genesungsprozess und damit eine adäquate Versorgung im stationären Setting, erklärte Kellerer. Und diese zeitintensiven Tätigkeiten fänden sich im aktuellen DRG-System eben schlecht wieder.

Während in anderen Bereichen der diabetologischen Agenda mit der neuen Bundesregierung zumindest Hoffnung auf eine Verbesserung eingezogen ist, gab sich Kellerer beim DRG-System illusionslos: „Ich erkenne keinen politischen Willen im Moment, dieses zu ändern“, konstatierte sie. „Man fragt sich schon, ob man diese vulnerablen Patientengruppen überhaupt noch in deutschen Krankenhäusern behandelt sehen will …“, überlegte sie.

Ambulantisierung nicht ­immer von Vorteil

Fakt ist, dass die Ampelparteien sich im Koalitionsvertrag explizit auf die Fahne geschrieben haben, die Ambulantisierung weiter voranzutreiben. „Um die Ambulantisierung bislang unnötig stationär erbrachter Leistungen zu fördern, setzen wir zügig für geeignete Leistungen eine sektorengleiche Vergütung durch sogenannte Hybrid-DRG um“, steht dort im Kapitel „Pflege und Gesundheit“. Mit Blick auf den Titel des Vertrags „Mehr Fortschritt wagen“ kommentierte Kellerer: „Da frage ich mich, ob das sich für diese vulnerablen Gruppen nicht eher als Rückschritt erweist.“

Missachtet werde, dass es sich bei Menschen mit Diabetes vielfach um multimorbide Patienten handele. Ältere, hilfsbedürftige Patienten nannte sie als Beispiel, die bei einem Infekt nicht zu Hause ein Antibiotikum schlucken können, die während des Infekts vielleicht auf Grundlage einer schon vorher nicht guten Nierenfunktion noch ein Nierenversagen entwickeln. „Die können sie nicht ambulant behandeln“, gab Kellerer zu bedenken und ergänzte: „Das sind hochkomplexe Fälle, die sie nicht nach drei Tagen wieder entlassen können wie zum Beispiel nach einer Gallenoperation.“
Gegenüber der Idee von Sektoren- oder Hybrid-DRGs zeigte ­Kellerer sich skeptisch. „Ich ­befürchte, dass mit den Hybrid-DRGs die DRGs noch schlechter werden“, erklärte sie.

Die glorreichen Acht

Derzeit gibt es nur noch an acht Universitäten eigenständige, bettenführende klinische Lehrstühle für Diabetologie in Deutschland. Wenn die Diabetologie weiter aus dem Krankenhausbereich verdrängt wird, habe das erhebliche Konsequenzen für die Ausbildung von Diabetologen – und damit im Endeffekt auch für die ambulante Versorgung, warnte Kellerer. Fehlt die stationäre Diabetologie als Ausbildungsplatz für alle Diabetesberufe, fehle auch der Nachwuchs für die Zukunft.

Während die Zahl der Patienten kontinuierlich steigt, sinke schon jetzt die Zahl der Diabetologen – in der Klinik, aber auch im niedergelassenen Bereich, wo immer mehr Praxisinhaber an die Altersgrenze kommen und keine Nachfolge finden, mahnte Kellerer. Gleichzeitig wird die Zahl derDiabetespatienten nach Expertenschätzungen bis 2040 auf bis zu zwölf Millionen ansteigen. „Um diese Herausforderung meistern zu können, müssen die Universitäten die diabetologischen Lehrstühle erhalten und ausbauen, statt sie kaputtzusparen“, betont sie.

Kosten­deckende Fallpauschalen für die Diabetologie

„Es ist nicht hinnehmbar, dass das DRG-Vergütungssystem wichtige leitlinienbasierte Versorgungs­aspekte der Volkskrankheit Diabetes unzureichend abbildet und damit für Kliniken wirtschaftlich unattraktiv macht“, befindet Kellerer. „Die Fallpauschalen im stationären Vergütungssystem müssen angepasst werden, damit Diabetesabteilungen im Krankenhaus kostendeckend arbeiten können und erhalten bleiben.“ Neben der Vergütungsanpassung sieht die Expertin auch Verbesserungspotenzial in der landesweiten Bettenplanung und fordert, bei der Erstellung der Krankenhaus-Bettenpläne für die Diabetologie mehr Kapazitäten einzuplanen.

„Diabetes­patienten werden immer häufiger, Krankenhausabteilungen immer weniger“, beschrieb sie den derzeitigen fehllaufenden Trend. Die DDG verweist auf Daten des Statistischen Bundesamtes, nach denen sich in den beiden letzten Jahrzehnten die Zahl der Betten mit Schwerpunkt Endokrinologie/­Diabetologie ­halbierte, während sie sich beispielsweise in ­anderen internistischen Schwerpunkt­fächern im gleichen Zeitraum verdoppelte bis verdreifachte.

Konkret nannte Kellerer auf der Presse­konferenz folgende Forderungen der Fachgesellschaft:
  • Alle Akutkrankenhäuser müssen eigene Fachabteilungen für Diabetologie zur Patientenbehandlung unterhalten oder zumindest entsprechende Fachressourcen vorhalten.
  • An jeder medizinischen Fakultät muss ein klinischer Lehrstuhl für Endokrinologie und Diabetologie vorhanden sein, damit dieses Fach auch künftig noch in erforderlichem Umfang gelehrt und ausgeübt werden kann.
  • Die Fallpauschalen im stationären Vergütungssystem müssen bei der Behandlung vulnerabler Patientengruppen wie mehrfach erkrankter älterer Patienten mit Diabetes und auch bei Kindern mit Diabetes angepasst werden, damit Diabetesabteilungen im Krankenhaus kostendeckend arbeiten können.
  • Die stationäre Diabetesversorgung muss vor allem auch bei der Erstellung länderweiter Krankenhaus-Betten­pläne mitberücksichtigt werden.

Kellerer ging auf der Veranstaltung auch auf das Dauerthema nationale Diabetesstrategie ein. Sie erklärte im Zusammenhang mit der Diabetes­prävention, einem der Aspekte der nationalen Diabetesstrategie, dass zur Prävention auch seriöse Informationsquellen für Patienten oder Angehörige gehören. Das Deutsche Zentrum für Diabetesforschung (DZD) und das Helmholtz Institut hätten hier in den letzten Jahren Pionierarbeit geleistet, lobte sie den Aufbau des Diabinfo-Portals. In der vom Bundestag verabschiedeten Diabetesstrategie hieß es nach ihren Worten, dass dieses Portal weiter ausgebaut werden soll. Und die Finanzierung dieser Arbeit solle gesichert sein. „Hier steht die Politik im Wort“, machte Kellerer klar.

Als die nationale Diabetesstrategie 2018 im Koalitionsvertrag der letzten Großen Koalition auf Bundesebene stand, sei „gute, positive Stimmung bei den Diabetologen und in der Deutschen Diabetes Gesellschaft aufgekommen“, erinnerte die Past-Präsidentin der Fachgesellschaft. Mit der Verabschiedung der im Vertrag versprochenen Strategie ließen sich die Koalitionspartner dann aber Zeit bis zum Juli 2020, was die Stimmung schon deutlich abkühlen ließ. Damals stimmten auch die jetzigen Ampel-Koalitionäre zum Teil zu, rief Kellerer in Erinnerung. „Jetzt sind seit dieser Verabschiedung fast schon wieder zwei Jahre vergangen“, rechnete sie vor. Konkret umgesetzt aus der verabschiedeten Strategie sei – „man muss es leider so hart sagen – praktisch gar nichts!“

Im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung komme die nationale Diabetesstrategie als Begriff an keiner Stelle der über 140 Seiten vor, berichtete Kellerer. Immerhin gingen die angekündigten Regelungen bei der Ernährung und beim Kinderwerbeverbot in die richtige Richtung, lediglich ein paar Teilaspekte der großen Strategie seien dies aber. Ihr Appell war eindeutig: „Wir müssen heute die Weichen stellen, damit in Zukunft die Diabetesversorgung wirklich auch noch qualitativ hochwertig gewährleistet ist.“


Literatur
Auzanneau M et al. Dtsch Arztebl Int. 2021 Jun; 118(24): 407–412.

Autor:
Marcus Sefrin
Redaktion Diabetes-Forum
Schmiedestraße 54
21335 Lüneburg


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (5) Seite 6-8