Vom 9. bis zum 13. September fand die 60. Jahrestagung der Europäischen Gesellschaft für Diabetesforschung (EASD) in Madrid statt. Live waren 12950 Personen dabei, im Internet registrierten sich 1221 Teilnehmer.

Das Programmkomitee stand unter der Leitung von Frau Prof. Tina Vilsbøll. Sie leitet in Gentofte bei Kopenhagen das Steno Forschungszentrum für Diabetes. Wie immer wurde anhand der anonym bewerteten Bewerbungen ausgewählt.

Chinesische Forschung auf dem Vormarsch

Eingereicht waren 1814 Abstracts, davon wurden 1064 angenommen. Die meisten Erstautoren der angenommenen Präsentationen kamen aus dem Vereinigten Königreich (110), gefolgt von China (106), den USA (83), Italien (80) und Deutschland (72). Es ist beachtenswert, dass mittlerweile die chinesische Diabetesforschung auf dem zweiten Platz rangiert.

Claude Bernard Preis für Prof. Roy Taylor

Die höchste Ehrung der EASD ist nach Claude Bernard benannt, dem Begründer der Stoffwechselforschung. Dieses Jahr wurde Prof. Roy Taylor aus Newcastle in England ausgezeichnet. Taylor propagiert seit vielen Jahren eine radikale Gewichtsabnahme bei Typ-2-Diabetes. Auch in deutscher Sprache gibt es sein Buch: Endlich Schluss mit Typ-2-Diabetes!: In 3 Schritten radikal abnehmen - Leber und Bauchspeicheldrüse dauerhaft entlasten. (erschienen im VAK Verlag). Taylor hat gezeigt, dass es in vielen Fällen bei Menschen mit Typ-2-Diabetes durch eine radikale Gewichtsabnahme von 10-15 Kg zu einer völligen Normalisierung des Glukosestoffwechsels kommen kann.

Fett in Muskeln und Leber

Mittlerweile kann man mit Hilfe der Magnetresonanztechnik den Glukose-Stoffwechsel sehr präzise untersuchen, früher musste man dafür Gewebe aus Muskeln oder der Leber entnehmen. Menschen mit Typ-2-Diabetes haben eine Insulinresistenz. Sie speichern nach dem Essen viel weniger Glukose in den Muskeln, aber viel mehr Glukose wird zum Aufbau von Fettgewebe benutzt. Auch in der Leber wird deutlich mehr Fett gespeichert als bei Menschen ohne Diabetes. Sogar die Bauchspeicheldrüse "verfettet". Dies stört die Insulinproduktion.

Normalisierung häufig möglich

All diese Veränderungen lassen sich durch eine deutliche Gewichtsabnahme rückgängig machen, besonders wenn der Diabetes erst seit wenigen Jahren besteht. Im MRT zeigt sich, wie die Leber sozusagen "entfettet" werden kann. Prof. Taylor hat beobachtet, dass besonders Menschen, bei denen Typ-2-Diabetes noch nicht lange besteht, durch die Verminderung der Fettablagerungen in Leber und Pankreas völlig normale Blutzuckerwerte erreichen können.

Semaglutid hilft bei Nephropathie

Schon vor dem Kongress waren die Ergebnisse der FLOW-Studie im New England Journal of Medicine publiziert, die mit Placebo kontrollierte Studie hatte man abgebrochen, weil die günstige Wirkung von Semaglutid klar erkennbar wurde. 3533 Menschen mit Typ-2-Diabetes und eingeschränkter Nierenfunktion erhielten zusätzlich zu den üblichen Medikamenten entweder Semaglutid oder Plazebo. Endpunkt der Studie waren erhebliches Fortschreiten der Niereninsuffizienz, Herz- Kreislaufereignisse und Todesfälle. Bei dieser Hochrisikogruppe kommt es schon nach kurzer Zeit häufig zu solchen Ereignissen.

Die Ergebnisse der Studie waren sehr überzeugend. Nicht nur das Fortschreiten der Nierenschädigung wurde günstig beeinflusst, es kam auch in der mit Semaglutid behandelten Gruppe zu weniger Todesfällen. Diese Studie wird sicher Auswirkungen auf die entsprechenden Leitlinien haben. Diskutiert wird noch die Frage, ob die günstigen Effekte mehr durch die deutliche Gewichtsabnahme oder durch die bessere Stoffwechseleinstellung zustand kamen, oder ob es dafür noch andere Gründe gibt – eine eher akademische Diskussion: Hauptsache die Behandlung wirkt!

Viele Studien mit GLP-1-Agonisten

Die GLP-1-Rezeptor-Agonisten sind zu "Blockbustern" der Firmen Eli Lilly und Novo Nordisk geworden. Für 2023 schätzt man den Umsatz dieser Medikamentengruppe auf ca. 40 Milliarden Euro. Kein Wunder, dass weltweit zahlreiche Firmen ähnliche Produkte entwickeln – viele davon präsentierten ihre Daten auf dem EASD-Meeting. Es wird allerdings einige Zeit dauern, bis auch diese Firmen Endpunktstudien vorlegen können, die Voraussetzung für die Zulassung in den USA und Europa sind. Auch die chinesische Pharmaforschung zeigte Studien mit zwei neuen GLP-1-Rezeptor-Agonisten und wird in Zukunft ein ernstzunehmender Konkurrent.

Semaglutid bei Kindern

Novo Nordisk stellte eine Studie vor, in der bei übergewichtigen Kindern im Alter von 6-12 Jahren die Wirkung von Semaglutid untersucht wurde. Die Präsentation wurde als "late breaking Abstract" angenommen, erstmals hat die EASD diese Art der Vortragsanmeldung eingeführt – sehr interessante Beiträge können also jetzt noch deutlich später eingereicht werden. Von 82 übergewichtigen Kindern (BMI im Mittel 31) erhielten über 56 Wochen 26 Placebo und 56 Semaglutid. Am Ende wogen die Kinder, die Semaglutid bekommen hatten, 8,4 kg weniger und der Bauchumfang war 3,4 cm geringer. Bis auf die zu erwartenden gastrointestinalen Nebenwirkungen und einen leichten Anstieg von Amylase und Lipase kam es nicht zu nennenswerten Nebenwirkungen. Diese Studie wurde zeitgleich im New England Journal of Medicine publiziert und könnte dazu beitragen, Semaglutid auch für die Behandlung von Kindern dieser Altersgruppe zuzulassen.

Wocheninsuline ante Portas

Die Europäische Behörde EMA hat das von Novo Nordisk entwickelte Icodec als erstes "Wocheninsulin" für Menschen mit Typ-1- und Typ-2-Diabetes zugelassen, die US-amerikanische FDA hat dies zunächst nicht getan. Dort hat ein Expertenkomitee im Frühjahr 2024 von der Zulassung von Icodec zur Behandlung des Typ-1-Diabetes abgeraten, weil es bei dieser Patientengruppe deutlich häufiger zu Hypoglykämien gekommen war. Bezüglich des Typ-2-Diabetes gab es keine Stellungnahme der FDA und die Zulassung wurde für beide Indikationen zunächst zurückgestellt – ohne Details zum Typ-2-Diabetes zu nennen. Jetzt kommt es zu einem Wettrennen der beiden führenden Insulinfirmen, denn Eli Lilly präsentierte im EASD Meeting Studien mit seinem Wocheninsulin Efsitora Alpha an Menschen mit Typ 1 und Typ-2-Diabetes. Efsitora Alpha wirkt noch etwas länger als Icodec. Die Ergebnisse waren den Studienergebnissen mit Icodec vergleichbar. Sie wurden NEJMED und im LANCET veröffentlicht. Es wird interessant sein, zu verfolgen, wie FDA und EMA bezüglich Efsitora Alpha entscheiden werden.

Häufiger Hypos bei Typ 1

Für die Studie mit Efsitora Alpha wurden 692 Menschen mit Typ-1-Diabetes randomisiert. Die Kontrollgruppe spritzte täglich das Verzögerungsinsulin Degludec. Beide Gruppen injizieren zu den Mahlzeiten Lispro. 633 beendeten die über 52 Wochen angelegte Studie. Die HbA1c und "time in range" Werte waren nicht signifikant unterschiedlich. Aber es kam unter Efsitora Alpha zu mehr relevanten Hypoglykämien, besonders in den ersten 12 Wochen der Studie (10,9 gegen 2,9%). Prof. Cees Tack aus Nijmegen lieferte einen recht kritischen Kommentar zu den Studien mit Efsitora Alpha bei Typ-1-Diabetes. Er wies darauf hin, dass in der Studie Menschen mit schweren Hypoglykämien oder "hypoglycemia unawareness" in der Vorgeschichte ausgeschlossen waren. Deshalb war eigentlich mit recht wenigen Hypoglykämien zu rechnen. Tack glaubt nicht, dass ein "Wocheninsulin" bei Typ-1-Diabetes Vorteile bietet. Ob bei Typ-2-Diabetes die "Wocheninsulin" außer den selteneren Injektionen in der Praxis relevante Vorteile bieten, wird die Zukunft zeigen. Zu Beginn der Insulintherapie sind bei diesen Menschen bei geringeren Insulindosierungen nur äußerst selten schwere Hypoglykämien zu erwarten.

Vorsicht bei außergewöhnlicher Bewegung

Kritiker bemerkten, dass besonders bei Menschen mit Typ-1-Diabetes die Gefahr besteht, dass es unter "Wocheninsulinen" bei erheblicher körperlicher Bewegung zu Hypoglykämien kommen könnte, denn das eine Woche lang wirkende Insulin kann selbstredend wegen einer Tageswanderung nicht vorbeugend vermindert werden. In einer Studie der Universität Graz wurden zwar die Fragebögen bezüglich der Hypoglykämien in den Studien mit Icodec ausgewertet, und es gab keinen Anhalt für außergewöhnliche Bewegung als mögliche Ursache der Hypoglykämien, aber solche im Nachhinein erhobenen Daten sind wenig aussagekräftig. Von einer ganztägigen Bergwanderung würde ich persönlich dringend abraten, wenn jemand mit einem Wocheninsulin behandelt wird.

"Heilung" des Typ-1-Diabetes?

Seit vielen Jahren kann man Inselzell-Transplantationen durchführen. Aus gespendeten Bauchspeicheldrüsen werden Inselzellen isoliert und in die Pfortader gespritzt. Diese Methode ist für die breitere Anwendung nicht umsetzbar, es gibt viel zu wenig Organspender. Mittlerweile ist es möglich, in unbegrenzter Zahl aus Stammzellen Betazellen zu züchten. Diese kann man dann z.B. unter die Haut oder in die Leber befördern. Allerdings müssen bisher dann, wie bei Organtransplantationen notwendig, Mittel genommen werden, die eine Abstoßung fremder Zellen verhindern. Deshalb kommen für diese Behandlung besonders Menschen in Frage, die ohnehin solche Mittel nehmen müssen, weil eine Niere transplantiert wurde. Beim EASD-Meeting berichtete ein Mitarbeiter der US Firma Vertex aus Boston über die ersten erfolgreichen Versuche mit aus Stammzellen gezüchteten Betazellen, eine größere Studie wurde gerade von der FDA genehmigt. Als nächsten Schritt wird Vertex diese Zellen in eine Kapsel gehüllt implantieren, um so eine Abstoßung zu verhindern. Vertex ist bekannt für innovative Produkte – die Firma verdient sehr viel Geld mit bahnbrechenden Mitteln u.a. gegen Mukoviszidose.

Ziel: nicht immunogene Betazellen

Optimal wäre es, aus Stammzellen Betazellen zu züchten, die der Körper nicht als fremd erkennt. Die Biotech Firma SANA Biotechnology aus Seattle berichtete in Madrid, wie weit man damit schon gekommen ist. Begonnen hat bereits eine Studie, in der man aus Spenderorganen gewonnene Inselzellen "hypo-immun" macht", so dass sie nicht mehr vom Empfänger abgestoßen werden. Nächster Schritt wäre es dann, dies mit aus Stammzellen hergestellten Betazellen zu tun. Auch die Firma Vertex arbeitet an dieser Technik, sie will dafür die von der Schweizer Firma CRISPR Therapeutics entwickelte Methode nutzen – Vertex hat dafür 100 Millionen Dollar gezahlt. Noch scheint es Zukunftsmusik, den Typ-1-Diabetes mit solchen Zelltherapien zu "heilen". Aber es arbeiten bereits Firmen daran – Investoren spekulieren also schon darauf, dass man damit eines Tages viel Geld verdienen kann.

Parodontitis und Folgeschäden des Diabetes

Bei 50-60 % der Menschen mit Typ-2-Diabetes besteht eine Paradontitis – also deutlich häufiger als ohne Diabetes. Jetzt zeigte Dr. Bitencourt aus der zahnärztlichen Abteilung des Steno Diabetes Center in Århus eine große Untersuchung in Dänemark, dass wesentlich häufiger Folgeschäden des Diabetes an Augen und Nerven vorliegen, wenn auch eine Paradontitis besteht. Also sollte man, ganz besonders bei Menschen mit Folgeschäden des Diabetes, auf das Vorliegen einer Parodontitis achten. Viel zu selten schauen sich DiabetologInnen die Zähne ihrer PatientInnen an. Sie sollten auch darüber informiert sein, welche ZahnärztInnen gute Fachkräfte zur Prophylaxe der Paradontitis beschäftigen.

Marathon mit Closed Loop System

Aus Chile berichtete Dr. Grassi über drei Menschen mit Typ-1-Diabetes, die an den Marathonläufen in Paris, Tokio und Santiago teilgenommen hatten. Sie benutzten ein Hybrid Closed Loop System mit der Medtronic 780 G. Alle kamen im Ziel z. T. in erstaunlich guten Zeiten an. Beim Marathonlauf braucht man immer wieder Glukose-haltige Getränke, die die notwendige Energie liefern. Das klappte fast immer gut. Vor dem Rennen war ein ausgiebiges Frühstück mit Bananen hilfreich. Dr. Grassi riet, sich vor einem Marathonlauf ausführlich von Profis beraten zu lassen.

Druck im Flugzeug – Einfluss auf Insulinpumpen?

Im Flugzeug kommt es bei Auf- und Abstieg zu Druckveränderungen. Beim Aufstieg fällt der Druck in der Kabine, beim Abstieg steigt er. Dr. Gerd Köhler von der Universität Surrey benutzte eine Druckkammer, um zu untersuchen, ob diese Druckveränderungen einen Einfluss auf die Insulinreservoirs von Insulinpumpen haben. Mittlerweile ist in den meisten Flugzeugen der Druckausgleich so gut, dass diese Druckveränderungen keinen bedeutsamen Einfluss auf die Insulinmenge haben, die von der Pumpe abgegeben wird. Beim "Aufstieg" wurden gerade mal 0,6 IE abgegeben. Sollte es aber zu einem notfallmäßigen, rapiden Druckabfall kommen, kann die Pumpe 5-6 Einheiten Insulin zusätzlich abgeben, was durchaus zu einer Hypoglykämie führen könnte. Dr. Köhler hat auch bereits untersucht, dass mit einem Closed Loop System selbst solche Probleme gemeistert werden können.

Nur den halben Tag lang essen!?

"Time restriced eating" nennt man eine Diät, bei der man nur acht Stunden am Tag isst. Bekannt ist bereits, dass man mit so einer sehr einfach zu vermittelnden Kost abnehmen kann. Ob sich auch ein Effekt auf den Glukosestoffwechsel nachweisen lässt, und ob man besser morgens oder abends auf das Essen verzichten sollte, untersuchte Dr. Kelly Bowden Davis aus Manchester. Drei Tage lang bekamen 15 Probanden eine genau definierte Kost, einmal aßen sie nur zwischen 8 und 16 Uhr, dann nach einer wash-out Zeit von 7 Tagen nur von 12-20 Uhr. Die Werte eines CGM-Geräts zeigten, dass die mittleren Blutglukosewerte niedriger und die Time in Range besser waren. Es war aber egal, ob man auf das Frühstück oder auf das Abendessen verzichtete.

Nächstes Jahr in Wien

Von 15.-19. September 2025 treffen sich die Diabetesforscher aus aller Welt in Wien zum 61. EASD-Meeting. Hoffentlich in einer friedlicheren Welt. In Madrid lagen die Informationsstände der Palästinensischen und der Israelischen Diabetesorganisationen friedlich nahe beieinander, wie schön wäre es, wenn diese Gemeinsamkeit nicht nur unter Menschen mit Diabetes möglich wäre.


Autor:
Dr. med. Viktor Jörgens
Executive Director EASD/EFSD 1988-2015
Tel.: 01 60/8 87 74 01


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (11) Seite 38-41