Mit der Zulassung von Teplizumab zur Vorbeugung von Typ-1-Diabetes in den USA hat eine neue Ära in der Therapie der Autoimmunerkrankung begonnen. An der Forschung waren auch Teams des Helmholtz Zentrums München unter der Leitung von Prof. Dr. Anette-Gabriele Ziegler beteiligt. Die Expertin hofft nun auf eine baldige Zulassung des Medikaments in Europa. Im Interview wirft sie außerdem einen Blick in die Zukunft der vorbeugenden Behandlung.

Sehr geehrte Frau Prof. Dr. Ziegler, immer mehr Menschen in Deutschland erkranken an Diabetes. Auch Typ 1 bei Kindern ist weiter auf dem Vormarsch. Können Sie für unsere Leser zunächst kurz zusammenfassen, warum dies so ist?
Prof. Dr. Anette-Gabriele Ziegler:
Ganz genau wissen wir es nicht. Es wird vermutet, dass zwei Faktoren eine Rolle spielen. Das sind zum einen veränderte Umweltbedingungen. Da bakterielle Infektionen mit Antibiotika gut behandelt werden können, nehmen Virusinfektion tendenziell zu. Zum anderen gibt es inzwischen auch immer mehr Daten, die nahelegen, dass Übergewicht auch ein Risikofaktor für Autoimmunerkrankungen wie Typ-1-Diabetes ist. Die genauen Zusammenhänge sind allerdings noch nicht geklärt. Das gilt auch für die Zunahme der Typ-1-Neuerkrankungen in der Pandemie. Da die Fallzahlen schon im ersten Lockdown deutlich zunahmen, geht man in der Forschung eher davon aus, dass dies durch Lifestyle-Faktoren ausgelöst wurde. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Kinder ja noch gar nicht mit SARS-CoV-2 infiziert.

© Prof. Ziegler
Prof. Dr. Anette-Gabriele Ziegler

Ziel Ihrer Forschung ist es, den Ausbruch der Erkrankung zu verhindern. Dazu müssen zunächst die Kinder mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko gefunden werden. Wie läuft dies in der Praxis ab und wie zuverlässig sind die Indikatoren?
Ziegler:
Die Tests sind aus meiner Sicht sehr zuverlässig, aber sie gehören in die Hände von Spezialisten. Das Vorgehen ähnelt den klassischen Neugeborenen-Screenings. Wir wiederholen den Test bei einem positiven Ergebnis stets mit einer zweiten Blutprobe. Nur, wenn das Ergebnis dann ebenfalls positiv ist, stellen wir die Diagnose eines Diabetes-Frühstadiums. Es werden also immer zwei verschiedene Tests und zwei verschiedene Blutproben verwendet. Diese Strategie wird auch in den klassischen Neugeborenen-Screenings verfolgt, bevor die Diagnose einer Stoffwechselerkrankung gestellt wird.

Wie wahrscheinlich ist es im Falle eines positiven Tests, dass der Betroffene im Laufe des Lebens einen Typ-1-Diabetes entwickelt?
Ziegler:
Die Wahrscheinlichkeit beträgt fast 100 Prozent in den kommenden 20 Jahren. Wir haben außerdem schon einen Score entwickelt, mit dem wir vorhersagen können, wie schnell es gehen wird. Damit können wir Kinder herausfiltern, die ziemlich sicher innerhalb von zwei Jahren insulinpflichtig werden. Man kann weitere Abstufungen vornehmen und vorhersagen, bei welchen Kindern es innerhalb von fünf Jahren passieren wird und bei welchen es voraussichtlich länger dauert. Je nachdem, wie das Ergebnis ausfällt, geben wir Empfehlungen ab, wie häufig Kontrolluntersuchungen stattfinden sollten.

Wann genau beginnt die Therapie mit Teplizumab, die unlängst in den USA zugelassen wurde?
Ziegler:
Die neue Therapie mit Teplizumab würde im Stadium 2 der Erkrankung beginnen, wenn neben den Antikörpern auch schon die Blutzuckerwerte tendenziell ansteigen. Es handelt sich in diesem Stadium noch nicht um einen manifesten Diabetes, aber die Blutzuckerwerte sind schon nicht mehr normal. In diesem Stadium kann die Therapie die Insulinpflichtigkeit mindestens zwei Jahre verzögern. Der Antikörpertest muss nach dem positiven Ergebnis übrigens nicht mehr wiederholt werden. Es reicht dann aus, den Blutzucker regelmäßig zu kontrollieren. Die Intervalle hängen von den Vorhersagewerten ab. Bei einem hohen Risiko empfehlen wir alle drei bis sechs Monate eine Blutzuckerkontrolle. Wenn wir ein niedriges Risiko sehen, empfehlen wir diese etwa alle zwei Jahre.

Einige Menschen bezweifeln den Nutzen der Therapie, da diese das Entstehen der Krankheit bisher nur zwei bis drei Jahre verzögert. Wie stehen Sie dazu?
Ziegler:
Für uns ist das der Beginn einer neuen Therapie-Ära, aber natürlich noch nicht das Ende. Es wurde nun zum ersten Mal ein Medikament zugelassen, das an den Wurzeln der Erkrankung, also am Immunsystem, angreift. Es ist außerdem das erste Medikament, das für ein Frühstadium zugelassen wurde – also für einen präventiven Ansatz. Aber natürlich braucht es noch Verbesserungen, wahrscheinlich auch Kombinationstherapien oder weitere Behandlungsschemata, um diesen Zeitraum auf vielleicht 10 oder 20 Jahre zu verlängern. Vielleicht gelingt es im Einzelfall damit sogar, den Diabetes für immer zu verhindern. Ich bin recht optimistisch, dass die Behandlung in Europa ebenfalls bald zugelassen wird.

Wie schaut es mit möglichen Nebenwirkungen aus? Stehen diese schon beim aktuellen Nutzen des Medikaments in einem günstigen Verhältnis?
Ziegler:
Es wurden bisher schon über 800 Patienten damit behandelt und über mehr als 1500 Patientenjahre beobachtet. Dabei wurden keine langfristigen Nebenwirkungen beobachtet. Es gibt kurzfristige Nebenwirkungen. Manchmal merken Patienten, dass es zu Hautausschlägen oder zu Kopfschmerzen kommt. Im Blutbild lässt sich mitunter feststellen, dass die weißen Blutkörperchen für einen Zeitraum von etwa drei Wochen absinken. Aber das ist ein vorübergehendes Phänomen. Nach etwa fünf Tagen steigen die Blutkörperchen schon langsam wieder an. In dieser Zeit könnte es sein, dass man eine gewisse Abwehrschwäche hat, wobei diesbezüglich bisher keine Probleme aufgetaucht sind. In der Zeit der Therapie sollte man aber dennoch eine gewisse Vorsicht walten lassen und zum Beispiel keine Lebendstoffimpfungen erhalten. Das gesamte Profil der Nebenwirkungen zeigt aufgrund der bisherigen Daten aber, dass es ein sehr sicheres Medikament ist. Wir erwarten deshalb, dass das Mindesttherapiealter der Patienten von bislang 8 Jahren demnächst noch weiter heruntergesetzt wird.

Welche Schritte stehen als nächstes in Ihrer Forschungsarbeit an?
Ziegler:
Wir wollen zum einen das Indikationsspektrum erweitern und plädieren sehr dafür, die Behandlung in das frühere Stadium 1b der Erkrankung zu verlagern, weil wir sehen, dass einige Kinder sehr schnell eine Insulinpflichtigkeit erreichen. Dies könnte durch eine frühere Gabe verzögert oder verhindert werden. Wir wollen die Behandlung zudem gerne auf das Stadium 3a erweitern – also auf Kinder, die schon einen manifesten Diabetes haben, aber die noch nicht insulinpflichtig sind. Auch solche Kinder sehen wir durch die Screenings nun immer häufiger. Wir brauchen nicht zuletzt jetzt Studien, in denen die Teplizumab-Therapie mit anderen Therapeutika kombiniert wird, um den Effekt des Medikaments zu verstärken und die Manifestation der Erkrankung länger hinauszuzögern. Zu solchen Erhaltungstherapien werden die ersten Studien bald anlaufen.

Wagen Sie doch bitte mal einen Blick in die Zukunft: Wird es irgendwann möglich sein, Neuerkrankungen an Typ-1-Diabetes gänzlich zu verhindern?
Ziegler:
Ich bin natürlich weiter zuversichtlich, dass dies gelingt. Ansonsten würde ich die ganze Arbeit gar nicht machen. Es gibt bereits weitere vielversprechende Forschungsansätze. Ich glaube, wir werden irgendwann Therapien haben, die das Immunsystem überlisten und den Diabetes bei vielen Menschen verhindern können. Man muss jetzt nach vorne schauen. Ein erster Durchbruch ist ganz eindeutig erreicht, weil eine erste Immuntherapie – zumindest in den USA – zugelassen wurde. Aus diesen ersten Behandlungen werden viele neue Erfahrungen generiert. Auch bei der Zellersatztherapie zur Behandlung von bereits erkrankten Typ-1-Diabetikern wurden Durchbrüche erreicht. Das braucht alles Zeit. Wir waren zunächst vielleicht etwas zu ungeduldig und haben gedacht, in 5 bis 10 Jahren haben wir das geschafft. So schnell geht es leider nicht, aber auch bei der Behandlung von bereits erkrankten Diabetikern bin ich zuversichtlich, dass die Wissenschaft die letzten Probleme noch knacken wird, damit Menschen, die schon lange Diabetes haben, durch Zellersatztherapien geholfen werden kann.

Wir danken Ihnen für das Gespräch!

Amerikanische Arzneimittelbehörde lässt Wirkstoff zu
Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA (U.S. Food and Drug Administration) hat den Wirkstoff Teplizumab zur Vorbeugung oder Verhinderung eines Typ-1-Diabetes zugelassen. Das Medikament kann Kindern ab 8 Jahren und Erwachsenen nun intravenös gegeben werden, um die Entwicklung der Autoimmunerkrankung deutlich zu verzögern. Voraussetzung ist ein erhöhtes Risiko, an Typ-1-Diabetes zu erkranken.


Autor:
Thorsten Ferdinand
Redaktion diabetologie-online
Verlag Kirchheim & Co GmbH
Wilhelm-Theodor-Römheld-Str. 14, 55130 Mainz