Die Prävalenz des Diabetes mellitus steigt seit Jahrzehnten an – im Jahr 2021 hatten etwa 10,5% der erwachsenen Weltbevölkerung, also 537 Millionen Menschen die Diagnose Diabetes, wobei mehr Männer (10,8%) als Frauen (10,2%) betroffen sind (IDF Diabetes Atlas 2021). In der Diagnostik und in der Therapie von Diabetes mellitus gibt es wichtige geschlechtsspezifische Unterschiede, die in der klinischen Praxis berücksichtigt werden müssen, um eine adäquate Behandlung gewährleisten zu können. Dies ist vor allem auch hinsichtlich der Prävalenzzahlen von kardiovaskulären Erkrankungen von großer Relevanz. Diabetes mellitus ist bei Frauen im Vergleich zu Männern mit einem deutlich höheren kardiovaskulären Risiko, mit einem höheren Risiko für Herzinsuffizienz und einer höheren Mortalitätsrate verbunden.

Titelthema: Gendermedizin

Es gibt mehr als ein Geschlecht. Und es gibt Unterschiede zwischen den Geschlechtern: in der Wahrnehmung des Körpers, bei krankheitsspezifischen Symptomen, in der Behandlung, bei der Pharmakovigilanz.

Welche Besonderheiten in der Diabetesbehandlung zu berücksichtigen sind, erfahren Sie von PD Dr. Michael Leutner und Prof. Dr. Alexandra Kautzky-Willer, Klinik für Innere Medizin, Abt. Endokrinologie und Stoffwechsel/ Medizinische Universität Wien und Gender Institut/ Gars am Kamp.Den Fokus auf die Herzgesundheit bei Frauen legt Prof. Dr. Christiane Tiefenbacher, Klinik für Kardiologie, Angiologie und Pneumologie/Marienhospital Wesel und Vorstand Deutsche Herzstiftung.

Auf Longevity als Ansatz, Männer zu einem gesundheitsbewussteren Leben zu motivieren, macht Prof. Dr. Dietrich Baumgart, Kardiologie und Innere Medizin/Facharztzentrum Preventicum Essen, aufmerksam.Transgender-Versorgung mit Blick auf Diabetes und Hormontherapie ist Thema von Lea Pregartbauer, Dr. Florian Schneider, Janis Renner, Lars Täuber und PD Dr. Timo O. Nieder, Institut für Sexualforschung, Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie/ Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klinik für Kinder und Jugendmedizin/St. Franziskus Hospital Münster und Centrum für Reproduktionsmedizin/ Universitätsklinikum Münster. Kati Hertrampf

Männer häufiger erhöhte Nüchternglukosewerte – Frauen höhere Wahrscheinlichkeit für gestörte Glukosetoleranz

In der Diagnostik von Diabeteserkrankungen gibt es wesentliche geschlechtsspezifische Unterschiede, die mitunter ein Grund für die unterschiedlichen Prävalenzzahlen von Diabetes mellitus sein könnten. Aus früheren Studien geht hervor, dass Männer häufiger erhöhte Nüchternglukosewerte im Vergleich zu Frauen haben. Frauen hingegen zeigten vor allem im Rahmen des oralen Glukosetoleranztests (oGTT) häufiger erhöhte stimulierte Glukosewerte. Pathophysiologisch gesehen, dürften die höheren Nüchternglukosewerte bei Männern vor allem ein Resultat einer ausgeprägteren Glukoseproduktion in der Leber sein und auch auf eine gestörte Insulinsekretion vor allem in der frühen Phase hinweisen.

Die höhere Wahrscheinlichkeit einer gestörten Glukosetoleranz bei Frauen wird zum einen durch die geschlechtsspezifischen Unterschiede hinsichtlich Körpergröße, Muskelmasse und körperlichem Fitnesszustand erklärt, und zum anderen auf eine verlängerte Glukoseresorption im Darm, sowie eine veränderte Magenentleerung zurückgeführt.

Diese geschlechtsspezifisch variierenden Ergebnisse zeigen, dass Männer bei der Früherkennung von Diabeteserkrankungen durch einfachere Diagnose einer IFG (impaired fasting glucose) bzw. eines erhöhten Nüchternblutglukosewertes im diabetischen Bereich einen Vorteil aufweisen, da die Messung der Nüchternglukosewerte im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen und Routinekontrollen häufiger als ein oGTT durchgeführt werden. Deshalb ist es wichtig, zumindest eine zusätzliche HbA1c-Messung beim Screening durchzuführen.

Bei beiden Geschlechtern Reduktion der Diabetesinzidenz durch Lebensstilintervention

Eine Metaanalyse hat gezeigt, dass Lebensstilinterventionen das Risiko für Diabetes bei Männern ähnlich wie bei Frauen nach einem Beobachtungszeitraum von drei Jahren um etwa 40% senken können. Aus den rezenten Follow-up-Daten der Da-Qing Studie (Gong Q et al. 2019) mit einem Beobachtungszeitraum von 30 Jahren konnte eine Reduktion der Mortalitätsrate um etwa 41%, sowie eine Reduktion der Inzidenzrate von kardiovaskulären Ereignissen bei Frauen um etwa 30% in der Gruppe mit Lebensstilmaßnahmen gefunden werden. Obwohl auch bei Männern eine Risikoreduktion dieser beiden Outcomes beobachtet wurde, blieben die Ergebnisse nicht signifikant. Nichtsdestotrotz kam es bei beiden Geschlechtern zu einer vergleichbaren Reduktion der Diabetesinzidenz (Frauen 38% vs. Männer 39%). Ergebnisse aus der LOOK-AHEAD-Studie (Wadden TA et al. 2011) haben gezeigt, dass es bei übergewichtigen bzw. adipösen Männern mit Diabetes mellitus Typ 2 durch veränderte Lebensstilmaßnahmen in einem Beobachtungszeitraum von drei Jahren zu einer stärkeren Gewichtsreduktion kam.

Geschlechtsspezifische Unterschiede in der medikamentösen Behandlung

Wichtige geschlechtsspezifische Unterschiede, die im Hinblick auf die Verbesserung des Glukosemetabolismus, hinsichtlich Nebenwirkungen und Outcome berücksichtigt werden sollten, gibt es nicht nur in der Diagnostik, sondern auch in der Therapie des Diabetes mellitus. Im Allgemeinen erreichen Frauen trotz eines höheren Hypoglykämierisikos seltener die vorgegebenen HbA1c-Zielwerte (Kautzky-Willer A et al. 2015). Nachfolgend werden die einzelnen Diabetesmedikamente hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede näher beleuchtet:

Metformin:

Es gibt Evidenz dafür, dass es unter einer Therapie mit Metformin geschlechtsspezifische Unterschiede vor allem hinsichtlich Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil zwischen Frauen und Männern gibt. Therapieadhärenz ist einer der wichtigsten Faktoren, um die positiven Effekte der Diabetesmedikamente maximal auszuschöpfen. Wie sich die Therapieadhärenz unter der Behandlung mit Metformin geschlechtsspezifisch verhält, wurde in einer randomisiert placebo-kontrollierten Studie untersucht. Dabei hatten Patient:innen mit Metformin generell eine schlechtere Therapieadhärenz im Vergleich zur Kontrollgruppe. Interessanterweise konnte in einer geschlechtsspezifischen Analyse eine bessere Therapieadhärenz bei Männern gefunden werden, ein Effekt der wahrscheinlich auf einem geringeren Risiko für Nebenwirkungen und weniger Barrieren in Bezug auf die Metformin-Therapie beruht (Walker EA et al. 2006).

In einer deutschen Multicenterstudie, die mehr als 9 000 Patient:innen mit Diabetes mellitus Typ 2 untersuchte, konnte nach 0,8 Jahren Nachbeobachtungszeit eine effektivere Reduktion des HbA1c-Wertes bei Männern unter einer Metformin-Therapie beobachtet werden. Interessanterweise war der Effekt hinsichtlich Körpergewichtsreduktion bei Frauen stärker (Schütt M et al. 2015).

Sulfonylharnstoffe, Glitazone und DPP-4-Inhibitoren:

Unter Therapien mit Sulfonylharnstoffen und Glitazonen konnten in einer Datenbankanalyse aus U.K., in der mehr als 22 000 Patient:innen beobachtet wurden, wesentliche geschlechtsspezifische Unterschiede in den Effekten auf den Glukosemetabolismus gezeigt werden. Sulfonylharnstoffe hatten vor allem bei nicht-adipösen Männern die maximalsten blutzuckersenkenden Effekte. Bei adipösen Frauen hingegen zeigte eine Therapie mit Glitazonen die größten Effekte, jedoch unter der Prämisse eines höheren Risikos für eine Gewichtszunahme und der Entwicklung von Ödemen (Dennis JM et al. 2018). Außerdem wurde über ein erhöhtes Frakturrisiko unter Glitazonen bei Frauen, sowie über eine höhere Mortalitätsrate unter Rosiglitazon berichtet (Kautzky-Willer A et al. 2017). Bei Männern mit einer Glitazon-Therapie konnte ein diskret erhöhtes Blasenkrebsrisiko nachgewiesen werden (Campesi I et al. 2017).

Bei DPP-4-Inhibitoren fehlt die klare Evidenz dafür, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede in der Verbesserung des Glukosemetabolismus gibt (Esposito K et al. 2015).

GLP-1-Rezeptoragonisten:

Die Wirkungen von Inkretinmimetika (GLP-1-Rezeptoragonisten) sind weitreichend. Neben einer Verbesserung des Glukosemetabolismus findet die Therapie auch Anwendung bei Adipositas. Die Behandlung mit GLP-1-Rezeptoragonisten hat vor allem bei kardiovaskulären Endpunkten hervorragende Ergebnisse gezeigt. In einer gepoolten Analyse der sieben randomisiert kontrollierten klinischen AWARD-Studien, deren Beobachtungszeitraum zwischen 24 und 104 Wochen lag, konnten hinsichtlich Reduktion des HbA1c-Wertes unter Therapie mit Dulaglutid weder in der niedrigeren noch in der höheren Dosisgruppe geschlechtsspezifischen Unterschiede gefunden werden. Dennoch hatten Frauen unter einer Therapie mit Dulaglutid eine stärkere Gewichtsreduktion im Vergleich zu Männern (Gallwitz B et al. 2018). Aus zwei Meta-Analysen, in denen untersucht wurde, ob es einen geschlechtsspezifischen Unterschied hinsichtlich MACE (major adverse cardiac event) gab, wurde bei beiden Geschlechtern eine ähnliche und sehr ausgeprägte Risikoreduktion für das kardiovaskuläre Outcome beobachtet (D´Andrea E et al. 2020; Singh AK et al. 2020). Es gibt Evidenz dafür, dass Frauen unter einer Therapie mit GLP-1-Rezeptoragonisten häufiger gastrointestinale Nebenwirkungen haben (Joung KI et al. 2020).

SGLT-2-Inhibitoren:

Der breite Wirkmechanismus von SGLT-2-Inhibitoren reicht von Verbesserung des Glukosemetabolismus über Nephroprotektion, Risikoreduktion für kardiovaskuläre Ereignisse, bis hin zu der rezenten Zulassung in der Therapie von Herzinsuffizienz. Vor allem Adipositas bei Frauen, aber auch Glukosestoffwechselstörungen im Allgemeinen sind mit einem gesteigerten Risiko für Herzinsuffizienz mit erhaltener Ejektionsfraktion (HFpEF: Heart Failure with preserved Ejection Fraction) verbunden (Savji N et al. 2018). Die Behandlung mit SGLT-2-Inhibitoren verspricht eine neue und effektive Anwendung in der Therapie der Herzinsuffizienz.

Aus einer Meta-Analyse unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus EMPA-REG OUTCOME, CANVAS und DECLARE-TIMI, konnte tendenziell eine stärkere Risikoreduktion von kardiovaskulären Outcomes bei Männern festgestellt werden (Singh AK et al. 2020). In einer amerikanischen Studie, bei der Versicherungsdaten der Bevölkerung analysiert wurden, zeigte sich, dass Frauen generell seltener SGLT-2-Inhibitoren verschrieben bekommen und dadurch auch weniger von den positiven Effekten dieser Therapie profitieren (Eberly LA et al. 2021). Eine unerwünschte Nebenwirkung unter einer Therapie mit SGLT-2-Inhibitoren sind Ketoazidosen, die mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit bei Männern auftritt (Fadini GP et al. 2017). Neben einem erhöhten Risiko für Frakturen vor allem unter einer Therapie mit Canagliflozin (Zhou Z et al. 2019) dürften Frauen zusätzlich auch ein höheres Risiko für Harnwegsinfekte und Genitalinfektionen haben (Raparelli V et al. 2020), wohingegen Männer einem höheren Risiko einer Fournier-Gangrän ausgesetzt sind (Bersoff-Matcha SJ et al. 2019).

Insulin:

Der Einsatz von Basalinsulinen in der Therapie wurde in früheren Studien mit einem geringeren glukosesenkenden Effekt und einem höheren Hypoglykämierisiko, inklusive klinisch signifikanten Hypoglykämien bei Frauen in Verbindung gebracht (Kautzky-Willer A et al. 2015, 2017; Owens DR et al. 2017).

Literatur über die Redaktion



Autoren:
PD Dr. med. Michael Leutner, MSc PhD [1], Univ. Prof. Dr. med. Alexandra Kautzky-Willer [1,2]
[1]    Universitätsklinik für Innere Medizin 3, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel, Medizinische Universität Wien, Österreich;
[2]    Gender Institut Gars am Kamp, Österreich

Korrespondenzadresse

© MedUni Wien/feelimage
PD Dr. med. Michael Leutner, MSc PhD

Universitätsklinik für Innere Medizin 3, Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechsel
Medizinische Universität Wien, Österreich

Erschienen in: Diabetes-Forum, 2022; 34 (12) Seite 11-13