Warum es so wichtig bei Kindern und Jugendlichen ist, die endogene Beta-Zell-Funktion zu erhalten, erfahren Sie im ersten Beitrag unseres Titelthemas. Prof. Olga Kordonouri, Dr. Karsten Bode und Dr. Felix Reschke berichten.
Laut Robert-Koch-Institut waren im Jahr 2022 in Deutschland mehr als 36.000 Kinder und Jugendliche von Typ-1-Diabetes betroffen. Betrachtet man die Neuerkrankungen pro Jahr so erkranken jedes Jahr mehr als 4 100 Kinder und Jugendliche [1]. All diese Patienten stehen vor der gleichen lebenslangen Herausforderung eine möglichst optimale Stoffwechseleinstellung zu erzielen, um akute Stoffwechselentgleisungen und Langezeitfolgen wie vaskuläre Komplikationen zu vermeiden. Der Erhalt der endogenen Beta-Zell-Funktion, sogar in geringen Mengen, kann die Stoffwechselkontrolle der Betroffenen entscheidend verbessen.
Herausforderungen für eine gute Stoffwechseleinstellung
Beim Typ-1-Diabetes handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung bei der durch Voranschreiten der Krankheit die insulinproduzierenden Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse sukzessive zerstört werden, was am Ende zu einem kompletten Insulinmangel führt [2]. Man geht davon aus, dass bis zum Zeitpunkt der klinischen Manifestation und dem Einsetzen der Symptome bereits 50 - 90 % der insulinproduzierenden Zellen zerstört sind [3].
Beta-Zell-Verfall nach Manifestation
Schon weit bevor sich die klinischen Symptome eines Typ-1-Diabetes bemerkbar machen, beginnt der Autoimmunprozess und es kommt zu einem unweigerlichen Voranschreiten des Beta-Zell-Verfalls. Dieser Prozess kann individuell ganz unterschiedlich verlaufen, endet jedoch unausweichlich in einem kompletten Verlust der endogenen Insulinproduktion.
Einige Patienten durchlaufen hingegen nach klinischer Manifestation eine Phase der Remission, die auch als Honeymoon oder partielle Remission bezeichnet wird. Diese ist besonders durch eine gute glykämische Kontrolle und eine vorübergehende Erholung der Beta-Zellen gekennzeichnet [4] (Abbildung 1). Die genauen Mechanismen der Remission sind derzeit noch Gegenstand der Forschung, feststeht jedoch, dass eine langfristig erhöhte Blutglukosekonzentration die Funktion der Beta-Zellen zusätzlich negativ beeinflusst (Glukotoxizität). Korrigiert man diese Glukotoxizität in der frühen Phase des Typ-1-Diabetes durch exogenes Insulin, so scheinen sich die Beta-Zellen zu erholen. Die Korrektur der Hyperglykämie scheint Auswirkungen auf verschiedene Komponenten des Immunsystems zu haben (z.B. Anstieg Treg Zellen, Sinken B-Zellen etc.), was sich dann in Form einer Remission widerspiegelt [5].
Abbildung 1: Erholung der Beta-Zellen in der Remissionsphase bei klinischem Typ-1-Diabetes. Die Remissionsphase und die damit verbundene Erholung der Beta-Zell-Funktion stellt einen interessanten Ansatzpunkt für die Forschung dar.
Die Prävalenz der Remission hat ihren Höhepunkt nach dem Start der Insulintherapie zwischen dem 3. und 6. Monat und sinkt mit weiterer Krankheitsdauer stetig ab [4]. Die mittlere Dauer der Remissionsphase beträgt etwa 9 Monate und ist oft bei jüngeren Patienten kürzer [6].
Es gibt unterschiedliche Vorschläge für das Definieren der partiellen Remission. So definiert ein Teil der Wissenschaftler die Remission als einen Zeitraum in dem der Insulinbedarf bei weniger als 0,5 U/kg/Tag liegt und der HbA1c < 7% ist [4] [7].
Andere Wissenschaftler fokussieren sich anstelle des HbA1c auf das C-Peptid, wobei hier die Grenze zwischen > 165 pmol/l und 300 pmol/l variiert (durch Mahlzeit stimuliert) [4] [8] [9].
Eine weitere Möglichkeit die Remissionsphase zu definieren ist die Berechnung des IDAA1c, der sich aus der Summe des HbA1c (%) und der 4-fachen Insulindosis (U/kg/Tag) ergibt. Ist dieser Wert ≤ 9 so spricht man von partieller Remission [9].
All diese unterschiedlichen Definitionen können jedoch auch kritisch betrachtet werden. So gilt das C-Peptid als Gold-Standard und sollte Teil der Definition sein, wohingegen der HbA1c eine zeitliche Verzögerung beinhält, da er den durchschnittlichen Blutzuckerwert der letzten drei Monate wiedergibt und dieses nicht in Echtzeit [4]. Die ISPAD empfiehlt aktuell den IDAA1c, der jedoch auch den HbA1c berücksichtigt und somit möglicherweise nicht sensitiv genug ist [4].
Unabhängig von der Remission und dem Insulinbedarf, haben im ersten Jahr der Diagnose noch über 80 % der Patienten signifikante Mengen an funktionstüchtigen Beta-Zellen, die dabei helfen, den Typ-1-Diabetes zu managen. Nach 5 Jahren sind es immerhin noch 10 % der Betroffenen, die eine bedeutsame Insulinproduktion aufweisen [11]. Faktoren, die einen positiven Effekt auf die Anzahl der Beta-Zellen zum Zeitpunkt der Manifestation haben, sind unter anderem das Alter der Patienten sowie die Anzahl als auch Art der Typ-1-Diabetes-spezifischen Autoantikörper [12] [13] [14] [15]. Häufig ist es so, dass die Autoimmunkrankheit bei jungen Patienten aggressiver verläuft als bei Patienten, die in einem späteren Lebensalter manifestieren [16].
Vorteile durch den Erhalt der Beta-Zellen
Bereits eine geringe Menge an endogenen insulinproduzierenden Beta-Zellen zeigt erhebliche Vorteile für den Patienten auf [17].
Verbesserter HbA1c
Sowohl Beobachtungsstudien, Interventionsstudien als auch Transplantationsstudien konnten zeigen, dass ein Aufrechterhalten der körpereigenen Insulinproduktion mit einem niedrigeren HbA1c und einer günstigeren Stoffwechsellage einhergeht [18] [19] [20]. Eine Studie in Dänemark zeigte, dass die Chancen auf einen HbA1c von < 7,5 % um das Fünffache höher sind, wenn die Probanden noch eine stimulierte Beta-Zell-Funktion von ≥ 40 pmol/l besitzen [21]. Zu erwähnen ist, dass es auch Studien gibt, die diese Korrelation nicht bestätigen konnten. Jedoch merkten die Autoren hier an, dass die statistische Power bzw. die Teststärke möglicherweise nicht ausreichend war, um einen signifikanten Unterschied ausfindig zu machen [22]. Weitere Studien, die einen Zusammenhang zwischen HbA1c und Aufrechterhaltung der Beta-Zellen untersuchen, werden aktuell durchgeführt.
Weniger Hypoglykämien
Das zeitliche Verlängern der Remissionsphase, also der Phase in der die Beta-Zell-Aktivität vorübergehend ansteigt, hat auch einen Effekt auf therapieassoziierte Unterzuckerungen (Hypoglykämien). So konnte gezeigt werden, dass selbst moderate Mengen an verbliebenen Beta-Zellen Hypoglykämien signifikant reduzieren können. In einer Studie die das Ziel hatte, die Effektivität eines zugelassenen Blutdrucksenkers (Verapamil) auch in Bezug auf den Erhalt der Beta-Zellen zu testen, konnte gezeigt werden, dass Patienten, die das Medikament (Verapamil) bekamen, um das Fünffache weniger Hypoglykämien (Blutzucker < 40 mg/dl) hatten, als die Patienten der Kontrollgruppe [23]. Da in derselben Studie auch gezeigt wurde, dass Verapamil tatsächlich in der Lage war, die körpereigene Insulinproduktion aufrechtzuerhalten, ist es naheliegend, dass Beta-Zellen eine wichtige Rolle in der Vermeidung von Hypoglykämien spielen. Ähnliche Effekte in Bezug auf schwere Hypoglykämien konnten erneut in Dänemark gezeigt werden, wo eine Beta-Zell-Restfunktion von ≥ 40 pmol/l bei den Probanden ebenfalls zu signifikant weniger schweren Hypoglykämien führte. Ab einer Restfunktion von 200 pmol/l reduzierte sich sogar der Insulinbedarf der Patienten signifikant [21].
Weniger Langzeitkomplikationen
Die Bauchspeicheldrüse eines Menschen ohne Typ-1-Diabetes ist sehr sensitiv und kann somit auch sehr gut auf Blutzuckerschwankungen reagieren. Für Menschen mit Typ-1-Diabetes gestaltet sich das Blutzuckermanagement um einiges herausfordernder. Die langjährige Insulintherapie gepaart mit einer unzureichenden Stoffwechselkontrolle kann im Verlauf gesundheitliche Folgen nach sich ziehen. In diesem Zusammenhang geht man zurzeit davon aus, dass das Aufrechterhalten der körpereigenen Insulinproduktion das Risiko für Langzeitkomplikationen wie Retinopathie, Neuropathie und Nephropathie reduziert [24] [25]. In der Vergangenheit konnte man zudem zeigen, dass Menschen mit einer stimulierten Beta-Zell-Funktion von > 200 pmol/l ein um 50 % geringeres Risiko hatten, an einer Retinopathie zu erkranken [24]. Auch einem Molekül namens C-Peptid, was bei der Insulinproduktion entsteht und lange für ein Abfallprodukt gehalten wurde, werden heutzutage protektive Eigenschaften in Bezug auf Langzeitkomplikationen wie z.B. Nephropathie zugeschrieben [26]. Deshalb zielen aktuelle Studien darauf ab, die produzierenden Beta-Zellen und somit auch genau das angesprochene C-Peptid zu erhalten. Die Bildung von Insulin und C-Peptid ist in der nachfolgenden Darstellung veranschaulicht (Abbildung 2).
Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung der Insulin Herstellung: Insulin wird als Proinsulin von den Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse in den Blutkreislauf abgegeben. Das C-Peptid wird abgespalten und es entsteht Insulin. Während Insulin genutzt wird, um den Zucker relativ rasch in die Zellen zu transportieren, verbleibt das C-Peptid länger im Blut und kann somit als Marker für die Funktionalität der Beta-Zellen genutzt werden
Reduktion diabetischer Ketoazidosen
Das Fehlen von Insulin gilt weiterhin als einer der Hauptrisikofaktoren für das Entwickeln einer diabetischen Ketoazidose. Studien, die sich mit der endogenen Insulinproduktion beschäftigt haben, deuten darauf hin, dass selbst eine minimale Restinsulinsekretion für das metabolische Wohlbefinden bei Typ-1-Diabetes wichtig ist und die Entwicklung einer diabetischen Ketoazidose verhindern kann [27].
Eine grafische Übersicht, die die vorangegangen Argumente zur Verlängerung der Remissionsphase noch einmal veranschaulicht, ist in Abbildung 3 dargestellt.
Abbildung 3: Vorteile der Erhaltung der körpereigenen Insulinsekretion.
Immuntherapie zum Erhalt der Beta-Zell-Funktion
Ein Medikament, das gerade auf seine Fähigkeit untersucht wird, die Remissionsphase nach Manifestation zu verlängern, ist der monoklonale Antikörper Frexalimab. Der Frexalimab-Antikörper ist in der Lage, die Kommunikation zwischen T-Zellen und B-Zellen herunterzuregulieren, sodass weniger gegen die Bauchspeicheldrüse gerichtete T1D-Autoantikörper produziert werden. Der Ansatz hat sich bereits als vielversprechende Option für die Behandlung von Multipler Sklerose, des Lupus Erythematodes und des Sjörgren-Syndroms erwiesen. Aufgrund der ähnlichen Pathomechanismen dieser Autoimmunkrankheiten und der des Typ-1-Diabetes erhofft man sich, dass der Frexalimab-Antikörper auch beim Typ-1-Diabetes erfolgsversprechend ist [28].
Abbildung 4: Key-Messages.
Im Rahmen der Fabulinus-Studie (Registrierungskennung CTIS: 2022-500531-36 – clinical trials.gov: NCT06111586) wird aktuell getestet, inwieweit der humanisierte Frexalimab-Antikörper die insulinproduzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse vor dem weiteren Absterben schützt. Sie ist zurzeit die einzige Studie zum Beta-Zell-Erhalt in Deutschland, die aktiv Patienten rekrutiert. Aktuell werden Probanden im Alter von 18 - 35 Jahren in die Studie eingeschlossen, die innerhalb der letzten 90 Tage manifestiert sind und demzufolge mit ihrer Insulintherapie begonnen haben. Ab ca. November 2024 soll die Studie auch für die Alterskohorte von 12 – 21 Jahren geöffnet werden. Das Studiendesign sieht vor, dass die Studienteilnehmer eine 30-minütige Infusion mit dem Frexalimab-Antikörper erhalten und sich von da an alle zwei Wochen den Antikörper subkutan zu Hause selbst spritzen, um die Antikörperdosis über den Behandlungszeitraum von 2 Jahren aufrechtzuerhalten. Studien, die einen ähnlichen Ansatz verfolgten, konnten die Funktionalität der Beta-Zellen auch über den Behandlungszeitraum hinaus aufrechterhalten [29].
Zusammenfassung
Abschließend lässt sich festhalten, dass die Insulintherapie nach Manifestation lediglich die Spätsymptome der fehlenden endogenen Insulinproduktion kaschiert, ohne sich der Ursache zu widmen. Durch eine Immunmodulation hingegen versucht man den Autoimmunprozess zielgerichtet herunterzuregeln, wodurch sich eine Chance bietet, den betazelldestruierenden Prozess vorübergehend aufzuhalten oder deutlich zu verzögern. Der Benefit liegt auf der Hand: Verbesserte Stoffwechselkontrolle, weniger hypoglykämische und hyperglykämische Entgleisungen, weniger diabetische Ketoazidosen, und eine verminderte Rate an Langzeitfolgen.
Literatur über die Redaktion.
- Remissionsphase: Lohnt sich eine Verlängerung?
- Anstieg von juveniler Adipositas und Typ-2-Diabetes
- Ketoazidose bei Manifestation und im Verlauf
- Psychische Belastungen schnell erfassen
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (11) Seite 10-14