Das ist schon einzigartig: Frau Professor von Dossow hat an der Ruhr-Universität Bochum den bislang ersten Lehrstuhl in Deutschland für Kardioanästhesiologie inne. Katrin Hertrampf hat mit ihr gesprochen.
Seit 2018 als Direktorin des Instituts für Anästhesiologie und Schmerztherapie im Herz- und Diabeteszentrum NRW (HDZ NRW) in Bad Oeynhausen tätig, hat Prof. Dr. Vera von Dossow den bundesweit einzigen Lehrstuhl für Kardioanästhesiologie an der Ruhr-Universität Bochum (RUB) inne. Die Chefärztin ist in zahlreichen Gremien von nationalen und internationalen Fachgesellschaften, in Forschung und Lehre aktiv. Als Mitglied der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) wurde Frau Prof. Dr. Vera von Dossow im letzten Jahr zur Vorsitzenden der ständigen AWMF-Kommission Leitlinien berufen. Die Chefärztin ist seit kurzem auch Mitglied des AWMF-Präsidiums. Wir haben mit ihr zu den Themen Herz-OP, Diabetes und kognitive Dysfunktion gesprochen.
Ohne Anästhesie keine Operation: Patienten sind darauf angewiesen, dass sie sicher durch die Narkose geleitet werden, auch der Behandlungserfolg hängt davon ab. Welchen Anteil hat die Anästhesie, den Betroffenen die Angst vor einer OP zu nehmen?
Die Narkose bzw. Allgemeinanästhesie ist so sicher wie nie. Neue Medikamente und moderne Geräte ermöglichen die exakte Dosierung und kontinuierliche Überwachung aller Organfunktionen. Zudem kümmern sich in Deutschland speziell weitergebildete Fachärzte um die Narkose: die Anästhesiologinnen und Anästhesiologen. Gemeinsam mit unserem Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten e. V. (BDA) möchten wir mit der Initiative "Narkose in sicheren Händen" Vertrauen schaffen. Menschen, die vor einer Operation stehen, sollen unnötige Ängste genommen werden. Auf der eigenen Webseite www.sichere-narkose.de gibt es umfangreiche Informationen zur Vorbereitung und zum Ablauf der unterschiedlichen Narkosearten. Patienten können sich somit auf das Gespräch vorbereiten.
Wichtige Aspekte der Narkose und patientenspezifische Narkoserisiken werden im Prämedikationsgespräch geklärt. Im Sinne einer frühen Risikostratifizierung wird gemeinsam ein Behandlungskonzept, auch Strategieplan genannt, festgelegt. Das Konzept heißt ERSAS, die Abkürzung steht für "early risk stratification and strategy". Nur durch Risikostratifizierung können präventive Maßnahmen getroffen werden, z.B. zur Reduktion eines postoperativen Delirs. Das Konzept beinhaltet, welches Monitoring zur Überwachung erforderlich ist. Die Narkoseführung wird individuell für jeden Patienten festgelegt. Die Maßnahmen werden auch mit Patienten bzw. Angehörigen abgestimmt.
Was ist für die Zusammenarbeit im Team mit Operateuren wichtig?
Ratsam ist, dass bei vulnerablen Hochrisikopatienten vor großen Eingriffen eine interdisziplinäre Visite mit Anästhesiologen und Operateuren zum perioperativen Vorgehen gemeinsam mit dem Patienten erfolgt. Damit kann eine vertrauensvolle Atmosphäre geschaffen und dem Betroffenen zumindest teilweise die Angst vor einer Operation genommen werden. Patienten mit ausgeprägter ängstlicher Symptomatik erhalten vor dem Eingriff Beruhigungsmedikamente. Neuere Studien belegen eine deutlich bessere Schlafqualität, z.B. mehr Tiefschlafphasen unter der Narkose, und kein erhöhtes Risiko für ein postoperatives Delir, wenn diese Substanzen in geringer Dosierung verordnet werden.
Die Kardioanästhesiologie ist Ihr Schwerpunkt im HDZ NRW, Bad Oeynhausen. Davor waren Sie an der Charité Universitätsmedizin Berlin und der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig. Worin unterscheidet sich das Patientengut, das Sie heute sehen?
Ich habe vor 25 Jahren meine Ausbildung an der Charité Campus Mitte begonnen und bin damals noch in einem frühen Stadium während er Facharztausbildung in die Kardioanästhesiologie im OP-Saal und auf der Intensivstation eingeteilt worden. Damals war für uns Kliniker der demographische Wandel noch nicht so sichtbar wie jetzt. Es wurden deutlich jüngere Patienten für geplante herzchirurgische Eingriffe betreut als heute. Allerdings war das Risiko für die Entwicklung eines postoperativen Delirs ebenfalls hoch. Wir haben an neuen evidenzbasierten Leitlinien zur Sedierung auf der Intensivstation gearbeitet und international anerkannte Scoring-Systeme für die Erkennung eines Delirs oder die Sedierungstiefe bzw. Schmerzskalen auf Deutsch übersetzt und an unseren Patienten validiert. In den letzten zwei Dekaden wurde das Thema Delir auf Intensivstationen mehrfach im Rahmen der AWMF-S3-Leitlinie aktualisiert und auf den neuesten Stand evidenzbasierter Medizin gebracht. Damit steht uns Klinikern heute ein sehr guter Leitfaden zur Verfügung, um schwerkranke Patienten auf den Intensivstationen wach, angst-, schmerz- und stressfrei zu behandeln und das Risiko für kognitive Funktionsstörungen gering zu halten.
Gibt es Besonderheiten vor einem herzchirurgischen Eingriff?
Das Patientenkollektiv in der Herzchirurgie hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten dramatisch geändert. Der Anteil der über 80-jährigen Patienten liegt mittlerweile bei mehr als 20 % - das gilt nicht nur für elektive Eingriffe, sondern auch für Notfalleingriffe. Insgesamt haben Patienten über 65 Jahre ein deutlich höheres Risikoprofil mit multiplen Vorerkrankungen. Man spricht von Multimorbidität. Umso wichtiger ist es, Grunderkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes mellitus und chronische Niereninsuffizienz im Vorfeld optimaler einzustellen und ggfs. die medikamentöse Therapie nicht nur anzupassen, sondern auch zu reduzieren. Polypharmazie ist ein Punkt, der schon im Prämedikationsgespräch gemeinsam mit dem Patienten besprochen werden sollte.
Zusätzlich sollte neben organbezogener Risikostratifizierung bei Patienten ab 65 auch ein Gebrechlichkeits-Screening vor jedem herzchirurgischen Eingriff durchgeführt werden, um die kognitive und funktionelle Kapazität zu erfassen. Das Screening ist nicht zeitaufwendig, es kann in die klinische Routine integriert werden.
Welche Komplikationen können während und nach einer OP auftreten?
Während der Operation ist es wichtig, Blutdruckschwankungen zu vermeiden. Eine Vielzahl von Studien, auch hauseigene Datenanalysen zeigen: Das Risiko für ein postoperatives Delir ist erhöht, je länger die kumulative Zeit an hypotensiven Phasen während einer Operation ist. Durch ein gezieltes erweitertes Herz-, Kreislaufmonitoring und Management ist es möglich, Patienten engmaschig zu überwachen. Mittlerweile gibt es sogar KI-gestützte Systeme der Frühalarmierung zur Überwachung des Blutdrucks.
Die engmaschige Kontrolle gilt aber auch für die perioperative Blutzuckereinstellung. Vor allem ist es wichtig, den HbA1c-Wert zu optimieren, bevor der Patient im Krankenhaus aufgenommen wird. Exzessive Entgleisungen wie Hypoglykämie und Hyperglykämie während und nach der OP müssen vermieden werden, da dies negative Folgen für die postoperative Erholung nach sich ziehen kann. Die Patienten haben z.B. ein höheres Risiko für postoperative Wundinfektionen, Sepsis, Pneumonie, kardiovaskuläre Ereignisse (Schlaganfall, Rhythmusstörungen, Myokardinfarkt), die per se mit einer längeren Dauer des Klinikaufenthalts verbunden sind.
Zur Hochrisikogruppe gehören Menschen mit Diabetes. Der Anteil von Patienten, die am Herzen operiert werden müssen, ist nicht klein. Was ist Ihre Erfahrung?
Betroffene mit Diabetes sind aufgrund ihrer kardiovaskulären Komorbiditäten im stationären Patientenkollektiv überrepräsentiert. Sie benötigen häufiger chirurgische Interventionen, haben im Vergleich zu Patienten ohne Diabetes längere Verweildauern und zeigen auch höhere Mortalitätsraten.
In der Herzchirurgie ist der Anteil an Patienten mit Diabetes mellitus besonders hoch. Hausinterne Big-Data-Analysen zeigen eine Inzidenz von etwa 25 bis 30 % (vgl. Mohr et al. JCTVA 2024).
Wie schon erwähnt, ist eine mangelhafte perioperative Blutglukoseeinstellung mit einer Vielzahl von Komplikationen assoziiert. Studien belegen, dass das Risiko für schwerwiegende Komplikationen bei einem perioperativen Blutzucker von über 250 mg/dl (13,9 mmol/l) auf das Zehnfache ansteigt.
Chronische mikro- und makrovaskuläre diabetische Folgeschäden können im Vorfeld objektiviert werden, z. B. mittels Gefäßstatus, EKG, Urinstatus und Blutwerten. Hier sind vor allem Nüchtern-Blutzucker, HbA1c, Kreatinin-Clearance, Harnstoff, Elektrolyte und Triglyzeride von besonderer Wichtigkeit.
Daneben sollte der Fokus der Anamnese auch auf drohende anästhesiologische Herausforderungen liegen. Hierzu zählen z. B. eine autonome Neuropathie des Magens (erhöhtes Aspirationsrisiko bei HbA1c über 9 % bzw. 74,86 mmol/mol), eine autonome Dysfunktion der Herz-Kreislauffunktion (z. B. Frequenzstarre) oder mögliche Intubationsprobleme bei zervikalen Gelenkveränderungen (diabetisches "stiff joint syndrome").
Welche Komplikationen können bei Diabetes auftreten?
Elektive Operationen sollten weder bei einem HbA1c-Wert von über 8,5 bis 9 % (69,4 bis 74,86 mmol/mol) noch bei einem Spontanblutzucker von über 250 mg/dl (13,9 mmol/l) durchgeführt werden. Hier sollte zuerst die Optimierung der Stoffwechselsituation angestrebt werden. Bei hohen HbA1c-Werten sind sämtliche immunkompetenten Zellen gleichermaßen glykiert und der Patient ist somit faktisch immunsupprimiert. Zusätzliche hohe Blutzuckerwerte können per se die Funktion von neutrophilen Granulozyten beeinträchtigen, die Produktion von schädlichen reaktiven Sauerstoffspezies triggern und prokoagulatorische Zustände hervorrufen. Besteht der Verdacht auf rezidivierende Hypoglykämien sollte die Operation, insofern es vertretbar ist, verschoben werden.
Die bei Diabetes oft vorhandene Insulinresistenz hat vor allem Implikationen im Rahmen der Stress-Immunantwort nach großen Operationen. Gerade hier haben Diabetespatienten eine veränderte Immunantwort und weisen häufig eine überschießende postoperative Entzündungsreaktion auf. Dies macht anfällig für Inflammation und erhöhtes Risiko kognitiver Funktionsstörungen sowie für postoperative Infektionen und kardiovaskuläre Ereignisse. Gerade der Schlaganfall im Rahmen einer postoperativen Rhythmusstörung (Vorhofflimmern) ist ein besonderes Risiko für Patienten mit Diabetes.
Wie kann das Risiko reduziert werden?Es ist wichtig, sämtliche den Genesungsprozess beeinflussbare Faktoren zu berücksichtigen und für jeden Patienten individuell ein Risikoprofil zu erstellen. Mit der Einführung eines Frailty-Assessments und eines Delir-Screenings vor der Operation in Bad Oeynhausen konnten wir die Delir-Rate auf unter 10 % senken, bei gebrechlichen Patienten liegt die Rate allerdings deutlich über 10 %. Die Patienten werden bei uns auch von sogenannten OP-Paten begleitet. Das sind speziell geschulte Fachkräfte, die den Patienten perioperativ bis zum dritten Tag nach OP begleiten. Zum OP-Paten-Konzept gehört die Durchführung der neurokognitiven Stimulation. Ergänzend dazu setzen wir auch ein Programm zur raschen Erholung nach Herz-OP namens ERACS ein. ERACS steht für "early recovery after cardiac surgery". Damit konnte z.B. die durchschnittliche Beatmungszeit nach einem herzchirurgischen Eingriff deutlich reduziert werden. ERACS in Kombination mit einer multimodalen Schmerztherapie führte auch zu mehr Patientenkomfort bei gleich hoher Patientensicherheit. Das Konzept wirkt sich zudem positiv auf die Stress-Antwort nach OP aus, die ja gerade bei Patienten mit Diabetes besondere Implikationen hat.
Die Thematik postoperatives Delir und kognitive Dysfunktion wird seit einiger Zeit im experimentellen Setting und translationalen Ansatz, aber auch im klinischen Setting wissenschaftlich sehr ausführlich für den Bereich der Anästhesiologie aufgearbeitet. Es ist ein Forschungsschwerpunkt des wissenschaftlichen Arbeitskreises Gerontoanästhesiologie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und daran angegliederte Forschungsgruppen verschiedener Universitätsklinika bundesweit, u.a. in Berlin, Bonn, Hamburg, Bochum und München. Aktuell erarbeiten wir im Rahmen eines GBA-geförderten Innovationsfondsprojekts mit der Charité gemeinsam die interdisziplinäre AWMF-S3-Leitlinie zum perioperativen Management gebrechlicher Patienten, die nächstes Jahr fertiggestellt und veröffentlicht wird.
Abschließend noch eine Frage zum Thema KI: Vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) wird derzeit das Projekt "DeepMentia" gefördert. Ein KI-Tool soll helfen, die vier häufigsten Demenztypen schnell und verlässlich zu unterscheiden. Welches Potential hat KI zur Früherkennung dementieller Erkrankungen?
Ich denke, das KI-basierte Tools in der Zukunft aus dem klinischen Alltag nicht mehr wegzudenken sind und uns in der Entscheidungsfindung für eine patientenindividualisierte Therapie unterstützen werden. Gerade in Spezialkliniken findet sich eine große Menge an Wissen, das in Datensammlungen zur Verfügung steht.
Auch bei uns im HDZ NRW wird in einem kleinen Forschungsverbund an KI-integrierter Entscheidungsfindung gearbeitet. Hier geht es im Besonderen um Big-Data-Analysen von Anästhesie-Datensätzen aus allen Organsystemen mit zusätzlichen Informationen aus der elektronischen Patientenakte. Ziel ist die Überprüfung, ob ein solcher KI-Algorithmus wichtige postoperative Komplikationen (Delir, akutes Nierenversagen) vorhersagen kann.
Allerdings ist es wichtig, so entnehmen wir das aus unseren kleinen Projekten, dass KI entsprechend an guten evidenzbasierten Daten trainiert wird, um die Vorhersagegenauigkeit zu präzisieren.
Gerade das Projekt, das Sie ansprechen, hat ja das Potential, mithilfe KI-gestützter neuronaler Netzwerke, eine Clusterbildung vorzunehmen und die verschiedenen Demenzgruppen zu klassifizieren.
Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Prof. von Dossow.
- Diabetes – Schlaganfall – Demenz
- Veränderte Immunantwort und Entzündungsreaktion nach OP erhöht das Risiko kognitiver Funktionseinschränkungen
- Medikamentöse Therapie
- Aus dem Blickwinkel der Kardioanästhesiologie
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2024; 36 (6) Seite 16-19