Die Digitalisierung ist noch lange nicht so weit fortgeschritten, wie man es sich im diabetologischen Praxisalltag wünscht. Warum das so ist und was zur Verbesserung der Situation getan werden müsste, erklärt Dr. Andreas Reichel.
Nur ältere Diabetologen können sich noch an die Zeit richtig erinnern: Patienten mit Insulintherapie kamen in die Sprechstunde, legten ihr Diabetestagebuch mit eingetragenen Blutzuckerwerten vor, der Arzt blätterte ein wenig darin und stellte fest, dass entweder alles in Ordnung sei oder einiges verändert werden müsste. Manchmal, aber nicht immer ergaben sich daraus gute Therapieänderungen, welche hilfreich waren und die Stoffwechsellage verbesserten. Nicht selten überraschte der an diesem Tag bestimmte HbA1c-Wert sehr, da er nicht zu den normoglykämischen Werten im Tagebuch passte…
Stationäre Diabetesdokumentation – das Stiefkind der Digitalisierung?!
Anfang der 1990er Jahre gab es dann mit auslesbaren Geräten zur Blutglukoseselbstmessung den Blick auf die tatsächlichen Blutzuckerwerte der Patienten. Relativ schnell entwickelte sich die Möglichkeit, diese Werte grafisch darzustellen, so dass effektive Therapieentscheidungen auch in kurzer Zeit getroffen werden konnten.
Mit der flächendeckenden Einführung kontinuierlicher Messmethoden (CGM) für insulinbehandelte Patienten seit dem Jahr 2016 war eine schriftliche Dokumentation von Glukosewerten faktisch nicht mehr möglich. Die CGM-Hersteller selbst, aber auch andere Firmen, entwickelten sehr schnell Systeme, mit denen diese kontinuierlich gemessenen Werte so aufbereitet wurden, dass sie zur Grundlage einer schnellen und guten Therapieentscheidung wurden. Spätestens das ambulante Glukoseprofil (AGP) gilt als der Durchbruch für eine grafische Darstellung und Dokumentation von Glucosewerten. Mittlerweile liefern auch Smart Pens oder Insulinpumpen Daten in diese Systeme. Eine diabetologische Schwerpunktpraxis ohne die Nutzung dieser technischen Möglichkeiten ist heutzutage nicht mehr vorstellbar.
Und wie sieht das aktuell im Krankenhaus aus?
Trotz Digitalisierungsoffensiven benutzt die Mehrzahl der stationären Einrichtungen auch heute noch keine digitale Technik zur Darstellung von Blutglukosewerten. Blutzuckerzettel, auf denen handschriftlich Werte eingetragen werden, sind allgegenwärtig. Die Dokumentation der glukosebeeinflussenden Parameter wie Kohlenhydrataufnahme oder Insulingaben findet in der Regel nur lückenhaft statt. Die daraus resultierende unbefriedigende Qualität der Diabetesbehandlung in vielen Krankenhäusern liegt auf der Hand.
Aber warum ist das so?
Zuerst müssen wir konstatieren, dass die Anzahl der spezialisierten klinischen Diabeteseinrichtungen sich immer mehr reduziert. Direkte Stoffwechselabteilungen gibt es überwiegend nur noch in Universitätskliniken, Krankenhäusern der Maximalversorgung oder speziellen Diabetesfachkliniken. Man kann daraus mutmaßen, dass in vielen Häusern der Leidensdruck im Umgang mit dem Papier nicht allzu groß ist, da es dort nur wenige Diabetologen gibt, welche den Anspruch auf eine gute Dokumentation haben und ihn auch äußern. Kollegen, die in Diabetesabteilungen oder in Krankenhäusern mit einem hohen Diabetesanteil arbeiten wissen, wie unbefriedigend es ist, sich die Daten auf dem Papier zusammen zu suchen, zu Fuß in andere Abteilungen zu gehen und dann nach den entsprechenden Unterlagen zu suchen. Zumindest diese Diabetologen haben schon seit langem den Wunsch, ähnliche Systeme wie die im ambulanten Bereich auch im stationären Einrichtungen zu benutzen. In Gesprächen mit Herstellern entsprechender ambulanter Datenmanagementlösungen wurde allerdings schnell klar, dass das kommerzielle Interesse für die Entwicklung solcher Krankenhauslösungen sehr begrenzt ist. Das liegt einerseits wohl am hohen Aufwand, der sicher notwendig ist, diese Managementsysteme an Krankenhausinformationssysteme (KIS) anzugliedern. So war es wohl andererseits auch die fehlende Aussicht auf Amortisation dieser Entwicklungskosten.
Hartnäckigkeit führt zum Erfolg!
Innerhalb der Helios-Klinikgruppe wurde auf Anregung mehrerer diabetologischer Kliniken in den Jahren 2019/2020 ein erstes und wohl bisher auch einzig verfügbares kommerzielles Modul getestet, welches neben der Dokumentation auch automatisierte Insulindosierungsvorschläge ausgibt. Der geforderte Preis für Anschaffung und Unterhaltung der Lizenzen verhinderte allerdings die Einführung in den Routinebetrieb. So wurde im Rahmen eines Pilotprojektes in Zusammenarbeit zwischen der zentralen Helios-Informationstechnologieabteilung mit den Helios-Weißeritztalkliniken Freital ein eigenes Datenmanagementtool entwickelt, welches an bestehende Krankenhaus-Informationssysteme angedockt werden kann.
Die Entwicklung folgte den Anforderungen der Nutzer und musste folgende wichtige Kriterien erfüllen:
- Verlässliche Dokumentation der vom Pflegepersonal gemessenen Blutzuckerwerte.
- Graphische Darstellung dieser Werte, angelehnt an ambulante Datenmanagementsysteme zur besseren Erkennen von Problemen und für schnelle und richtige Therapieentscheidungen
- Verlässliche Anordnung aller Parameter der Insulintherapie einschließlich von Dosisanpassungen
- Sichere Dokumentation von glukosebeeinflussenden Parametern wie Kohlenhydrataufnahme, applizierte Insulineinheiten, Sondersituationen wie Nüchternheit, Hypoglykämien etc.
- Einfachheit der Bedienung und der Anordnung von Insulinplänen auch durch nicht-diabetologisches ärztliches Personal, damit Nutzung die Anordnung einer angepassten Insulintherapie auch in allen Bereichen des Krankenhauses erleichtert wird
Der Prozess von Beginn der Entwicklung bis zur vollständigen Einführung in den Weißeritztal-Kliniken Freital dauerte etwa zwei Jahre. Schrittweise wurde zuerst im Diabetes-Kernbereich, dann in anderen internistischen Bereichen bis hin in Chirurgie, Anästhesie und Gynäkologie die Nutzung des Moduls eingeführt. Essenziell war die unermüdliche Schulungsarbeit auf jeder Krankenhausstation, bei der sich das unermüdliche Team der Diabetesberatung große Verdienste erworben hat!
Nunmehr liegt ein Arbeitsmittel vor, mit dem sowohl ärztliche Kollegen jeglicher Fachabteilungen, Diabetesberaterinnen und -assistentinnen, Pflegepersonal und natürlich spezialisierte Diabetologen ein hervorragendes Arbeitsmittel in den Händen halten.
© Andreas Reichel | Die Darstellungen zeigen den Bereich der grafischen Darstellung der Glukoseverläufe, den Anordnungsteil für die Insulintherapie einschließlich der Dosisanpassung, den Dokumentationsteil für applizierte Insulindosierungen und der besonderen Ereignisse.
Im Rahmen der Zugriffsberechtigungen ist die Einsicht und Arbeit von jedem Arbeitsplatz des Hauses möglich und vereinfacht und beschleunigt die Arbeit des Diabetes-Teams erheblich!
Besonderen Wert wurde auf die Einfachheit der Insulindosisanpassung in der Verordnung gelegt. Wer in der Klinik tätig ist oder war kennt vielleicht die Anrufe durch das Pflegepersonal, in denen die Frage nach der Insulindosierung bei einem erhöhten Wert gestellt wird. Hier war es wichtig, dass durch eine überlegte Anordnung bereits im Vorfeld diese Situation bedacht wurde. Manch ärztlicher Kollege außerhalb der Diabetologie scheute sich allerdings bisher, einen Dosisanpassungsplan zu erstellen. In unserem Diabetesmodul sind deshalb vier mögliche Anpassungsschemata hinterlegt, die nach einfachen Kriterien ausgewählt werden können. Unterschiede gibt es in der zu erwartenden Insulinwirkung, welche sich hinter den Beschreibungen "normal", "sensitiv" und "resistent" verbergen. Zusätzlich gibt es ein sogenanntes geriatrisches Schema, bei der es einen für ältere Patienten angepassten Zielbereich gibt. Damit wurde es möglich, dem Pflegepersonal eindeutige Vorgaben für eine Insulindosisanpassung zu geben. Für anspruchsvollere Therapieformen wie kontinuierliche intravenöse, subkutane oder intraperitoneale Insulininfusionen gibt es die Möglichkeit, über en sogenannten "Diabetologenschema" jeder Art der Insulinapplikation im Modul anzuordnen.
© Andreas Reichel | Diabetesdokumentation: Dosisanpassung (links), Auswahl Dosisanpassung (rechts).
Veränderung braucht Überzeugung
Erwartungsgemäß war die Einführung dieses Systems kein Selbstläufer. Gewohnte Prozesse, wie das Führen der Papierdokumentation aufzugeben war in vielen Bereichen nicht einfach. Leicht zu überzeugen waren die Mitarbeiter sowohl im ärztlichen als auch im Pflegedienst dann, wenn sie selbst von den Vorteilen dieser Umstellung profitiert hatten. Insbesondere war dies für das Pflegepersonal eine immer eindeutige Anweisung über die Insulinmengen, welche die Patientin bekommen sollten. Für das ärztliche Personal bestand der Vorteil insbesondere darin, dass von jeder Station der Kontakt zu einem Diabetologen möglich war und dieser sich schnell in die Situation der Insulintherapie einlesen konnte. Für diabetologische Konsile ist durch die Nutzung deutlich weniger Zeit erforderlich.
Aus dem Modul ist die Verordnung sicher in den Arztbrief einfüg- und speicherbar. Auch die Patienten können während ihres Aufenthaltes bereits einen ausgedruckten Insulinplan an ihr Bett bekommen und so die Insulintherapie mit verfolgen.
Die Ausbildung profitiert
Mittlerweile gehört die Nutzung der elektronischen Diabeteskurve zum Alltag und wird von den Kollegen gut angenommen. Klare Algorithmen werden kommuniziert. Nachtverläufe sind sehr gut zu sehen, Verläufe nach bestimmten Mahlzeiten lassen sich sehr gut abgrenzen. Es wurden klinikinterne Richtlinien erstellt, wie Insulinanpassungen auf der Basis der grafischen Verläufe vorgenommen werden sollen. Assistenzärztinnen und –ärzte bestätigten, dass sie in ihrer Facharztweiterbildung damit endlich die Prinzipien der Insulintherapie verstanden hätten…
Ausblick
Nicht gering waren die Schwierigkeiten bei der Anpassung des Moduls an verschiedene Krankenhaus-Informationssysteme. Aktuell gibt es nur ein KIS (iMedOne), mit dem das Modul bereits jetzt vollständig kompatibel ist. Da sich eine gute Diabeteseinstellung leider nur indirekt positiv auf die Erlössituation auswirkt, ist die Einsicht und die Bereitschaft zur Finanzierung dieser Systeme bei Krankenhausträgern offensichtlich wenig ausgeprägt. Hier konnten wir mithilfe der medizinishen Fachgruppen im Helioskonzern eine positive Resonanz erreichen und können unseren Patienten damit eine gute diabetologische Betreuung im gesamten Haus anbieten.
Übrigens: Überraschenderweise geraten bei unseren Mitarbeitern die Blutzucker-Papierkurven erstaunlich schnell in Vergessenheit…
- Regionales Schwerpunktkrankenhaus
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- Diabetesdokumentation: Sprung ins Krankenhaus
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (10) Seite 18-21