Wegen der Verschleppung gesetzlicher Vorgaben bei der Regulierung gesundheitsgefährdender, hormonell wirksamer Chemikalien durch die EU-Kommission kam es In der vergangenen Woche zu einer ersten Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof. Die von Schweden eingebrachte Klage wird von Ministerrat und EU-Parlament mitgetragen. Aufgrund der fehlenden Regulierung entstehen Gesundheitskosten in Höhe von schätzungsweise 157 Mrd. Euro, u. a. durch Folgerkrankungen wie Diabetes mellitus.

In der vergangenen Woche befasste sich der Europäische Gerichtshof in einer ersten Anhörung mit der von Schweden eingebrachten und von Ministerrat und EU-Parlament mitgetragenen Klage gegen die EU-Kommission. Gegenstand dieser Klage ist die Verschleppung gesetzlicher Vorgaben bei der Regulierung gesundheitsgefährdender, hormonell wirksamer Chemikalien, sogenannter endokriner Disruptoren (EDCs)(1).

Kommission ignoriert Frist

Schweden erhob Klage, nachdem die EU-Kommission die gesetzlich festgeschriebene Frist für die Vorlage wissenschaftlicher Kriterien zur Identifizierung hormonell wirksamer Chemikalien im Dezember 2013 ignoriert hatte. In einer bislang einmaligen Allianz stellten sich daraufhin der EU-Ministerrat, das EU Parlament sowie die drei nationalen Regierungen von Dänemark, Frankreich und den Niederlanden unterstützend an die Seite Schwedens und gegen die Junker-Behörde.

Zuvor hatte die EU-Kommission im Sommer 2013 die Umsetzung der Gesetzesvorgaben zum Schutz von Gesundheit und Umwelt ausgesetzt und stattdessen eine Folgeabschätzung (Impact Assessment) initiiert, um zu klären welche sozioökonomischen Auswirkungen die Umsetzung bereits beschlossener gesetzlicher Regelungen haben könnte. Mit diesem demokratiepolitisch fragwürdigen Vorgehen verzögert die EU-Kommission eine effektive Regulierung von EDCs um zumindest drei weitere Jahre (2).

Verzögerung belastet Europäische Bevölkerung

Lisette van Vliet, politische Expertin bei der Health and Environment Alliance (HEAL) nahm an der Anhörung teil und stellt fest: „Dass die Mitgliedsstaaten und das EU Parlament gemeinsam die Kommission belangen, zeigt eindrucksvoll deren falschen Kurs. Jeder Tag Verzögerung führt zu weiteren Belastungen der europäischen Bevölkerung mit diesen gefährlichen Stoffen und zu Folgeerkrankungen wie Brust- und Prostata-Krebs, Diabetes, Unfruchtbarkeit, Fettleibigkeit, und Lernschwächen. Wir erwarten, dass der europäische Gerichtshof die EU Kommission auffordert, sich an die gesetzlichen Fristen zu halten, um die Gesundheit der europäischen Bevölkerung zu schützen.“

EDCs in vielen Alltagsprodukten enthalten

EDCs begegnen uns in Alltagsprodukten wie Kosmetika, Lebensmittelverpackungen, Schädlingsbekämpfungsmitteln oder Textilien. Indem sie in den hochempfindlichen Hormonhaushalt des Menschen eingreifen, können sie Diabetes, Übergewicht, hormonbedingte Krebsarten und Fruchtbarkeitsstörungen verursachen, was durch eine stetig wachsende Zahl wissenschaftlicher Studien belegt wird (3). Für Ungeborene und Kinder stellen bereits geringste Mengen ein erhebliches Risiko für ihre spätere Entwicklung dar (4).

157 Mrd. Euro jährliche Kosten für Gesundheitsschäden

Die jährlichen Kosten in der EU zur Behandlung und Kompensation von Gesundheitsschäden durch EDC werden bei konservativer Rechnung auf ca. 157 Milliarden Euro beziffert (5). "Hinter diesen 157 Milliarden Euro jährlichen Gesundheitskosten stehen tausende Einzelschicksale von EuropäerInnen, deren Krebserkrankungen, Fortpflanzungsstörungen und andere gesundheitlichen Probleme mit einer effektiven Regulierung dieser gefährlichen Stoffe zu verhindern wären“, sagt Helmut Burtscher, Umweltchemiker von GLOBAL 2000: „Verantwortlich dafür ist Vytenis Povilas Andriukaitis, dem als Gesundheitskommissar der Schutz der EuropäerInnen anvertraut ist, und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der dafür sorgen muss, dass die Kommission ihre Arbeit macht. Es ist höchst an der Zeit, dass die EU-Kommission sich dieser Verantwortung gegenüber den EuropäerInnen bewusst wird und die gesetzlich beschlossenen Maßnahmen zum Schutz von Umwelt und Gesundheit nicht länger torpediert.”

Hintergrund:

Die Europäische Kommission sollte bis Ende Dezember 2013 wissenschaftliche Kriterien zur Identifizierung endokrin wirksamer Substanzen (EDCs) gemäß der Biozidprodukte-Verordnung 528/2012/EG verabschieden. Dies ist nicht geschehen. Das Gesetz, das 2012 verabschiedet wurde, sieht vor, Biozide auf ihre endokrine Wirkung hin zu überprüfen, und falls endokrine Eigenschaften gefunden würden, die zu schädlichen Effekten führen können, dieses Wirkstoffe vom europäischen Markt zu nehmen. Die Regelungen der Pestizid-Verordnung (1107/2009/EG) sind vergleichbar, aber mit strengeren Ausnahmeregelungen versehen. Die vormals zuständige Generaldirektion Umwelt finalisierte nach einem mehrjährigen Expertendialog im Frühjahr 2013 einen Entwurf für die Kriterien.
Dieser wurde aber nicht veröffentlicht, da nach massiver Lobbyarbeit seitens der chemischen
Industrie und Pestizidunternehmen, der Ablauf gestoppt und stattdessen ein Impact Assessment verschiedener Optionen zur Identifizierung und zur Regulierung von endokrinschädlichen Pestiziden und Bioziden initiiert wurde. Unter dem neuen Kommissionspräsident Junker, wurde die Zuständigkeit des Verfahrens sowie die für die Biozidgesetzgebung von der Generaldirektion Umwelt zur Generaldirektion Gesundheit
übertragen.

EDCs tragen zweifellos zur Entstehung chronischer, hormonbedingter Krankheiten bei

Die Endocrine Society veröffentlichte im September 2015 ihr Second Scientific Statement on Endocrine-Disrupting Chemicals, in dem sie betont, dass es keinen Zweifel mehr darüber gibt, dass EDCs, die in Alltagsprodukten und Nahrungsmitteln gefunden werden, zur Entstehung chronischer hormonbedingter Krankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes und Krebs, beitragen. Die Endokrinologische Gesellschaft ist die weltweit älteste, größte und aktivste Organisation, die sich der Hormonforschung und der klinischen Praxis der Endokrinologie widmet.

Die Internationale Föderation der Gynäkologie und Geburtshilfe (FIGO), die 125 nationale Organisationen vertritt, hat bei ihrem jüngsten Kongress im Oktober 2015 zu mehr Bemühungen aufgerufen, um die Exposition gegenüber giftigen Chemikalien zu reduzieren:
"Dokumentierte Zusammenhänge zwischen prenataler Exposition gegenüber Umweltchemikalien und negativen Gesundheitseffekten überspannen den ganzen Lebensverlauf und haben einen negativen Einfluss auf Fruchbarkeit, Schwangerschaft und neurologischer Entwickling und Krebs. Die globalen Gesundheitsfolgen und die damit verbundenen ökonomischen Belastungen, als Folge der Expositionen gegenüber giftigen Umweltchemikalien, ist höher als Millionen von Toten und Milliarden an Dollars in jedem Jahr."(...)

Die EDC-Free Europe Coalition repräsentiert mehr als 50 Gruppen der Zivilgesellschaft in Europa und darüber hinaus. Ziel ist es, Aufmerksamkeit zum Thema EDCs zu erzeugen und zu mehr und schnellerem politischen Handeln zu drängen. Unsere Partner sind Gewerkschaften, Verbraucher, Vertreter der öffentlichen Gesundheit und Vertreter der Gesundheitsberufe, Befürworter der Krebsprävention, Umweltaktivisten und Frauengruppen.

"EDCfree Europe", begrüßt ausdrücklich diese Klage und fordert ein rechtskonformes Verhalten von Kommissionspräsident Junker und seinem zuständigen Gesundheitskommissar Andriukaitis.


Weiterführende Informationen und Quellen:
3. Zweites Scientific Statement der Endocrine Society, inklusive Review von 1300 aktuellen Studien zu EDCs.
5. Trasande L, Zoeller RT, Hass U, Kortenkamp A, Grandjean P, Myers JP, et al. Estimating burden and disease costs of exposure to endocrine-disrupting chemicals in the European Union. J Clin Endocrinol Metab 2015; 100(4):1245–55.

Quelle: global2000.at