Hinter dem typischen klinischen Erscheinungsbild des Typ-1-Diabetes (T1D) können sich sehr unterschiedliche Krankheitsverläufe verbergen. So weist zum Beispiel ein Großteil der Patienten nach klinischer Manifestation des T1D eine Periode mit vorübergehender Erholung der Betazellfunktion auf, die als Remissions- oder "Honeymoon-Phase" bezeichnet wird (Abb. 1). In Ergänzung zur üblichen Insulintherapie werden verschiedene Medikamente erprobt, um die verbliebene körpereigene Insulinsekretion zu schützen [1].
Das INNODIA-Netzwerk
Es zeichnet sich dabei ab, dass es wenig zielführend ist, nur aufeinanderfolgende placebo-kontrollierte Studien mit unterschiedlichen Studienprotokollen durchzuführen. Ein anderer Ansatz wird im europäischen INNODIA-Projekt verfolgt (www.innodia.eu). In Abstimmung mit der europäischen Regulationsbehörde EMA wurde ein standardisiertes Masterprotokoll entwickelt, um Studienergebnisse zu verschiedenen Medikamenten besser vergleichbar zu machen. Im Sinne eines personalisierten Behandlungsansatzes in Analogie zum Vorgehen bei der Krebsbehandlung können dann in einem zweiten Schritt auch mittels eines sogenannten adaptiven Studiendesigns verschiedene medikamentöse Ansätze miteinander verglichen werden. Das deutsche koordinierende INNODIA-Studienzentrum ist am Kinderkrankenhaus AUF DER BULT in Hannover.
Immunmodulation zum Erhalt des C-Peptids
Der Behandlungserfolg, in Form von Verzögerung der klinischen Manifestation oder Verlängerung der Remissionsphase, wird im Allgemeinen durch die Messung des C-peptids beurteilt. Das C-Peptid ist ein Nebenprodukt der Insulinbildung. Die Bauchspeicheldrüse produziert Proinsulin, ein Vorläuferhormon, das in das aktive, blutzuckersenkende Hormon Insulin und das C-Peptid gespalten wird. Während man durch Insulinbestimmung nicht zwischen Insulineigenproduktion und verabreichtem Insulin unterscheiden kann, ergibt die C-Peptid-Bestimmung eine verlässliche Einschätzung der verbliebenen endogenen Restfunktion. Zum Stopp der Autoimmunkrankheit, die zum Verlust der Insulinbildung in der Bauchspeicheldrüse führt, verfolgen aktuelle Ansätze zur Sekundär- und Tertiärprävention (Abb. 1) des Typ-1-Diabetes einen immunmodulatorischen Ansatz, d.h. dass, nicht das ganze Immunsystem unterdrückt wird, sondern nur die diabetesspezifischen Autoimmunreaktionen gestoppt werden. Experten sind sich hinsichtlich der längerfristigen klinischen Bedeutung eines Erhalts der Betazellrestfunktion für eine bessere Stoffwechselkontrolle und weniger Akut- und Langzeitkomplikationen einig [3].
Die INNODIA-Plattform
Zur Koordination der Immuntherapie bei Typ-1-Diabetes hat sich in Europa, mit einer Anschubfinanzierung durch die Projekte INNODIA und INNODIA HARVEST der europäischen "Innovative Medicines Initiative", ein neues Netzwerk zur T1D-Forschung gebildet. Dieses besteht zum einen aus Grundlagenforschern zur Entdeckung neuartiger Biomarker und Therapien und zum anderen aus akkreditierten klinischen Zentren mit höchsten Qualitätsstandards. Das Konsortium bietet in Deutschland gegenwärtig drei verschiedene Studienansätze innerhalb der ersten 6 Wochen nach Manifestation für Studienteilnehmer im Alter von 5 bis 45 Jahren an. Entsprechend der Abstimmung im sogenannten INNODIA-Priorisierungskomitee werden laufend die Möglichkeiten weiterer Studienansätze auf der INNODIA-Plattform evaluiert.
www.innodia.eu/de
Bei Fragen zu den einzelnen Studien wenden Sie sich
bitte an: INNODIA@hka.de
oder telefonisch an die INNODIA-Studienzentrale im Diabetes-Zentrum AUF DER BULT, Tel. 0511/81153345.
Ein Blutdruckmedikament beeinflusst Immunprozesse
Verapamil ist ein seit langem bekanntes und zugelassenes Blutdruckmedikament. Überraschend zeigten tierexperimentelle Studien, dass die Gabe dieses sogenannten Kalziumkanalblockers auch die Schädigung der insulinproduzierenden Pankreasinseln auf mehreren Ebenen hemmt. In der Ver-A-T1D-Studie sollen nun die Ergebnisse einer 2018 publizierten kleinen, randomisierten Studie bestätigt werden. Die Probanden, die Verapamil erhielten, wiesen eine verbesserte endogene Betazellfunktion, einen geringeren Insulinbedarf und weniger Hypoglykämien auf als Probanden, die zusätzlich zu ihrem Standard-Insulinregime ein Placebo erhielten. Obwohl alle Probanden einen normalen Blutdruck hatten, führte Verapamil weder zu Hypotonie noch zu anderen unerwünschten Ereignissen [4]. Kürzlich wurden dazu Zweijahres-Daten publiziert [5]. Die C-Peptid-Spiegel blieben bei den Probanden, die Verapamil einnahmen, über den Zweijahreszeitraum stabil, während sie in der Kontrollgruppe im zweiten Jahr weiter abnahmen. Außerdem führte das Absetzen von Verapamil zu einem starken Abfall der C-Peptid-Werte im zweiten Jahr. In Übereinstimmung mit diesen Veränderungen blieb die Insulindosis, die zur Kontrolle des Blutzuckerspiegels erforderlich war, unter Verapamil-Behandlung über den Zweijahreszeitraum niedrig und stabil (n=5), während sie in der Kontrollgruppe weiter anstieg.
Die Ver-A-T1D-Studie
Im Rahmen der innerhalb INNODIA durchgeführten placebokontrollierten-Phase-2-Studie soll die tägliche Gabe von 360 mg Verapamil und deren Einfluss auf das stimulierte C-Peptid kurz nach Diabetes-Manifestation und 12 Monate nach der Intervention untersucht werden. Zu diesem Zweck sollen 120 neudiagnostizierte Menschen mit T1D zwischen 18 und < 45 Jahren in die Studie eingeschlossen werden. Die Teilnahme an der Ver-A-T1D Studie erfordert zudem ein ausreichend hohes C-Peptid-Niveau, weshalb Patienten nur innerhalb der ersten 6 Wochen nach Manifestation (Tag der 1. Insulingabe) in die Studie eingeschlossen werden können. Im Rahmen des ersten "Screenings" wird auch auf das Vorhandensein von T1D-spezifischen Autoantikörpern sowie weiterer genetischer Parameter getestet.
Ein Medikament aus der Organtransplantation
Bei der MELD-ATG-Studie wird der Effekt von Thymoglobulin® (ATG), einem gereinigten, pasteurisierten IgG-Antikörper, welcher durch Immunisierung von Kaninchen mit menschlichen Thymozyten gewonnen wird, auf den Erhalt der Beta-Zellen untersucht. ATG ist ein seit langem zugelassenes Produkt, welches auch zur Vermeidung einer Abstoßungsreaktion bei einer Nierentransplantation eingesetzt wird. Die im Kaninchen gewonnenen ATG-Antikörper sind gegen eine große Vielzahl von Antigenen (>40) gerichtet, die vorwiegend auf menschlichen T-Lymphozyten exprimiert werden. Durch diese Fähigkeit ist es möglich, Teile des Immunsystems so zu modulieren, sodass ein weiterer Verfall der Beta-Zellen hinausgezögert werden könnte. Nach ersten erfolgsversprechenden Ergebnissen einer zweijährig angelegten Studie konnte gezeigt werden, dass Probanden, die eine ATG-Therapie erhielten, einen signifikant höheren C-Peptidspiegel aufwiesen als Probanden, die ein Placebo erhielten. Zudem war der HbA1c-Wert in der ATG-Gruppe signifikant niedriger als in der Placebo-Gruppe. Beide Ergebnisse deuten auf einen Erhalt der Bauchspeicheldrüsenfunktion durch die einmalige Gabe von ATG innerhalb der ersten Wochen nach Diabetes-Manifestation hin [6].
Die MELD-ATG-Studie
Mit der MELD-ATG-Studie soll nun die niedrigste noch wirksame Dosis von ATG in Bezug auf das C-Peptid-Level untersucht werden. Dafür sollten 114 Patienten in ganz Europa zwischen 12 und ≤ 25 Jahren in die Studie eingeschlossen werden, die bereit sind, eine Infusion von ATG in unterschiedlicher Konzentration oder Placebo an zwei aufeinanderfolgenden Tagen (12 h und 8 h) zur Immunmodulation zu erhalten [7]. Nachdem nun genügend Informationen über die Sicherheit des ATGs in dieser Kohorte gesammelt werden konnten, wurde die Altersgrenze auf 5 Jährige herabgesetzt. Um eine ausreichend hohe Beta-Zell Kapazität beim Eintritt in die Studie zu gewährleisten, müssen potentielle Probanden innerhalb der ersten 6 Wochen (Tag der ersten Insulingabe maßgebend) in die Studie eingeschlossen werden. Zudem werden die Probanden auf das Vorhandensein der für T1D spezifischen Autoantikörper sowie auf ein ausreichend hohes Ausgangs-C-Peptid-Level untersucht. Erst nach Erfüllung dieser und weiterer Einschlusskriterien kann der Proband für eine ATG-Therapie berücksichtigt werden.
Ein monoklonaler Antikörper
Ähnlich wie die MELD-ATG-Studie zielt die Iscalimab-Studie darauf ab, die fehlgeleitete Autoimmunreaktion durch den Einsatz eines spezifischen Antikörpers so herunterzuregeln, sodass ein weiteres Absterben der insulinproduzierenden Beta-Zellen durch das eigene Immunsystem verlangsamt oder sogar aufgehalten werden kann. Der Iscalimab-Antikörper ist in der Lage einen Rezeptor (CD40), der auf der Oberfläche von B-Lymphozyten zu finden ist, zu blockieren und dadurch nachgeschaltete Prozesse (z.B. Aktivierung von T-Lymphozyten) zu hemmen. Genau wie bei den Immunzellen weisen auch die Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse diesen für Iscalimab spezifischen Rezeptor auf, der bei Kindern mit kürzlich manifestiertem T1D in erhöhter Konzentration nachweisbar ist [8,9]. Somit könnte dieser Rezeptor eine tragende Rolle bei der Überreaktion des eigenen Immunsystems bzw. der Autoimmunität im Rahmen von T1D haben, der mit Hilfe des Iscalimab-Antikörpers entgegengewirkt werden könnte. Auch bei anderen Autoimmunerkrankungen wie der Basedowschen Krankheit (englisch "Graves‘ disease"), einer Immunhyperthyreose der Schilddrüse, zeigte der Iscalimab-Antikörper bereits vielversprechende Ergebnisse [10].
Die Iscalimab-Studie
Die placebo-kontrollierte Untersuchung soll 102 neu-manifestierte T1D Patienten im Alter von 6 und 21 Jahren in die Studie einschließen. Aktuell ist die Studie für die Altersgruppe 12 – 21 geöffnet. Der Proband erhält nach Erfüllung aller Einschlusskriterien (z.B. Einschluss innerhalb von 6 Wochen nach Manifestation, Präsenz von Autoantikörper und ausreichend Bauchspeicheldrüsenfunktion) eine initiale Infusion des Iscalimab-Antikörpers, gefolgt von wöchentlichen subkutanen Injektionen, die zum Teil vom Probanden Zuhause durchgeführt werden können.
Ausblick
Durch eine bessere Diagnostik von Restfunktion und Aktivität des Immunprozesses sind rasche Ergebnisse zum Einsatz verschiedener Immuntherapeutika bei der Manifestation eines Typ-1-Diabetes zusätzlich zum Insulin zu erwarten. Gegenwärtig wird in den USA die Zulassung eines ersten immunmodulierenden Medikaments (Teplizumab) [11] im Rahmen von Typ-1-Diabetes von den Behörden geprüft. Eine Zusammenfassung der drei T1D-Studien, die im europäischen INNODIA-Konsortium und im Studienzentrum AUF DER BULT in Hannover durchgeführt werden, finden Sie in der Grafik oben (Abb. 2).
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Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (11) Seite 16-19 |