Prof. Dr. Timo Müller ist einer der führenden Experten der Diabetes- und Adipositas-Forschung. Nach seinem Studium und der Promotion in Deutschland forschte er in den USA, bevor er 2011 die Leitung der Abteilung für Molekulare Pharmakologie bei Helmholtz Munich übernahm. Seit 2023 ist er Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas und seit 2024 Professor an der LMU München. Im folgenden Interview gibt er Einblicke in den aktuellen Stand der Forschung.

Prof. Timo Müller, Sie widmen sich in der Adipositas- und Diabetesforschung einem hochaktuellen Thema – der Entwicklung und Etablierung neuer, innovativer Therapieansätze für Menschen mit Adipositas und seinen Folgeerkrankungen wie Diabetes. Was macht dieses Thema für Sie so spannend?

Für mich ist es besonders spannend zu beobachten, wie rasant die Forschung in der Adipositas- und Diabetesforschung in den letzten Jahren vorangeschritten ist. Wir haben über annähernd 100 Jahre vergeblich versucht, Pharmakotherapien zu entwickeln, welche in der Lage sind, bei tolerablen Dosierungen das Körpergewicht betroffener Personen um mehr als zehn Prozent zu senken. Erst in den letzten Jahren ist uns dies eindrucksvoll gelungen, wobei wir mittlerweile Pharmakotherapien haben, welche sehr nahe an die Effizienz der bariatrischen Chirurgie herankommen. Dies ist wirklich etwas Besonderes und überaus faszinierend.  Und wir können sehr stolz darauf sein, hier einen gewissen Beitrag geleistet zu haben.

Semaglutid als Monoagonist zeigt ja bereits große Erfolge in der Adipositasbehandlung, jetzt kommen die Polyagonisten. Was waren die entscheidenden Entwicklungssprünge der letzten beiden Jahre?

Die entscheidenden Fortschritte waren, Moleküle zu entwickeln, welche die positiven Eigenschaften einzelner Hormone in einem einzigen hochwirksamen Molekül vereinen. Dadurch wird die Effizienz dieser neuen Wirkstoffe noch einmal deutlich verstärkt, und dies bei nach wie vor tolerablen Dosierungen. Zudem zeigt sich gerade bei einzelnen Komponenten dieser Wirkstoffe, genauer gesagt bei GIP und Glucagon, dass diese entgegen der bislang gängigen Meinung sehr positive Effekte auf den Energie- und Glukosestoffwechsel haben, besonders wenn diese in Kombination mit GLP-1 gegeben werden.

Lexikon
GIP: Das glukoseabhängige insulinotrope Peptid (GIP) ist ein Peptidhormon, welches die Insulinausschüttung in den Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse nach der Nahrungsaufnahme stimuliert. In Experimenten an Tieren deuten die Ergebnisse daraufhin, dass GIP auch einen Einfluss auf die Sättigungsregulation im Gehirn haben könnte. Glucagon: Glucagon ist ein Peptidhormon, welches in den Zellen der Bauchspeicheldrüse gebildet wird. Es ist ein Gegenspieler (Antagonist) des Hormons Insulin. Während die Ausschüttung von Insulin ein Absinken des Blutzuckerspiegels zur Folge hat, steigt der Blutzuckerspiegel bei der Ausschüttung von Glucagon an. GLP-1: Das Glucagon-like Peptide-1, kurz GLP-1, wird im Darm gebildet und wirkt als Peptidhormon bei verschiedenen Mechanismen im Körper mit. Unter anderem ist GLP-1 an der Stimulation der Insulinsekretion beteiligt. Zudem sorgt ir machen edas Peptidhormon für eine Reduzierung des Appetits und für eine Verzögerung der Magenentleerung.] Amylin: Das Peptidhormon Amylin wird in den Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse produziert. Studien konnten zeigen, dass Amylin das Sättigungsgefühl verstärkt und die Magenentleerung verlangsamt. Amylin bindet im zentralen Nervensystem und beeinflusst auch die Ausschüttung von Glucagon.

Erklären Sie uns bitte den genauen pharmakologischen Wirkmechanismus, der sich hinter diesen synthetischen Hormonen verbirgt?

GLP-1 senkt das Körpergewicht durch Reduktion der Nahrungsaufnahme, und gleiches geschieht auch durch GIP, jedoch durch anscheinend andere Signalmechanismen, welche unabhängig denen von GLP-1 sind. Dadurch wird der appetitzügelnde Effekt nochmal verstärkt und das Körpergewicht sinkt stärker als durch die alleinige Behandlung mit GLP-1. Glukagon senkt das Körpergewicht ebenfalls durch die Zügelung des Appetits, jedoch hat es zudem noch eine stimulierende Wirkung auf den Energieverbrauch.

Die Therapie der Adipositas umfasst ja mehr als die rein medikamentösen Ansätze. Welche Rolle spielt weiterhin die Lebensstilintervention?

Lebensstilinterventionen spielen nach wie vor eine übergeordnete und überaus wichtige Rolle. Eine Pharmakotherapie sollte grundsätzlich nicht das Mittel erster Wahl sein, und falls notwendig immer mit einer Lebensstilintervention einhergehen.

Geben Sie uns bitte einen Blick in die Zukunft - welche neuen Ansätze verfolgen Sie aktuell?

Wir werden sicher in der Zukunft noch weitere Medikamente sehen, welche die Wirkung verschiedener Hormone in einer einzigen Therapie vereinen. Nennenswerte Fortschritte würden hier etwa bereits mit der Kombination von GLP-1 und Amylin (bzw dessen Derivaten) gemacht. Weitere werden sicher folgen.

Wie aussichtsreich sind diese, gibt es schon neue klinische Studien und wann ist mit einer Einführung in die Klinik zu rechnen?

Präklinische Studien zu diesen Therapien sind überaus vielversprechend, und die Entwicklung in klinischen Studien läuft bereits. Wir dürfen also sehr gespannt sein, wie erfolgreich diese Medikamente sein werden.

Das Interview führte:
Ulrike Koller, Redaktion diabinfo, Teamleiterin Wissenschaftskommunikation Helmholtz Munich, Kontakt: ulrike.koller@helmholtz-munich.de


Literatur
Müller TD. et al.: Glucagon-like peptide 1 (GLP-1). Mol Metab. 2019 Dec;30:72-130. DOI: 10.1016/j.molmet.2019.09.010.
Kusminski CM. et al.: Transforming obesity: The advancement of multi-receptor drugs. Cell. 2024 Jul 25;187(15):3829-3853. doi: 10.1016/j.cell.2024.06.003.
Müller TD. et al.: Anti-obesity drug discovery: advances and challenges. Nat Rev Drug Discov. 2022 Mar;21(3):201-223. doi: 10.1038/s41573-021-00337-8. 10.1016/j.molmet.2019.09.010.


Interviewpartner:
Prof. Dr. Timo Müller
Helmholtz Munich
Direktor des Instituts für Diabetes und Adipositas und Professor am Walther-Straub Institut für Pharmakologie und Toxikologie, Medizinische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU)


Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (9) Seite 22-23